Es braust ein Ruf wie Donnerhall

Das Bürgertum ruckt. Selbst ernannte Befreier wie Meinhard Miegel und Arnulf Baring organisieren den Widerstand gegen Rot-Grün. Woher kommt ihre Wut? Und was könnte die SPD tun, um die Bürgergesellschaft für sich zu gewinnen

Erkenntnis, Wille und Kraft: Halbseitengroß prangen diese Begriffe des deutschen Idealismus auf Meinhard Miegels Anzeigen für seinen im Mai gegründeten Bürgerkonvent. Aus riesigen Lettern sprang der geballte Veränderungswille des deutschen Bürgertums dem verblüfften Zeitungsleser entgegen. Seit 2002 hat es immer neue Aufbrüche, Konvente und Initiativen mit klarer Freund-Feind-Kennung gegeben: Der Republik der Besitzstandswahrer wird der Kampf angesagt, der Bürokratie, dem Sozialstaat, den Gewerkschaften, dem Kündigungsschutz - überhaupt allem, was uns in der deutschen Hängematte peinigt. Aber wo die Gefahr am größten ist, wächst das Rettende auch: Selbst ernannte Befreier rufen - wie Arnulf Baring im vorigen Herbst - das Bürgertum auf die Barrikaden, denn, so Miegel in seinem Gründungsaufruf, "Minderheiten haben die Meinungsführerschaft übernommen, die heillose Vermengung von Staat, Parteien, Gewerkschaften und Verbänden hat die Entwicklung dieses Landes nachhaltig beeinträchtigt".


Das Bürgertum scheint auf der Palme, zur Barrikade muss es noch überredet werden - dem dienen verschieden radikale Initiativen, unterschiedlich großzügig gesponsert von der Industrie: Dem Bürgerkonvent von Meinhard Miegel, Gerd Langguth, Ralf Dahrendorf & Co. wird reichlich gegeben. Im Projekt Neue Wege, das Ende 2002 um den Unternehmensberater Jörg Schulke herum entstand, ahnt man "russische Verhältnisse", wenn nicht endlich der "fette, schwache, teure Staat" reduziert wird. Bereits Anfang 2002 hatten Ex-Bundespräsident Roman Herzog, BDI-Präsident Michael Rogowski Lothar "Cleverle" Späth zur Initiative Deutschland packt′s an aufgerufen. Und seit Jahren fließen unbekannte Millionenbeträge der Industrie in die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, in deren Stammformation unter anderen Florian Gerster, Uli Hoeneß und Hans Tietmeyer mitspielen.

100 Millionen für die Edel-APO von rechts

So viel Anfang war nie. Selten seit 1945 hat es im deutschen Bürgertum so viel Einigkeit in Ziel und Mitteln gegeben. Der Markt soll alles richten, Schluss soll sein mit Parteiwirtschaft, Verbändestaat, mit bürokratischem Wildwuchs und sozialer Hängematte! Die "neue APO von rechts" (taz) umfasst bereits etwa 25 Initiativen, ist so marktliberal wie konservativ und drängt in den deutschen Mainstream. Inzwischen plant die "Edel-APO", wie der Spiegel berichtet, die Fusion: Die Großindustrie soll 100 Millionen Euro für einen "Dachverband" der Protestbewegungen stiften. Nicht die Linke oder die Studenten, sondern Teile des Bürgertums wollen also eine andere Republik. Nun ist das, gerade im Bürgertum, nicht neu und angesichts der eigenen Interessen, der öffentlichen Finanznot und hartnäckiger Massenarbeitslosigkeit vielleicht verständlich. Die interessante Frage ist, warum sich Teile des Bürgertums gerieren wie in Weimar und warum das andere "Lager" derart still hält.


Schon lange ist das deutsche Bürgertum von der politischen Klasse enttäuscht. Die Skandale Anfang der neunziger Jahre machten "Politikverdrossenheit" zum (Un-)Wort des Jahres 1993. Vom Versprechen der aus der Portokasse zu bezahlenden "blühenden Landschaften" hat sich das Ansehen der Politik im Osten bis heute nicht wirklich erholt. Der Reformstau der Ära Kohl führte nach Roman Herzogs berühmter "Ruck-Rede" von 1997 zur Desertion der "Neuen Mitte" zum Modernisierer Schröder - und damit zum Wahlsieg der SPD 1998. Das wirre Jahr 1999 schien dann das alte Vorurteil von den "Sozen", die nicht mit Geld umgehen könnten, zu bestätigen. Der "Neustart" von Rot-Grün als "Konsolidierungsprojekt" unter Hans Eichel mit der Steuerreform als Markenzeichen sowie das Buhlen führender Genossen um die Gunst der Bosse, ließen das Misstrauen wirtschaftsbürgerlicher Kreise nicht schwinden. Das liberale Bildungsbürgertum, der aufgeklärte Oberstudienrat, wiederum wurde abgestoßen von kleinbürgerlichem Aufsteigergehabe.

