Eine kurze Geschichte der Mitte

Im Wahljahr 2002 haben die Parteien den Kampf um die "Mitte" wieder aufgenommen. Allzu leichtfertig sollte er nicht geführt werden. Denn um Vergangenheit, Ideologie und soziale Realität der Mitte ist es ambivalenter bestellt, als die Streitenden glauben

Seit die Bundestagswahl am 22. September in erkennbare Nähe rückt, haben die Parteien den Kampf um die "Mitte" mit neuer Energie wieder aufgenommen. Die Unionsparteien versuchen, zumal nach der Entscheidung für den Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber, sich von jeglichem Geruch einer Orientierung nach rechts zu befreien und den Kandidaten als moderaten, integrierenden Politiker der Mitte zu präsentieren. Die SPD verspricht sich viel von der Erneuerung des Leitmotivs der "Neuen Mitte", in dem sie einen Schlüssel zu ihrem Wahlerfolg von 1998 und dem Machtwechsel von Kohl zu Schröder zu erkennen glaubt. Sogar einen eigenen Kongress zum Thema "Die Mitte in Deutschland" hat die SPD im Februar veranstaltet, auf dem der Parteivorsitzende und Bundeskanzler sein Konzept von der Sozialdemokratie als ebenso historischer wie gegenwärtiger Verkörperung der politischen und sozialen Mitte in Deutschland erneut dargelegt hat.

Aus diesem Text kann man einiges lernen: über das Selbstverständnis der SPD als einer Partei und sozialen Bewegung, die sich nach einem Jahrhundert der Existenz am Rande des politischen und gesellschaftlichen Mainstreams, von Bismarck bis Adenauer, endlich auf dem sicheren Platz in der Mitte angekommen glaubt. Man lernt aber auch etwas über die begriffliche Ungenauigkeit und voreilige Selbstzufriedenheit, mit der diese Ankunft nun zelebriert wird. Gerhard Schröder begann seine Rede auf dem Mitte-Kongress mit einer persönlichen Bemerkung über seine eigene soziale Herkunft, die außerhalb der ökonomisch gesicherten "Mitte" der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft lag, vielmehr "am unteren Ende, vielleicht sogar am Rande der Gesellschaft"1. Man reibt sich die Augen: Die SPD spricht tatsächlich die kleinen Leute an; und sie erinnert an die Zähigkeit der klassengesellschaftlichen Strukturen, die nur durch harte individuelle Leistung, vor allem aber - so immer noch Schröder aus eigener biografischer Erfahrung - durch Bildung zu überwinden waren.

Haben wir einen Idealzustand erreicht?

Aber anstatt diese Spur und die Einsicht, dass die Mitte "ja zuallererst eine soziale Kategorie ist", weiterzuverfolgen, wird die "persönliche Bemerkung" rasch abgeschlossen. Mit der jetzigen gesellschaftlichen Situation und politischen Programmatik der SPD hat sie anscheinend nicht viel zu tun. Denn wir haben, so scheint es, einen Idealzustand erreicht, in dem die Mitte der Gesellschaft nicht mehr durch soziale Herkunft, sondern durch Leistung und Gemeinsinn bestimmt wird: "Da sind wir angekommen." Die Geringverdiener, die Arbeitslosen in Ostdeutschland, die alleinerziehenden Frauen, die Jugendlichen mit Hauptschulabschluss werden es gerne vernehmen. Überhaupt ist die Frage nach der sozialen Mitte - man könnte auch sagen: nach der sozialen Ungleichheit - eigentlich ein unangenehmes Thema. Deshalb wird die neue Mitte lieber als politische Mitte thematisiert, wobei der Unterschied dieser beiden Perspektiven meistens noch nicht einmal aufzufallen scheint. Die SPD ist demnach, wie das auch die CDU für sich reklamiert, eine Partei der Mitte im Sinne einer Politik jenseits der Extreme, einer Politik des Ausbalancierens konkurrierender Wertorientierungen.

So hat es soeben auch der SPD-Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig noch einmal skizziert. Politische Mitte sei der "Anspruch, neue Balancen in der Gesellschaft zu schaffen", vor allem eine "Balance von Eigenverantwortung und sozialer Sicherheit, von Individualismus und Gemeinwohl, von Modernisierung und Gerechtigkeit"2. Und wer kann diese Politik vertreten, wer ist der Adressat dieser neuen Wertebalance? Es ist nicht etwa die Verkäuferin oder der Heizungsmonteur, nein, es sind die "Angestellten oder Selbständigen mit qualifizierten Bildungsabschlüssen in den Kernbereichen der neuen Ökonomie", in "verantwortungsvollen Positionen".

