Erfolgreich regieren ohne Mehrheit

Vorbild NRW? Warum denn nicht! Anderswo in Europa sind Minderheitenregierungen völlig normal, in Deutschland gelten sie noch als wenig vertrauenswürdig. Doch ausgerechnet im größten aller Bundesländer haben SPD und Grüne in den vergangenen zwei Jahren mit viel Umsicht und Kompromissbereitschaft bewiesen, dass sich diese Form des Regierens mit guten Ergebnissen praktizieren lässt

Das Parteiensystem differenziert sich immer mehr aus. In den Parlamenten Regierungsmehrheiten zu organisieren, wird schwieriger. Dennoch gelten Minderheitsregierungen den stabilitätsfixierten Deutschen als wesensfremd. Aber ausgerechnet im größten Bundesland gab es eine. Sie funktionierte weitaus besser und länger, als anfangs viele Beobachter glaubten. Dabei existierte noch nicht einmal ein Tolerierungsabkommen mit einer Oppositionspartei: SPD und Grüne regierten 20 Monate erfolgreich mit wechselnden Mehrheiten.

Rot-Grün fehlte in Düsseldorf gerade einmal eine Stimme zur absoluten Mehrheit. Also verfügte die Koalition in aller Regel über eine relative Mehrheit – das reichte für ein selbstbewusstes Auftreten. Um eine Abstimmung zu gewinnen, genügte die Enthaltung einer Oppositionsfraktion. In der Praxis kam hinzu, dass die Mehrheit stand, wenn nur zwei Oppositionsabgeordneten fehlten. Die Anwesenheitsdisziplin der Opposition ist grundsätzlich schlechter als die der Regierungsfraktionen – das ist in Düsseldorf nicht anders als in anderen Parlamenten. Selbst bei der Abstimmung über den Haushalt 2011 zog es der christdemokratische Abgeordnete Jürgen Rüttgers vor, auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom zu weilen. Für die Stabilität der Regierung Hannelore Kraft war ferner die große inhaltliche Spannweite der Opposition von erheblicher Bedeutung. Die nordrhein-westfälische Linkspartei und die NRW-FDP nehmen bei wichtigen Fragen in ihren eigenen Bundesparteien extreme Positionen ein.

Bei 99 Prozent der vielen hundert Landtagsabstimmungen war Rot-Grün erfolgreich; zweimal reichte es nicht. In gut 70 Prozent der Fälle stimmte die Linkspartei zu, bei mehr als 55 Prozent der Abstimmungen die CDU. Nur die FDP blieb in einer knappen Mehrzahl der Abstimmungen beim Nein. Die Behauptung, Rot-Grün mache sich von der Linkspartei abhängig, hat sich schnell als falsch erwiesen.

Mit Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann erhielt in Düsseldorf ein neuer Politikstil Einzug. Dies hat auch – aber nicht nur – etwas mit der Tatsache zu tun, dass sie keine absolute Mehrheit besaßen. Ministerpräsidentin Kraft steht für eine Abkehr von einem traditionalistisch „linken“ Sozialstaatsverständnis des Nachsorgens und investiert stattdessen in eine präventive Politik, die auf eine Reduzierung sozialstaatlicher „Reparaturkosten“ setzt. „Alle Konzepte, mit Einsparungen um jeden Preis aus der Verschuldung herauszukommen, sind gescheitert, egal, welche frühere Regierung es versucht hat“, stellte Hannelore Kraft in einem Spiegel-Interview fest.

Die Darstellung der Medien, Krafts Finanzpolitik sei vor dem Landesverfassungsgericht gescheitert, ist falsch. Das Urteil bezog sich allein auf den Nachtragshaushalt 2010, der noch von Schwarz-Gelb zugesagte Investitionen in die Kinderbildung und Aufstockungen der Kommunalfinanzen umfasste, die durch Gerichtsurteile notwendig geworden waren. Hinzu kamen vorsorgliche Rückstellungen für die WestLB-Risiken. Im Kern sorgten sie für die Verfassungswidrigkeit des Haushalts – so die Entscheidung des Münsteraner Verfassungsgerichts.

Immer auf der Suche nach dem Konsens

Rot-Grün versuchte, viele Themen subsidiär zu bearbeiten und konsensuale Ergebnisse zu erzielen, was den Oppositionsparteien die Verweigerung erschwerte. Gerade in der Schulpolitik – ein beliebtes Schlachtfeld ideologischer Auseinandersetzungen – wandte die Regierung diese Strategie an. Beispielsweise sollten die Schulkonferenzen selbst entscheiden, ob sie zum Abitur nach neun Jahren Gymnasium zurückkehren wollten. Die verbindlichen Einzugsbereiche von Grundschulen legen jetzt die Kommunen fest. Und statt über Gesamtschulen zu diskutieren, bot die Landesregierung vor allem auch den christdemokratisch regierten Gemeinden im ländlichen Raum die Gemeinschaftsschule an.