Heller Zorn über die "Gurkentruppe"

Auch die Politik der ruhigen Hand, der Bündnisse und Kommissionen verschaffte Rot-Grün nur oberflächlich Kredit. Der schöne, auch im Kanzleramt geträumte Traum, die Wahl 2002 mit Hilfe aus dem Unternehmerlager zu gewinnen, platzte mit der Konjunkturkrise im Gefolge des 11. September 2001. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen kehrte die bürgerliche Neue Mitte in Scharen zurück zu Union und FDP, die im Wahljahr 2002 hinsichtlich ihrer von den Wählern vermuteten Wirtschaftskompetenz haushoch vorn lagen. Der knappe Wahlsieg von Rot-Grün war ein Triumph der kulturellen Modernität und persönlichen Kampagnenfähigkeit der beiden Alphatiere Schröder und Fischer gegen die biedere ökonomische Kompetenz und den kulturellen Muff einer Union aus Merkels und Stoibers. "Den Stoiber kann man nicht wählen", hieß es im Osten, "die Opposition kann′s nicht besser", sagten die Leute im Westen mit Blick auf die Gesellschafts-, Sozial- und Innenpolitik. Dank Hochwasser, Irak und Schröders Personalisierungsstrategie kam Rot-Grün noch gerade mal davon.


Doch nach dem vermurksten Start in die zweite Legislaturperiode loderte in beiden Teilen des Bürgertums heller Zorn über die "Gurkentruppe" hoch, die vermeintlich konzeptlos weiter wurschtelte, ohne die langfristigen Probleme der Republik anzugehen. Erstaunlich war, wie wenig Kredit die neue Regierung besaß: Der 100-Tage-Bonus war vor dem Amtsantritt verbraucht, und kluge Beobachter bemerkten, dass dies tiefer liegende Gründe haben musste, als die Unionstiraden vom Wahlbetrug hergaben. Nur welche?

Als Schröder alles selbst machen musste

Es stimmt schon: Neben der kurzfristigen gibt es auch eine langfristige Enttäuschung des Bürgertums über Rot-Grün, die es den marktliberalen Heilspredigern in die Arme treibt. Nachdem mit Lafontaines überraschendem Abgang der sozialdemokratische Spagat zwischen Wachstum und Gerechtigkeit, Modernisierung und Tradition, gerissen war, musste Schröder notgedrungen beide Parts übernehmen. Den programmatisch-visionären Aspekt konnte der superpragmatische Modernisierer aber nicht ausfüllen. Er regierte tagespolitisch geschickt mit Bild und Tagesschau und hielt im Übrigen die Partei ruhig.


Immerhin gab es zwei Versuche der programmatischen Profilierung. Der eine, das Schröder-Blair-Papier, war ein Befreiungsschlag in der Krise, schlecht vorbereitet und inhaltlich zu dünnbrüstig. Folgerichtig wurde er heftig kritisiert und still beerdigt. Der zweite Versuch, Gerhard Schröders Überlegungen zur Bürgergesellschaft im Jahr 2000, traf auf großes Interesse im Bildungsbürgertum, fand aber wenig Widerhall in der traditionell staatsfixierten SPD und wurde nur halbherzig verfolgt, als das Echo im Publikum skeptisch-verhalten ausfiel. In der Folgezeit wurde die Programmarbeit von Rudolf Scharping erfolgreich sediert und die SPD durch die Vertrauensfragen des Kanzlers von Afghanistan bis zur Agenda 2010 zur Zustimmung geschleift. Unterdessen wuchs die Kluft zu den Aussagen des offiziell noch gültigen Berliner Programms der SPD immer mehr. Die Regierung hatte mit ihren Konzepten vom "aktivierenden Staat" und dem Prinzip des "Fördern und Forderns" die Vordenkerrolle beim Umbau zu "New Labour" übernommen, und die Partei trottete teils maulend, teils froh hinterher. So gewann man Abstimmungen in Parlament und Partei, nicht die Herzen der Mitglieder, geschweige denn der Wähler.