Hat nicht bis vor kurzem noch die FDP ihre angestrebte Klientel der "Besserverdienenden", unter allgemeinem Hohngelächter, auf ähnliche Weise beschrieben? Problematisch an dieser neuen Orthodoxie der Mitte in der SPD-Rhetorik ist aber nicht nur das kaum bemäntelte Hinwegsehen über traditionelle Anhänger- und Wählerschichten der Partei, sondern auch die Vermutung, die ins Auge gefasste neue Mittelklasse könne in ihren Wertorientierungen gewissermaßen auf die untere Hälfte der Gesellschaft ausstrahlen, "Orientierungsfunktionen für viele andere" übernehmen,3 wie Machnig schreibt, also eine Art Leitkultur für die leider auch noch vorhandenen unteren Schichten bilden und sie auf diese Weise doch noch in die Gesellschaft integrieren. Worauf sich diese Vermutung - wie immer man sie bewerten mag! - stützt, bleibt völlig unklar; die meisten Indizien weisen gegenwärtig in die genau entgegengesetzte Richtung: Die neubürgerliche "Mitte", wenn es sie denn gibt, hat kaum noch eine soziokulturelle Ausstrahlungskraft über ihr eigenes Milieu hinaus.

Oft zitiert, gern missbraucht

Wer sich auf die Mitte beruft, sollte das nicht leichtfertig tun. Denn er stellt sich damit in eine Tradition der Beschreibung von Politik und Gesellschaft, die immer auch ideologische Funktionen erfüllen sollte und manches Mal politisch missbraucht worden ist. Daran sollte sich gerade die SPD erinnern können. Also: Auf zu einer ganz kurzen Geschichte der Mitte in Deutschland während der letzten beiden Jahrhunderte.

Eigentlich müsste man sogar noch viel weiter zurückgehen und darauf hinweisen, dass die Denkfigur von der "Mitte" zu den ältesten Kategorien des europäischen Denkens überhaupt gehört. Bereits in der griechischen Antike, zum Beispiel in der athenischen Polis, verhieß die Mitte soziale Stabilität und politische Balance.4 Für Aristoteles waren die mittleren Schichten der Bürgerschaft diejenigen, denen man politisch am meisten vertrauen konnte, weil sie die politischen Extreme, zu denen die Ärmeren ebenso wie die Reichen tendierten, vermieden. Wer ganz viel oder wer ganz wenig besitzt, neigt am ehesten dazu, seinen unmittelbar ökonomischen Eigeninteressen zu folgen. Wer dagegen in seinen materiellen Verhältnissen ein gutes Auskommen hat, lässt sich nicht vom Geld korrumpieren, sondern ist am ehesten in der Lage, die Interessen der Gesellschaft zu bedenken und der "Bürgertugend" entsprechend zu handeln.

Das ist gar nicht weit entfernt von jener Verbindung zwischen zivilgesellschaftlichem "Gemeinsinn" und neuen Mittelklassen, von der heute so oft die Rede ist. Die gesellschaftliche Mitte verkörperte in diesem Denken das "Maßhalten", ein wichtiges Leitbild des griechischen Denkens. Sie gewährleistete eine Balance zwischen widerstreitenden Interessen, die sich sonst in offenem Konflikt gegenüberstehen würden, und befriedete damit das Gemeinwesen überhaupt. Die enge Verbindung von sozialer Mitte (als Mitte auf einer sozialökonomischen Ungleichheitsskala) und politischer Mitte (als gemäßigte Position zwischen radikalen politischen Optionen), die bis heute häufig so viel Verwirrung stiftet, geht also bereits auf klassische Autoren wie Aristoteles zurück.