Dies war ein Auslöser für einen bemerkenswerten Erfolg der rot-grünen Koalition: Sie erreichte eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit in der Schulstrukturpolitik. Nach Euro, Atomkraft und noch vor dem Mindestlohn räumte die CDU einen weiteren ideologischen Schützengraben – das althergebrachte dreigliedrige Schulsystem inklusive Hauptschule. Die CDU stimmte gemeinsam mit Rot-Grün dafür, die Hauptschule aus der Verfassung zu streichen. Diese garantiert nun ein gemischtes System aus integrierten und differenzierenden Schulen, über das im Einzelnen vor Ort entschieden wird. Anschließend wollte auch die FDP nicht mehr außen vor bleiben und votierte im Landtag für den „Stärkungspakt Stadtfinanzen“, der den am stärksten verschuldeten Kommunen mit Milliardensummen unter die Arme greift.

Es war auch die Angst vor Neuwahlen, die für pragmatische und bunte Zweckbündnisse in Düsseldorf sorgte. Notwendig für das Überleben einer Minderheitsregierung ist somit die Kombination aus einem günstigen Bundestrend (der bekanntlich Landtagswahlen erheblich beeinflusst) und einer geschickten Arbeit der Koalition. Die Gemengelage in der nordrhein-westfälischen Landespolitik führte zu einer Stärkung des Parlaments und ihrer Fraktionen. Lange sah es so aus, als ob die Landtage angesichts übermächtiger Exekutiven und immer mehr Bundes- und EU-Kompetenzen keine rechte Rolle mehr spielen würden. Aber in Düsseldorf sorgten die Koalitionsfraktionen in regelmäßigen Gesprächen mit allen Oppositionsfraktionen für Mehrheiten. Das Ergebnis: Mehr Einfluss der Parlamentarier.

Dass das System der inhaltlichen Ausbalancierung zwischen Koalition und Opposition im täglichen Geschäft funktionierte, belegt ein Gegenbeispiel. Wo es nichts auszuhandeln gab, befand sich der Landtag an der Grenze der Handlungsunfähigkeit. Gemeint sind die Staatsverträge. Weil es diesbezüglich keine Verhandlungsmöglichkeiten zwischen den Fraktionen gibt, lag es allen drei Oppositionsparteien fern zuzustimmen – ob es um Glücksspiel, Fernsehgebühren oder Jugendmedienschutz ging.

Der wiederbelebte Parlamentarismus

Dass Rot-Grün schließlich am Haushalt scheiterte, ist auf den hohen Symbolgehalt dieser Entscheidung zurückzuführen. Schon beim Haushalt 2011 hatte sich gezeigt, dass die Opposition nicht in der Lage war, das „parlamentarische Königsrecht“ konstruktiv wahrzunehmen und in den Ausschussberatungen für eigene Akzente in den Einzelplänen zu sorgen. Die Linkspartei nahm damals weder an den Ausschussabstimmungen noch an der ersten und zweiten Lesung zum Haushalt teil. Erst in der dritten Lesung enthielt sie sich – beziehungsweise stimmte punktuell mit Ja. Auch im Jahr 2012 beteiligte sie sich nicht an den betreffenden Ausschusssitzungen.

Die CDU verlegte sich auf eine klassische Oppositionshaltung – und verlangte an vielen Stellen Mehrausgaben für Wunschprojekte. Die FDP verhielt sich diesmal ähnlich wie die Linkspartei und stellte keinen einzigen Antrag zum Haushalt. Ihr hätte es gereicht, unmittelbar vor der dritten Lesung eine zusätzliche globale Einsparsumme von etwa 360 Millionen Euro als Verhandlungserfolg zu feiern. Die Liberalen gingen davon aus, dass sich die Linkspartei – wie im Vorjahr – an der zweiten Lesung nicht beteiligen würde. Diese war hingegen sicher, dass die FDP sich enthalten würde.

Auch wenn die plötzliche Auflösung des Landtags eher zufällig am strategischen Unvermögen einiger Oppositionspolitiker scheiterte – Normalität ist eine Minderheitsregierung noch lange nicht. Denn bei jedem Zugeständnis an die Regierungskoalition stellte sich für die Oppositionspartei die Frage: Reicht mir der inhaltliche Erfolg? Oder sollte ich als Gegenleistung nicht besser eine angemessene Zahl an Ministerposten verlangen?

Dennoch meine ich, dass die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen ein Vorbild für Parlamente sein kann, deren Zersplitterung für ungewöhnliche Konstellationen sorgt. Weder die Linkspartei im Westen noch die Piraten können auch nur in Ansätzen als regierungsfähig bezeichnet werden, und selbst eine in die Ecke getriebene FDP ist unberechenbar. Und auch im Vergleich zu einer Großen Koalition kann ein erstarktes Parlament, das im Einzelfall um gute Problemlösungen und Mehrheiten ringt, die bessere Alternative sein.

zurück zur Person