Enttäuschung und Sehnsucht

Nur zögerlich wird vielen in Deutschland klar, dass das Russland der Ära Putin tatsächlich in vieler Hinsicht ein "neues Russland" ist. Damit der Dialog mit diesem veränderten Russland gelingen kann, werden neue Ideen gebraucht - und auf beiden Seiten die Abkehr vom Übel des Nullsummendenkens

Groß sind in Deutschland die Enttäuschung über fehlgeschlagene Bemühungen um Kooperation mit Russland und die Sehnsucht nach besseren Beziehungen. Übergroßes Verständnis herrscht hierzulande daher mancherorts für Präsident Wladimir Putins Anwendung militärischer Gewalt. Übersehen wird die Tatsache, dass zwischen Russland und Deutschland 90 Millionen Menschen leben, denen bei Einvernehmen der beiden Mächte über ihre Köpfe hinweg ungute historische Reminiszenzen kommen. Gern aufgegriffen wird in Deutschland das russische Narrativ, demzufolge die Krim-Annexion und der Ostukraine-Krieg als (berechtigte) Reaktionen auf amerikanische Einflusspolitik und Nato-„Expansion“ gesehen werden. In Kontrast zu diesen Phänomenen allerdings steht die konsequente Diplomatie der Bundesregierung.

Selbstkritik ist auf beiden Seiten angezeigt

Das Ziel konstruktiver Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist berechtigt und dringlich. Man kommt ihm nur näher, wenn man sich auch mit den Augen des anderen sieht. So hat die Stiftung Wissenschaft und Politik jüngst einleuchtend dargelegt, wie das vom Westen als revisionistisch angesehene Russland wiederum die westliche Politik als „revisionistisch“ (da gegen den Status quo gerichtet) betrachtet. Solche Einsichten sind wichtig – wenngleich größeres Verständnis für die Denkweise des Gegenübers nicht die Aufgabe von Prinzipien und Rechtspositionen bedeuten kann.

Klar ist, dass für den Dialog mit Russland neue Ideen gebraucht werden. Wie die marode Sowjetunion ist auch Putins Russland auf ein „neues Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik angewiesen, als Teil seiner dringend notwendigen Modernisierung. Dieses „neue Denken“ sollten der Westen und besonders auch die Nato erleichtern, und zwar durch die selbstkritische Anerkennung des eigenen Anteils an der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses in den vergangenen 20 Jahren. Zwei Beispiele:

Zwar rechtfertigt kein Fehler oder Versäumnis auf westlicher Seite Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine und die Aufkündigung fundamentaler Regeln der europäischen Sicherheitsordnung. Auch hat der Westen seit dem Ende des Kalten Krieges nicht alles falsch gemacht, sondern Russland viele Chancen der Inklusion und Kooperation geboten. Aber der Westen hat auch manches versäumt – zuvörderst das gründliche Gespräch mit langem Atem über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung. So muss erkannt werden: Die westliche Politik einer Integration mittel- und osteuropäischer Staaten bei gleichzeitig harmonischer Zusammenarbeit mit Russland ist zunehmend gescheitert.

Zwar war die Nato-Erweiterung nie eine Bedrohung für Russland, nicht einmal eine aktive „Expansion“ des Bündnisses, sondern entsprang dem dringlichen Wunsch der von Diktatur, sowjetischem Joch und Gängelung im Warschauer Pakt befreiten Staaten, sich dem Raum von Freiheit, Sicherheit und Stabilität im Westen anzuschließen. Auch die oft behaupteten Zusicherungen der Nicht-Erweiterung hat es nie gegeben. Aber es ist eine politisch-psychologische Tatsache, dass die Nato-Erweiterung ein fortwährender Pfahl im Fleisch russischer Eliten ist, dass Russland sich von ihr wenn nicht bedroht, so doch bedrängt fühlt. Und wenig konstruktiv wurde beim Nato-Gipfel in Bukarest 2008 mit den Beitrittsambitionen Georgiens und der Ukraine umgegangen, als die Vereinigten Staaten den „Membership Action Plan“ (MAP) durchsetzen wollten, obwohl beide Staaten keineswegs reif für diesen nächsten Schritt in Richtung Nato-Mitgliedschaft waren. Vor allem aber wurde hier keinerlei Verständigung mit Russland gesucht, während doch die beiden vorherigen Erweiterungsrunden mittels der Gründung beziehungsweise Aufwertung des Nato-Russland-Rats „abgefedert“ worden waren.