Aber machen wir einen Sprung in das 19. Jahrhundert, als die Vorstellung von der sozialen Mitte ihre moderne, industriegesellschaftliche Ausprägung erhielt: nämlich in den Wandlungen der Ständegesellschaft zu einer marktförmig organisierten Klassengesellschaft, welche die Zeitgenossen in Deutschland seit den 1830er Jahren vermehrt diskutierten. Dabei spielte der Appell an eine "Mitte", die man in dauernder Gefahr glaubte, eine sehr wichtige Rolle. Die deutsche Sozialgeschichte seit dieser Zeit lässt sich als ein beinahe kontinuierlicher Kampf um den Fortbestand einer sozialen Mitte schreiben, die durch das Wachstum der industriellen Unterschichten, aber auch durch den Reichtum einer neuen Bourgeoisie bedroht war.5 Man sah die gesellschaftlichen Abstände wachsen und schließlich unüberbrückbar werden: Die "mittleren Sprossen" aus einer immer länger werdenden "Leiter", in diese Metapher wurden die Sorgen häufig gekleidet, drohten herauszubrechen.

Die Mitte als Bollwerk gegen den Sozialismus

Ein Argument im Arsenal der politischen Linken, zumal der sozialistischen Arbeiterbewegung, ist diese Ideologie der Mitte aber höchst selten gewesen. Im frühen und mittleren 19. Jahrhundert verknüpfte sie sich vielmehr ganz eng mit dem Liberalismus und seiner Vision einer klassenlosen, patriarchalischen Mittelstandsgesellschaft selbständiger Kleinexistenzen. Später, als die Konservativen sich zum Abschied von der alten, agrarischen Ständegesellschaft bequemen mussten, adaptierte die konservative Sozialtheorie die Suche nach einer stabil verankerten Mitte, die nicht zuletzt ein Bollwerk gegen die zeitweise unaufhaltsam erscheinende Ausdehnung der Arbeiterklasse, und damit ein Bollwerk gegen den Sozialismus, sein sollte. Dafür wurde vor hundert Jahren besonders der "Mittelstand" in Anspruch genommen: der sogenannte "alte" Mittelstand der Handwerksmeister und Einzelhandelskaufleute, den man durch Industrie und Warenhaus bedroht glaubte, aber zunehmend auch der "neue Mittelstand" der Angestellten in Firmenbüros, im Verkauf, in der öffentlichen Verwaltung. Das war bereits eine "neue Mitte", die ihrem Ursprung und ihren Funktionen nach der jetzt von der SPD ins Auge gefassten Schicht der IT-Spezialisten durchaus ähnlich war.

Lange Zeit glaubte man, dieser Mittelstand sei sogar zur Hauptstütze des Nationalsozialismus in dessen Aufstiegsphase bis 1933 geworden. Zweifellos wurde die "Mitte" in den 1920er Jahren radikaler: Was sich damals "Mittelstandspartei" nannte, stand auf der extremen Rechten, kultivierte übersteigerten Nationalismus und Antisemitismus. Von einer Mitte, die im Sinne der klassischen Theorie "Maß hielt", Abstand zu den Extremen wahrte und womöglich noch zivilgesellschaftliche Wertmaßstäbe hochhielt, konnte nicht die Rede sein. Inzwischen ist die Vorstellung, der Nationalsozialismus sei ein "Extremismus der Mitte" gewesen, gründlich zurückgewiesen worden.6 Einerseits war der Nationalsozialismus eine rechte Ideologie, deren Herkunft aus dem Arsenal eines radikalisierten und völkisch aufgeladenen Konservatismus immer wieder klar herausgearbeitet worden ist. Andererseits ist er keine Wahlbewegung des Mittelstandes gewesen, sondern in erheblichem Umfang von der Arbeiterschaft unterstützt worden. Dennoch mahnt das Beispiel des Nationalsozialismus zur Vorsicht bei allen Versuchen, einer mittleren Schicht automatisch positive Wert- und Verhaltensstandards zuzuschreiben. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen verhalten sich Mittelschichten human, zivilisiert und verantwortungsbewusst.

Im Arbeiter- und Bauernstaat der DDR wusste man, in guter sozialistischer Tradition, mit dem Leitbild einer sozialen "Mitte" nichts anzufangen. In der Bundesrepublik dagegen erlebte die Vision von einer ausbalancierten, in der Mitte stabilisierten Gesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren noch einmal eine Hochkonjunktur und wurde auch im politischen Diskurs entsprechend genutzt - wiederum überwiegend gegen das linke Lager, gegen die Arbeiterbewegung. Die Formel des Soziologen Helmut Schelsky von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" wurde zu einer Art sozialem Gründungsmythos der Bonner Republik. Damit soll gar nicht bestritten werden, dass die Arbeiterschichten in Westdeutschland (besonders seit den späten 1950er Jahren) tatsächlich ein Niveau der Lebensführung erreichten, zum Beispiel in ihren Wohnverhältnissen, Konsum- und Freizeitformen, das bis dahin eher dem kleinen und mittleren Bürgertum vorbehalten war. Aber im ganzen bezeichnete die "Mitte" in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik doch eher ein Projekt, das in der Kontinuität konservativer Stabilisierungskonzepte stand und dementsprechend auch überwiegend von den Unionsparteien politisch und rhetorisch genutzt wurde.

