Eliten und Massen: Europas teuflisches Dilemma ist heute wieder aktuell



Die Berliner Republik, verschwistert mit meiner eigenen Zeitschrift Socialisme & Democratie in den Niederlanden, ist das ultimative Forum für frisches, innovatives und nonkonformistisches Denken innerhalb der linken Mitte in Deutschland. Vom Ausgang der hier geführten Debatten hängt die Vitalität von Demokratie und Solidarität in Deutschland ab. Nicht mehr und nicht weniger.


Worin bestehen heute die größten Herausforderungen für unsere Gesellschaften? Demokraten und demokratische Parteien der linken Mitte können nicht zulassen, dass gesellschaftliche Unzufriedenheit allein die Mühlen rechtspopulistischer Bewegungen speist. Das Risiko für die Demokratie und die interethnischen Beziehungen in unseren Gesellschaften ist dafür einfach zu groß. Daher stehen die europäischen Eliten vor einem teuflischen Dilemma: Den Populismus nicht ernst zu nehmen wird eine Revolte gegen das Konzept und die Praxis der elitistischen Demokratie auslösen; das populistische Aufbegehren aber vollständig in die politischen Institutionen zu integrieren – durch Formen plebiszitärer und personalisierter Demokratie, durch Referenden und Direktwahlen – kann zur Erosion der Demokratie in ihrer europäischen Spielart führen. Besonders in Europa ist diese Spannung zwischen den Eliten und dem „Volk“ schwierig und angesichts historischer Erfahrungen emotional hoch aufgeladen. Zu den intellektuellen und politischen Traditionen Europas gehört ein beträchtliches Maß an „Angst vor dem Volk“.


Einst waren die europäischen Nationen aristokratisch und hierarchisch strukturierte Gesellschaften, beherrscht von absolutistischen Monarchien. Im 19. Jahrhundert bekämpften liberalkonservative Eliten das heraufziehende „Zeitalter der Massen“. In gewisser Weise sollten diese Eliten Recht behalten: Das Zeitalter der Massen endete tragisch im großen europäischen Bürgerkrieg, in den Massenmorden des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, in den totalitären Massenpathologien von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus.

Jetzt gerät das System unter Druck

Als Konsequenz daraus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Demokratie in Europa neu aufgebaut – aber in streng konstitutionalistischer und repräsentativer Form. Den Kern der neuen demokratischen Ordnung bildete die Idee der „Rechtsstaatlichkeit“. Minderheiten sollten vor der Herrschaft der Mehrheit geschützt werden, die Herrschaft der Gesetze an die Stelle der Herrschaft der Massen treten. Allerdings ging dies zu Lasten des von Lincoln formulierten Prinzips der Herrschaft für das Volk und durch das Volk. Tatsächlich fand unter dem Motto „Freiheitliche Demokratie“ nicht viel weniger statt als die Wiedererrichtung einer elitären repräsentativen Demokratie, ausgestattet mit einer Vielzahl von Filtern zum Schutz vor direktem demokratischem Einfluss.


Jetzt gerät dieses System unter Druck. Die gut gebildeten Bürger wünschen sich mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten; zugleich haben die wenig gebildeten Bürger das Gefühl, überhaupt nicht mehr vertreten zu sein. Wiederum stehen wir vor dem alten teuflischen Dilemma: Wird das repräsentative System nicht weiter geöffnet, wächst das Risiko einer populistischen Revolte gegen dessen Prinzipien; transformiert man jedoch umgekehrt das System in die Richtung einer plebiszitären Volksdemokratie mit geschwächten verfassungsrechtlichen Sicherheitsventilen, ist das Ergebnis ebenso offen. Die angespannte Beziehung zwischen den Eliten und den Massen in Europa ist eine Saga, die so bald nicht zu Ende gehen wird.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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