„Putin-Versteher“ ist in der politischen Auseinandersetzung zum Schimpfwort geworden. Doch angesichts der zentralen Entscheidungsrolle des russischen Präsidenten ist es wichtig, die Motive seines Vorgehens zu verstehen. Folgende sechs Motive lassen sich identifizieren:

Erstens russischer Revisionismus: Dieser speist sich aus Großmachtnostalgie und der Verbitterung über den Zerfall der Sowjetunion vor dem Hintergrund des geopolitischen Motivs, dass exklusive Einflusssphären eine zentrale Rolle spielen. Dabei wird (etwa in Sergej Lawrows Reden über den „Machtbereich“ der Europäischen Union) die EU in eins gesetzt mit der Nato.

Zweitens das gängige historische Muster der Ablenkung von inneren Problemen und der Mobilisierung von Unterstützung durch Aggression gegen äußere „Gegner“.

Drittens das Bestreben, durch Offenhalten des Konflikts den Anschluss der Ukraine an die Nato und den Westen dauerhaft zu verhindern.

Viertens die Vorstellung, die Erweiterung der Nato, die „FarbenRevolutionen“ und die östliche Nachbarschaftspolitik der EU stellten allesamt eine von den Vereinigten Staaten gelenkte „Eroberung“ russischen Einflussgebiets dar.

Fünftens (und möglicherweise am wichtigsten) die Befürchtung, der denkbare Erfolg einer demokratischen, gar westlich orientierten Ukraine könnte zur existenziellen Bedrohung für Putins Herrschaftssystem werden. Treffend wurde daher seine Ambition (und die anderer autokratischer Mächte) als „democracy containment“ bezeichnet.

Putin glaubt, Amerika wolle Russland klein halten

Sechstens schließlich sticht unter Putins Motiven prominent die Frustration darüber hervor, vom Westen und besonders den Vereinigten Staaten nicht auf Augenhöhe als Großmacht respektiert zu werden. Bei Russlands überraschendem militärischen Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg – durch das man dessen Ende kein Stück näher gekommen ist, im Gegenteil! – war dies besonders deutlich. Putin glaubt, Amerika wolle Russland klein halten. Nein, ein Russland, das sich konstruktiv am globalen und regionalen Lösen von Konflikten beteiligt (wie im leider fast singulären Fall des Nuklearabkommens mit dem Iran), anstatt auf Störpotenzial, Verhinderungsmacht, Überrumpelungstaktik, regionale militärische Überlegenheit sowie Schwäche und Furcht von Nachbarn zu setzen – ein solches Russland wäre als Großmacht hoch willkommen. Aber Respekt und Zusammenarbeit auf Augenhöhe wollen erworben sein und lassen sich nicht durch Regelverletzung und Aggression erzwingen oder ertrotzen.

Die Einverleibung der Krim durch Russland muss wohl de facto für einige Zeit hingenommen werden, wenngleich kein demokratischer Staat sie anerkennen darf. Doch der von Moskau geschürte Krieg in der Ostukraine muss beendet werden. Und die Abmachung von Minsk II, dass die ukrainische Kontrolle über die Ostgrenze erst dann wiederhergestellt werden kann, wenn Kiew die Verfassungsreform verwirklicht hat, kann keinen Bestand haben. Ein sinnvoller Dialog zwischen Russland und dem Westen ist ohne Lösung des Ukrainekonflikts kaum denkbar.

Aber die Nato-Beschlüsse von Warschau zum Schutz der östlichen Alliierten sollten dem Dialog nicht im Wege stehen. Sie stellen keine Eskalation dar, sondern sind – einschließlich verstärkter vorgeschobener Präsenz mit (rotierenden) multinationalen Bataillonen in Estland, Lettland, Litauen und Polen – das Minimum dessen, was die Allianz diesen Staaten und sich selbst schuldig ist. Sie bewegen sich im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte und bekräftigen das Prinzip, dass ein Angriff auf einen Alliierten ein Angriff auf alle wäre.

Gleichwohl: Neben der klaren Forderung, Moskau möge zu den Prinzipien von Helsinki und Paris zurückkehren, und dem glaubwürdigen Schutz aller Nato-Alliierten, muss die beim Nato-Gipfel in Warschau ebenfalls betonte Dialogbereitschaft – das zweite, komplementäre „Standbein“ der Harmel-Philosophie – konkret ausgefüllt werden. Wenn man doch Russland dabei helfen könnte, seine wirklichen Interessen zu erkennen!

Putin hat Russland in eine Sackgasse geführt

Denn zwar ist das Mantra richtig, dass langfristig Sicherheit in Europa nur mit, nicht gegen oder ohne Russland erreicht werden kann. Doch hat es die russische Politik bewirkt, dass für viele zunächst wieder Sicherheit vor Russland im Vordergrund steht. Das kann auch nicht im russischen Interesse sein.