Es scheint so, als habe sich die Spur der "Mitte", die jetzt wiederentdeckt worden ist, in den 1970er und 1980er Jahren ein wenig verloren. Denn einerseits war das die Phase einer Konsumnormalität Westdeutschlands, in der Klassenunterschiede tatsächlich keine große Rolle mehr zu spielen schienen. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer wuchsen in großen Schritten. Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in den meisten OECD-Staaten markierten die siebziger Jahre den einstweiligen Höhepunkt in der Annäherung von "oberen" und "unteren" Einkommenslagen: Seitdem wuchsen die Abstände wieder. Andererseits hatte die Rhetorik der "Achtundsechziger" und der Neuen Linken das soziale Vokabular des Marxismus wiederentdeckt, in dem die Mitte nicht vorgesehen war. Davon war zwar schon in den achtziger Jahren kaum noch die Rede, aber dafür verdrängte die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und dem, was man als "neue Armut" zu beschreiben begann, die Plausibilität einer gemütlich in der Mitte ausbalancierten Gesellschaft. Eigentlich war die Rückkehr der "Mitte" als soziales und politisches Ideal gar nicht so wahrscheinlich - schon gar nicht ihr Eindringen in die politische Linke. Auch die sozialen Folgen der Wiedervereinigung wiesen nicht in diese Richtung. Gibt es die soziale Mitte überhaupt noch, oder wird nur über sie gesprochen?

Wenn die Mitte zerrieben wird

Mit dem Appell an die Mitte liegt man nie falsch: Diesen Schluss könnte man aus den historischen Erfahrungen gerade in Deutschland ziehen. Ob das etwas mit gesellschaftlichen Realitäten zu tun hat, ist immer schon eine ganz andere Frage gewesen. Seit den achtziger Jahren deuten die meisten seriösen Indikatoren der Sozialwissenschaften jedenfalls gerade nicht auf die Verkürzung von sozialen Abständen hin, auf die Herausbildung oder Verbreiterung einer neuen Mittelschicht mit integrierender Funktion für die Gesellschaft im ganzen. Natürlich kann man immer, auch in der Bundesrepublik, eine relative Mitte von Einkommens- und Vermögenslagen sozialstatistisch identifizieren: jenseits von Armut und Knappheit, aber auch diesseits von Reichtum und Luxus. Ebenso unbestreitbar hat der technologische und gesellschaftliche Wandel der letzten Zeit zur Expansion von Berufsgruppen geführt, die sich in dieser Hinsicht einer sozialen Mitte zuordnen lassen. Die relativ gut ausgebildeten, gut bezahlten Angestellten in den IT-Branchen, die Programmierer und Netzwerkmanager, sind die vielzitierten Beispiele dafür. Solchen Wandel der Berufsstrukturen vor allem in der Dienstleistungsbranche hat es aber schon seit mindestens hundert Jahren immer wieder gegeben, und kaum etwas spricht dafür, dass dieses Phänomen gegenwärtig eine ungewöhnliche, revolutionäre Dynamik entfaltet.

Mindestens ebenso lange haben kluge Beobachter an etwas erinnert, was man heute anscheinend immer noch nicht so gerne hört: Die Ausweitung solcher Arbeitsmärkte, die Entstehung solcher Berufsgruppen ist ein im wahrsten Sinne des Wortes "viel-schichtiges" Phänomen, ein Vorgang nämlich, der regelmäßig nicht nur gutverdienende Expertengruppen hervorbringt, sondern auch ein neues Dienstleistungs-Proletariat für die jeweiligen Wachstumsbranchen. Was um 1900 die Verkäuferinnen in den Warenhäusern waren, sind heute, zum Beispiel, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den "Callcenters". Sie sitzen an sauberen Schreibtischen, von neuester Technologie umgeben, und müssen keine körperlich anstrengende Arbeit verrichten. Vielleicht glaubt deshalb die SPD, dass solche Beschäftigten in die solide Mittelklasse aufgestiegen sind. Die wenigsten der Betroffenen werden es selber glauben. Denn die Tätigkeit ist vergleichsweise gering qualifiziert, die Arbeitsplätze sind unsicher, der Verdienst ist gering.

