Endlich erwachsen, endlich normal? Es kommt darauf an, was man darunter versteht



Die Idee einer „Normalisierung“ Deutschlands durchzieht wie ein Leitmotiv die politische Rhetorik und Praxis der ersten fünf Jahre der Republik von Berlin. Nach dem Willen der Bundesregierung und mit Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung sollte das Land endlich ein europäischer Nationalstaat wie jeder andere werden. Es habe nach fünfzigjähriger demokratischer Erfolgsgeschichte Anspruch darauf, von den Partnern im Ausland als vollwertiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft anerkannt und nicht länger wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit scheel angesehen zu werden. Die Regierung war im Gegenzug bereit, neuartige Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Das bewiesen die Entsendung deutscher Truppen zur Friedenssicherung auf den Balkan oder die führende Rolle Deutschlands beim Wiederaufbau Afghanistans. Die Metaphern, mit denen diese Entwicklung umschrieben wurde, variierten. Manchmal war die Rede davon, die Bundesrepublik sei „erwachsen“ geworden, zu groß für die Kinderschuhe der Bonner Republik. Wem sprachliche Anleihen aus der Entwicklungspsychologie suspekt waren, der erklärte, Deutschland sei nach langen Umwegen und zahllosen Irrungen endlich in der Normalität westlicher Nationalstaaten „angekommen“.


Vertretern des zuerst genannten Sprachgebrauchs erschien die Wahl vom Herbst 1998, bei der erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine Regierungskoalition abgewählt wurde und zwei Oppositionsparteien an die Macht kamen, als eine Art bestandene demokratische Reifeprüfung. Den Umzug der Regierung vom Rhein an die Spree interpretierte man als endgültigen Auszug aus dem Elternhaus behüteter Halbsouveränität unter dem Schutz und der Aufsicht der Alliierten, als Aufbruch in eine verlockende, aber auch ein wenig bedrohliche Unabhängigkeit. Schröders „Nein“ zum Irak-Krieg wurde als notwendiger Schritt im Abnabelungsprozess von den Vereinigten Staaten gedeutet. Das verstärkte Werben um einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erscheint in dieser Perspektive als Bemühen um einen weiteren Nachweis der erreichten Mündigkeit.

Schluss mit dem linken Größenwahn

Wer wie der Historiker Heinrich August Winkler lieber vom „langen Weg nach Westen“ spricht, sieht die deutsche Nachkriegsgeschichte bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein als Fortsetzung einer langwierigen Sonderentwicklung. 1945 hörte Winkler zufolge der antiwestliche Sonderweg des Deutschen Reiches auf. Aber erst 1990 „endete der postnationale Sonderweg der Bundesrepublik und der internationalistische Sonderweg der DDR“. Die letzten Kurskorrekturen auf dem Weg in die Normalität nahm die rot-grüne Regierung vor: mit der Teilnahme am Nato-Krieg im Kosovo und ihrem Projekt der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts von 1913. Diese Interpretation hat viele Vorzüge. Sie ermöglicht eine organische Verbindung von ost- und westdeutscher Geschichte. Sie macht Schluss mit dem Größenwahn linker Intellektueller, am postnationalen Wesen der Bonner Republik solle die ganze Welt genesen. Und sie erlaubt es, die deutsche Geschichte in einen größeren, westeuropäisch-atlantischen Rahmen einzuordnen.


Damit beginnen jedoch die Schwierigkeiten. Die Metapher vom „langen Weg“ steht für die Entwicklung Deutschlands zu einem pluralistisch-demokratischen, sozialen, weltoffenen, freiheitlichen National- und Rechtsstaat. Der „Westen“ nimmt dabei eine doppelte Funktion ein, die dem Geist der Freiheit in Hegels Philosophie der Weltgeschichte ähnelt: Zum einen ist er das Ziel, zum anderen – in Form der Verwestlichung – der Weg, die treibende Kraft des Fortschritts. Wie der Geist der Freiheit besitzt der „Westen“ ein seltsam unhistorisches, überzeitliches Wesen, das den Gang der Dinge bestimmt, selbst aber außerhalb der Geschichte liegt. Mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realität der Vereinigten Staaten, Großbritanniens oder Frankreichs hat dieser idealtypische Westen weniger zu tun. Die Unterschiede, die sich spätestens seit den 1980er Jahren zwischen den Ländern des rheinischen und des angelsächsischen Kapitalismus aufgetan haben, bleiben ebenso unbedacht wie die Möglichkeit tief greifender außenpolitischer Meinungsverschiedenheiten zwischen westlichen Staaten. Deutlich wurde die Konfusion, als man während der Irak-Krise in Deutschland sagte, jetzt hätten die Vereinigten Staaten den Westen verlassen.


Auch die Redeweise vom Erwachsenwerden der Bundesrepublik hat ihre Probleme. Sie impliziert, dass sich deutsche Kanzler von Adenauer über Brandt bis Kohl kindisch verhalten hätten oder zumindest wie Kinder behandelt worden seien. Dabei hatte man während der Irak-Krise in Washington und London eher den Eindruck, die gegenwärtige Bundesregierung reagiere pubertär, neige zu außenpolitischen Trotzreaktionen. Im Übrigen setzt die Metapher stillschweigend eine Stunde Null im Jahr 1945 voraus, hinter die kein Weg zurückführt. Diese Annahme geht aber in doppeltem Sinne in die Irre: Zum einen weist die internationale Ordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich mehr Ähnlichkeiten mit der Zeit vor 1945 oder 1914 auf als mit dem bipolaren System des Kalten Krieges; zum anderen deuten die außenpolitischen Eliten in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich politische Entwicklungen in Deutschland im Lichte historischer Erfahrungen, die den meisten Deutschen – auch in der politischen Klasse – nichts mehr sagen, da ihnen die eigene Geschichte vor dem großen Bruch der Jahre 1933 bis 1945 fremd geworden ist.

Die historische Dimension deutscher Politik

Der Gedanke der „Normalisierung“ Deutschlands darf deswegen nicht auf einen weiteren Verlust von Geschichtsbewusstsein hinauslaufen. Wenn wir uns in den neuen unübersichtlichen Verhältnissen zurechtfinden wollen, müssen wir im Gegenteil einen stärker ausgeprägten Sinn für die historische Dimension deutscher Politik wiedergewinnen, der über die bloße Verdammung des verbrecherischen NS-Regimes hinausgeht. Zugleich sollten wir uns davor hüten, unsere Verbündeten am Wunschbild eines „Westens“ zu messen, das partiell verschiedenartige Interessen und unterschiedliche diplomatische Traditionen ausblendet. Historisch gewachsene Differenzen pragmatisch in Rechnung zu stellen und dennoch verlässlicher Bündnispartner zu bleiben – das wäre ein großer Schritt in Richtung wirklicher Normalität.

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