Die Deutschen, so meldet derweil das Allensbacher Institut, haben sich stoisch auf andauernde Probleme eingerichtet: Sie erkennen vor allem Kürzungen statt Konzepte und trauen keiner Partei viel zu. Auch Rot-Grün wurde 2002 nicht gerettet, weil es eine Alternative bot, sondern weil sich die angejahrten Achtundsechziger-Jahrgänge gegen Merkel und Stoiber aufbäumten. Im Wahlkampf der SPD traten die üblichen Verdächtigen von Flimm über Grass und Jens bis Strasser auf - die Jungen, die Bildungsbürger, die Liberalen schwiegen vernehmlich. Schon vor der Wahl wurde Rot-Grün nur als "Medienprojekt" beschrieben. So jedenfalls zog Richard Meng in einem viel beachteten Buch die "Bilanz eines Projekts, das keins war".

Keine erfolgreiche Politik ohne "Erzählung"

Dem Bürgertum, das die Republik mehr dominiert als je zuvor (man vergleiche nur die Rolle der Gewerkschaften heute und vor 20 oder 40 Jahren), bot Rot-Grün keine "Erzählungen", wie sie - Franz Walter hat daran erinnert - jede Politik zum Erfolg braucht. Prototypisch ist die aktuelle Initiative "TeamArbeit für Deutschland", die Wirtschaftsminister Clement mit dem Satz eröffnete: "So kann es nicht weitergehen" - als wollte er zum Putsch gegen sich selbst aufrufen. Da fragt sich nicht nur Richard Meng, "ob die Koalition nicht gerade deshalb weiter abrutscht, weil sie längst keinen anderen Entwurf mehr vom politischen Ziel hat".


Gewiss, das Verhältnis von SPD und Bürgergesellschaft ist eine "komplizierte Beziehung" (Gerd Mielke). Die SPD hat stets den Staat benutzt, um die Arbeiter zu versorgen. Nun soll sie ihn so umbauen, das er die Bürger zu Eigeninitiative und Selbstvorsorge ermutigt. Dies läuft nicht nur den Traditionen, sondern auch dem repräsentativen Selbstverständnis, dem hierarchisch-bürokratischen Habitus und der "sozialdemokratischen Seele" zuwider. Hinzu kommt ein hartes Problem: Die Unterschichten, ohne deren Stimmen die SPD nicht siegen kann, können sich bürgerschaftliche Initiative schlicht weniger gut leisten. Eine SPD, die Bürger fördern und fordern will, sich selbst zu kümmern, hat deshalb zwei besondere Probleme: Sie muss die Schwachen in die Lage versetzen, sich überhaupt engagieren zu können. Und sie muss die Starken, die Unternehmen auffordern, im Rahmen von "Corporate Citizenship" mitzumachen und sich einzubringen.

Zwischen kleinen Leuten und Bildungsbürgern

Nur: Beides steht nicht auf der Agenda der sozialdemokratischen Modernisierer. Sie meinen, subjektiv zu Recht, sie müssen erst die Versorgungsmentalität verringern und die Unternehmen entlasten. Bei den so genannten kleinen Leuten wie bei SPD-Funktionären kommt allerdings vor allem an, die Partei gebe es auf, ihre Schutzmacht zu sein. Bei den Bildungsbürgern andererseits wird der SPD das Engagement für Individualismus und Eigenverantwortung noch nicht abgenommen. Und gelegentlich bestätigt die Partei diese Ängste: Da hatte man 2001 mit viel Aplomb eine Enquete "Bürgerschaftliches Engagement" eingesetzt und - als eines der wenigen harten Ergebnisse - das Stiftungsrecht geändert, damit die Bürger stiften gehen können. Doch im Chaos der Koalitionsberatungen 2002 wurde ausgerechnet dieser Einstieg in engagementfördernde Politik sogleich wieder zur Disposition gestellt. Nur die beherzte Rückzugsdrohung von Kulturministerin Christina Weiss rettete die Reform. Zugleich wurden in der SPD alle erwogenen Reformen zur Öffnung der Partei bis auf ein wenig Kosmetik abgebürstet. Die überalterte, schrumpfende SPD geht mit einem überholten Konzept der Mitglieder- und Ortspartei ins 21. Jahrhundert, während Insider wissen, das von unten - über Anträge, Papiere oder Regionalkonfe-renzen - gar nichts mehr bewegt wird. So wird die politische Praxis in der Partei nicht demokratischer, sondern elitärer.