Was dieses Beispiel veranschaulichen will, ist durch vielfache Untersuchungen inzwischen eigentlich gut bekannt: Nicht ein Abschleifen sozialer Unterschiede, nicht eine Homogenisierung sozialer Lagen in der ominösen "Mitte" ist das Kennzeichen der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Wie in den meisten anderen westlichen Gesellschaften auch, angeführt von den USA und Großbritannien (und wie auch, aus anderen Gründen, im postkommunistischen Osteuropa seit 1990), erleben wir vielmehr in sozialökonomischer Hinsicht eine Tendenz zur Polarisierung der Gesellschaft:

- Die Einkommenssituation in Deutschland ist in den letzten 10 bis 15 Jahren in mehrfacher Hinsicht durch eine Schere gekennzeichnet. Dabei sind nicht nur die Einkommen aus selbständiger Arbeit viel stärker gestiegen als die Einkommen der abhängig Beschäftigten. Darauf beruft man sich in der SPD gerne, weil man dann 90 Prozent der Gesellschaft gegen die Unternehmer, Zahnärzte und Rechtsanwälte auf seiner Seite hat. Doch ist zugleich der Abstand zwischen unteren und "mittleren" sozialen Lagen vielfach gewachsen. Ein Grund dafür ist die Massenarbeitslosigkeit, ein anderer die Zunahme familiärer Instabilität in der Unterschicht - Stichwort: alleinerziehende Mütter. Andererseits nimmt die Kinderlosigkeit besonders in der (akademischen) Mittelschicht deutlich zu, die sich damit auf Kosten der Allgemeinheit einen höheren Wohlstand finanziert.

Aber auch politische und fiskalische Steuerungsinstrumente verstärken diese Kluft, etwa die derzeit bestehende Form der Eigenheimförderung, mit der Mittelschichtfamilien massiv subventioniert werden, die sich den Eigentumserwerb meist auch ohne staatliche Unterstützung leisten könnten, und die anderen auf den Mietwohnungsmarkt verweist. Die Subventionierung der Mittelschicht durch das kostenlose Hochschulstudium, welche eine SPD-Ministerin derzeit verbissen in Beton zu gießen versucht, ist ein zweites Beispiel mit vergleichbaren Wirkungen. Vor ziemlich genau einem Jahr hat die rot-grüne Bundesregierung stolz den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt, in dem sich all dies und noch viel mehr detailliert nachlesen lässt. Inzwischen scheint der Stolz einer merkwürdigen Scham gewichen zu sein. Über so unangenehme soziale Wirklichkeit spricht man besser nicht. Ja, die "Mitte" prosperiert - aber auf wessen Kosten?

- Nicht nur in materieller Hinsicht, auch in der "weicheren" Dimension des Lebensstils, der kulturellen Milieus und ihrer Abgrenzungen haben sich Spaltungen in unserer Gesellschaft etabliert, die das Reden von einer saturierten Mitte entweder problematisch oder gar zynisch erscheinen lassen. Manchmal sind es auch ganz alte Differenzen, die allem schönen Gerede von Globalisierung und IT-Gesellschaft zum Trotz ihre Bedeutung und Alltagsmacht noch nicht eingebüßt haben. Die "Blaumann-Grenze" in der Arbeitskultur gehört unstreitig dazu: Wer muss sich die Hände schmutzig machen, und wer nicht? Das Spiegelbild dieser mehr als nur symbolischen Grenzziehung ist die Differenzierung von Klassenkulturen außerhalb der Arbeitswelt, in den weiten Bereichen von Konsum und Freizeit.