Ohne falsche Nachgiebigkeit, die Präsident Putin erfahrungsgemäß als Schwäche interpretiert und ausnutzt, sollte das Angebot kooperativer statt konfrontativer Sicherheit immer wieder erneuert werden. Ob es Putin erreicht und er seinen Kurs zu ändern bereit sein könnte, ist zweifelhaft. Für ihn scheint es nur das Prinzip „du oder ich“ zu geben. Aber in Russland steigt die Zahl derjenigen, die erkennen, dass er das Land in eine Sackgasse geführt hat und dass die „Externalisierung“ innerer politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme auf Dauer keinen Erfolg verspricht.

Der Nato-Russland-Rat (NRR) sollte bei einem solchen Dialog eine wichtige Rolle spielen; beiderseits wurde er ungenügend genutzt und entwickelt. Beim Georgien-Krieg 2008 legte ihn die Nato auf Eis – ebenso wie Russland neun Jahre zuvor in der Kosovo-Krise, wofür es damals harsch kritisiert wurde. Nach der russischen Annexion der Krim wurde jede konkrete Zusammenarbeit beendet und allein der „politische Kanal“ offengehalten. Indes kam der Nato-Russland-Rat in zwei Jahren nur zweimal auf Botschafterebene zusammen, während er doch eigentlich gerade seit Ausbruch der Krise quasi permanent hätte tagen müssen.

Kurzfristig sollte der NRR mit seinen Untergruppen der Vermeidung unbeabsichtigter militärischer Zwischenfälle im Verhältnis zwischen Russland und der Nato dienen.

Mittelfristig müsste er – unter der Bedingung einer völkerrechtsbasierten Lösung des Ukrainekonflikts, zunächst mindestens in der Ostukraine – zu neuer Qualität geführt werden mit einer Ausweitung der Felder konformer Interessen und gemeinsamer Aktion. Die Nato könnte sich auch zu einem strukturierten Dialog mit der von Russland geführten Collective Security Treaty Organisation (CSTO) bereiterklären.

Langfristig sollte der NRR einen Anteil am oben erwähnten, allzu lange versäumten Gespräch über Russlands Platz in der europäischen Sicherheitsordnung haben. Vielleicht ist dafür sogar ein neues Forum erforderlich. Jedenfalls hätte der Westen den Vorschlag Dmitrij Medwedews aus dem Jahr 2008 für einen umfassenden europäischen Sicherheitsvertrag, wenngleich in der Substanz fragwürdig, viel aktiver aufgreifen sollen – als Ausgangspunkt für einen intensiven strukturierten Dialog. Die Scheu auf westlicher Seite war und ist unangebracht. Ging nicht auch die Schlussakte von Helsinki 1975 mit ihren positiven Auswirkungen in der jüngeren europäischen Geschichte aus zunächst furchtsam betrachteten sowjetischen Vorschlägen hervor? Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen Russlands und der Nato für den euroatlantischen Raum sollten mit großer Offenheit und langem Atem diskutiert werden. Im Interesse der Fortentwicklung der europäischen Sicherheitsordnung müsste sich auch die Nato innovativ und engagiert für einen neuen Aufbruch in der konventionellen Rüstungskontrolle und europäischen Vertrauensbildung einsetzen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat dazu jüngst Vorschläge präsentiert.

Unter bestimmten Bedingungen erscheinen viele attraktive Angebote an Russland denkbar: eine die Eurasische Wirtschaftsunion und die EU umfassende Freihandelszone; Zusammenarbeit bei der wirtschaftlichen Modernisierung Russlands; Lösungsansätze für die „eingefrorenen“ Konflikte, die es Russland erlauben würden, auf derartige kontraproduktive „Einflusshebel“ zu verzichten; gemeinsame Abstimmung in regionalen und globalen Krisenlagen; neue Ansätze der Vertrauensbildung; Visaliberalisierung, intensivierte gesellschaftliche Kontakte und so weiter.

Entscheidend ist, dass beide Seiten das „Nullsummendenken“ überwinden, demzufolge Sicherheit und die Durchsetzung eigener Interessen für jede Seite immer nur auf Kosten der jeweils anderen möglich ist. Dieses Denken ist eines der größten Übel unserer Zeit.

Allerdings: Am Ende der diesjährigen deutsch-russischen „Schlangenbader Gespräche“ zitierte ein russischer Schriftsteller einen prominenten Moskauer Politiker, der zuvor mit dem Hinweis um Geduld geworben hatte, der Weg vom Gulag zum Hyde Park Corner sei weit, und kommentierte trocken: „Ja, und wenn man ihn in der umgekehrten Richtung geht, ist er noch weiter!“

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