Andere tun sich leichter, sind aber nicht besser. Klar ist, dass die Bürgergesellschaft kommt, auch im etatistischen Deutschland. Die Frage ist nur, wann - und vor allem wie: Als medial vermittelte, von der Großindustrie gesponsorte Veranstaltung (wie in den Vereinigten Staaten) oder als intelligente Balance von medialen und diskursiven, repräsentativen und direktdemokratischen, parteilichen und bürgerbeteiligenden Elementen (wie etwa in der Schweiz oder in Skandinavien). Bürgerliche Parteien haben es traditionell leichter, sich auf die neue Zeit einzustellen, aber sie tun es nur partiell oder taktisch. Es ist zu wenig, wenn CSU-Fraktionschef Alois Glück (auch in der Berliner Republik ) kluge Aufsätze zur Bürgergesellschaft verfasst, so lange die Union alle direktdemokratischen Ansätze auf Bundesebene abbügelt. Und es ist taktisch, wenn die CDU auf ihrer jüngsten Vorstandsklausur in Bad Saarow erklärt, sie werde zur "Bürgerpartei" (was war sie bisher?), um mit "der wachsenden Zahl sozial engagierter Bürger stärker als bisher das Gespräch zu suchen".

Die Angst der Grünen vor ihrer Klientel

Bemerkenswert auch, dass die FDP zur Bürgergesellschaft kein Verhältnis findet: Offenbar sind diese wahren Bourgeois so von der Regelungskraft des Marktes überzeugt, dass sie den Citoyen gar nicht mehr ins Spiel bringen. Die PDS wiederum ist gelähmt durch den anachronistischen Streit zwischen den "linken" Blockierern und den "sozialdemokratischen" Modernisierern in ihren Reihen. Und die Grünen schließlich haben die Bürgerorientierung zwar auf ihren Fahnen, sind aber real eine medial vergrößerte Kader- beziehungsweise Honoratiorenpartei, die bürgerschaftliches Engagement mit charity verwechselt und sich vor direkter Demokratie fürchtet, weil deren Folgen den Vorlieben ihrer zunehmend etablierten linksbürgerlichen Klientel zuwiderlaufen könnten. Auch die Grünen denken vor allem an sich und "ihre Leut", weil sie ein Milieu zu verteidigen haben.

Chance und Verantwortung der SPD

Die SPD dagegen hat eine große Chance und eine große Verantwortung: Sie kann, wie Gerd Mielke schreibt, Bürgergesellschaft als Modebegriff besetzen oder bürgerschaftliches Engagement ausbeuten, um Haushaltslöcher zu stopfen. So würde sie das Feld all den "Konventen" und "Initiativen" überlassen, die das Volk der "unsichtbaren Hand des Marktes" überlassen wollen. Dies würde die Spaltung der Gesellschaft, den Ausschluss der Benachteiligten verstärken. Engagement würde zu dem, was es vielerorts schon ist: Luxus und Privileg. Die SPD könnte andererseits aber auch zeigen, dass "Bürgergesellschaft" eine Chance für die ganze Gesellschaft bedeutet: Mit diesem Konzept könnte die SPD doch noch das lang erträumte "Volksheim" errichten, nur ohne die proletarisch-etatistischen Anklänge, die bei dem Begriff stets mitschwangen. Aufgabe der SPD wäre es, den Staat so umzubauen, dass möglichst alle Bürger wieder Verantwortung übernehmen können, beispielsweise in der Schule. Nicht durch Überwälzen staatlicher Lasten auf Lehrer, Kinder oder Eltern, sondern durch die intelligente Vernetzung betroffener Ebenen, durch neue Bündnisse mit Wirtschaft und Gesellschaft, durch faires Aushandeln und Neutarieren der Lasten.


Keine Frage, es braucht klare Konzepte, wegweisende Initiativen und geduldige Überzeugungsarbeit, wenn die SPD diese Republik zur teilhabeorientierten Bürgergesellschaft umbauen wollte. Nähme sie sich aber dieser Aufgabe an, hätte sie ihre Existenzberechtigung für das nächste sozialdemokratische Jahrhundert gesichert. Die Barrikaden des 19. Jahrhunderts könnte man dann getrost den Herren Baring, Miegel & Co. überlassen.

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