Was der kürzlich verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu einst die "feinen Unterschiede" nannte, die (immer auch materiell mitbedingten) symbolischen Abstufungen des Gütererwerbs und Lebensstils, hat sich auch der deutschen Gesellschaft auf eine häufig gar nicht mehr so "feine" Weise bemächtigt.7 Man kauft seine Lebensmittel beim Discounter oder im italienischen Feinkostladen, man konsumiert regelmäßig die privaten Fernsehsender oder bleibt dem Kulturprogramm der öffentlich-rechtlichen treu. Die Opel-Gesellschaft hat sich von der Audi-Gesellschaft getrennt. Auch ohne selbst ein Soziologe oder Kulturphilosoph zu sein, kann jeder die Zeichensprache dieser Distinktionen lesen und sich mit seinem eigenen Verhalten an sie anpassen. Vorherrschend sind dabei jedenfalls die Dichotomien, die Zuordnung "nach unten" oder "nach oben", und gerade nicht die Konsolidierung eines allgemeinen Lebensstils der Mitte. Nicht zufällig wird in letzter Zeit, in verschiedenen Begriffen, immer wieder der Aufstieg einer neuen Klasse beschrieben, die sich durch ihre auffällige und aufwändige Lebensführung vom Zentrum der Gesellschaft abzusetzen versucht: Das sind die "Bobos" oder "Bourgeois Bohemians" bei David Brooks; das ist die neue "globale Klasse" bei Ralf Dahrendorf.8

- Man muss nur die aktuellen politischen Debatten verfolgen, um in seinem Zweifel an der Existenz einer starken und einflussreichen Mitte weiter bestärkt zu werden. Eine wichtige vergleichende Studie über das "Sozialkapital" in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Ungleichheiten auch in der Fähigkeit der Menschen, sich untereinander sozial zu "vernetzen" und von diesen Netzwerken zu profitieren, in Besorgnis erregender Weise ausgeprägt sind.9 Sicher kann man diejenigen Gruppen, die über ein hohes "Sozialkapital" verfügen, als die "Mitte" der Gesellschaft bezeichnen. Aber dann darf man auch nicht verschweigen, dass die anderen häufig die Marginalisierten sind, und man muss begründen, warum sich die SPD weniger diesen als jenen zuwenden sollte. Ähnliche Schlüsse lassen sich aus der Diskussion über das deutsche Bildungssystem nach der "PISA-Studie" ziehen: Gymnasium oder nicht Gymnasium, das ist hier die Frage. Im Gesundheitssystem sind diese Tendenzen noch nicht ganz so weit fortgeschritten, aber die Debatte über die "Zweiklassenmedizin", die zunehmende Spannung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung zeigt, dass es auch hier immer schwieriger wird, eine "Mitte" der Gesellschaft zu verteidigen und zu stabilisieren.

Eine Leitkultur der neuen Mitte?

Was folgt daraus? Nicht nur die SPD hat sich seit langem von der Vorstellung des Klassenkampfes ebenso verabschiedet wie von der Utopie einer möglichst egalitären Gesellschaft. Soziale Unterschiede, sofern sie auf Leistung beruhen, werden heute leichter akzeptiert als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Es mag Klassen geben, aber deshalb nicht unbedingt Klassenkampf.10 Wenn man die Unterschichten nicht unmittelbar auf das materielle Niveau der Mittelklasse heben kann, ist dann nicht schon viel gewonnen, wenn die weniger Privilegierten sich das Verhalten und den Lebensstil der "Mitte" zum Vorbild nehmen können, wenn der Lebensstil der Mitte eine soziale Orientierungsfunktion "nach unten" übernehmen kann? Genau das scheint ein zentrales Element in dem gegenwärtigen sozialdemokratischen Appell an die "neue", an die "moderne" Mitte zu sein. Die neuen, hoch qualifizierten Mittelschichten der Kommunikations- und Informationsgesellschaft bilden demnach eine dominante soziale Leitkultur aus, die wirkungsvoll auf die Unterschichten ausstrahlt und zu ihrer kulturellen Integration in die dynamische Mainstream-Gesellschaft beiträgt.

Ein solches Konzept kann sich sogar auf historische Vorbilder berufen. Die Lebensführung von Oberschichten oder gesellschaftlichen Eliten hat häufig ein Modell abgegeben, dem darunter stehende soziale Gruppen nachgeeifert haben: Die Nachahmung von Führungsschichten ist oft einfacher und verspricht schnelleren Erfolg als der Entwurf eines eigenen Kulturkonzepts, das sich in der Konkurrenz erst behaupten müsste. Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist das Verhältnis von Bürgertum und Proletariat in der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Die gesamte Arbeiterbewegung kann man als Versuch der Emulation bürgerlicher Werthorizonte und Verhaltensleitbilder verstehen, von den Bildungsbestrebungen der Arbeiterschaft bis zu ihrer Sehnsucht nach "bürgerlicher" Nahrung, Kleidung und Wohnung. Die viele Jahrzehnte lang geführte Debatte über die "Verbürgerlichung" der Arbeiterschaft brachte mindestens dies zum Ausdruck: nicht unbedingt die Realität von sozialem Aufstieg und sozialer Assimilation, aber doch das Wunschbild, den Fluchtpunkt von Idealen für die eigene Lebensführung.

Demokratisierung im Jogginganzug

Dieses Muster scheint in der Bundesrepublik bis weit in die siebziger Jahre prägend gewesen zu sein, aber seitdem hat es sich grundlegend gewandelt. Die Unterschichten, die immer weniger mit der alten Industriearbeiterklasse zur Deckung kommen, haben die bürgerlichen Verhaltensleitbilder weithin über Bord geworfen. Warum sollte man sonntags im guten Anzug auf die Straße gehen, wenn es im Jogginganzug bequemer ist? Man kann diese Veränderungen sogar positiv bewerten, indem man sie als einen Zugewinn an Demokratisierung und Pluralisierung, als einen Abbau quasi-ständischer Unterordnung unter sozial höher Stehende deutet. Aber das würde die Tatsache nur unterstreichen, dass von einer kulturellen Orientierungsfunktion der Mittelschichten inzwischen kaum noch die Rede sein kann. Gerade das moralische, das verantwortungsbewusste, das gemeinwohlorientierte Verhalten jenes Teils der Mittelschichten, auf den die SPD jetzt besonders reflektiert, ist ein zutiefst klassen- und milieuspezifisches Muster, das die Grenzen dieser Milieus offenbar immer schwerer statt immer leichter überschreiten kann. Das Verhalten der Konsumenten zum Beispiel im Gefolge der BSE-Krise hat es gezeigt: Soziale und ökologische Verantwortung auf dem Markt hat ihren Preis, den nicht alle zu zahlen bereit sind - und auch längst nicht alle zahlen können.

Man kann, im Gegenteil, eher das Gefühl haben, dass die soziokulturellen Diffusions- und Adaptionsprozesse heute anders herum verlaufen: nicht mehr "von oben nach unten", sondern "von unten nach oben". Denn wie groß sind die Teile der Mittelschichten, von den rot-grünen Sozialpädagogen und Studienräten einmal abgesehen, "denen die Gleichstellung der Geschlechter am Herzen liegt, aber auch die Integration kultureller und religiöser Minderheiten in unserem Lande und die faire Absicherung der sozial Schwachen"?11 Ein solches Loblied muss man wohl als Pfeifen im Walde verstehen angesichts der längst nicht mehr nur "konservativen" Debatten über Hedonismus und Ego-Mentalität der neuen Mittelschichten, die der nachwachsenden Generation Werte und Verantwortung zunehmend schwerer vermitteln können.

Welche politischen Konsequenzen man aus solchen Diagnosen zieht, wird umstritten bleiben, zwischen linken und rechten Parteien ebenso wie innerhalb der Sozialdemokratie. Aber wenn die Politik auf der Grundlage realitätsgerechter Analysen unserer Gesellschaft gemacht würde, statt sich in Vernebelungsrhetorik zu hüllen, wäre schon viel gewonnen. Anthony Giddens hat kürzlich die "Frage der sozialen Ungleichheit" wieder aufgeworden.12 Gar so weit kann der Weg von Giddens über Tony Blair zu Gerhard Schröder doch auch im Jahre 2002 nicht geworden sein?


Anmerkungen

1 Rede des SPD-Parteivorsitzenden, Bundeskanzler Gerhard Schröder, anlässlich des Kongresses "Die Mitte in Deutschland" am 20. Februar 2002 in Berlin.
2 Matthias Machnig, Kulturkampf aus der Kreidekiste, in: Berliner Republik 2/2002, hier S. 6f.
3 Ebd., S. 7.
4 Vgl. etwa Peter Spahn, Mittelschicht und Polisbildung, Frankfurt 1977.
5 Vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000.
6 Vgl. Heinrich August Winkler, Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Bedingungen der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus, Göttingen 1979, S. 205-217.
7 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982.
8 David Brooks, Bobos in Paradise, The New Upper Class and How They Got There, New York 2000; Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, München 2002, besonders S. 20-24.
9 Robert D. Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
10 Vgl. z.B. Ralf Dahrendorf, Was von Dauer ist. Klassen ohne Kampf, Kampf ohne Klassen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. März 2002, S. 8.
11 So Machnig, Kulturkampf aus der Kreidekiste (Anm. 2), S. 7.
12 Anthony Giddens, Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt 2001.

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