Eine intellektuelle Kopfgeburt?

Die Debatten um den Stabilitätspakt und das Scheitern des Brüsseler Gipfels haben die Europäische Union in eine der schwersten Krisen ihrer Geschichte gestürzt. Macht- und Interessenkonflikte etwa in der Frage der Stimmenverteilung im Rat sind evident, aber überbrückbar. Sie haben in den vergangenen Monaten ein ernst zu nehmendes, grundsätzliches Problem in den Hintergrund gedrängt: den Zustand der öffentlichen Kommunikation in und über Europa

Ende Mai letzten Jahres erklärte Jürgen Habermas den Anti-Kriegs-Protest auf Europas Straßen zum "Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit". Dieser Essay nimmt diese Annahme und die aktuellen Entwicklungen in der EU zum Anlass, sich dem Phänomen der europäischen Öffentlichkeit zu nähern.

Es ist gerade einmal etwas über ein halbes Jahr her, dass sich eine Gruppe Intellektueller überwiegend westeuropäischer Provenienz in einer "konzertierten transatlantischen Aktion" zu Wort meldete, um über die Veränderung des geopolitischen Gleichgewichts nach dem Ende des Irakkrieges zu räsonieren. Auf Initiative von Jürgen Habermas publizierten Adolf Muschg in der Neuen Zürcher Zeitung, Umberto Eco in La Repubblica, Gianni Vattimo in La Stampa, Fernando Savater in El País, Richard Rorty in der Süddeutschen Zeitung sowie Jacques Derrida und Jürgen Habermas sowohl in Libération als auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Vordergründig und den Inhalten nach ging es Habermas und seinen Mitstreitern, deren Beiträge trotz unterschiedlicher Nuancen einen Leitgedanken teilen, um die Perspektiven der EU nach dem Irakkrieg und die Rolle Europas in der "neuen Weltordnung". In (selbst-)bewusster Abgrenzung zum "hegemonialen Unilateralismus" der Vereinigten Staaten gelte es, so Habermas in dem von seinem philosophischen Gegenspieler Derrida nur mit unterzeichneten Text "Unsere Erneuerung", Europas Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die "Wagschale" zu werfen und - mittels Mehrheitsentscheidungen - auch in Fragen der Außenpolitik gemeinschaftlich aufzutreten. Den Weg voran solle ein um Frankreich und Deutschland herum versammeltes avantgardistisches "Kerneuropa" der Gründungsstaaten weisen. Um ein Auseinanderfallen der EU zu verhindern, müssten diese Länder "jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der ‚verstärkten Zusammenarbeit′ Gebrauch machen, um in einem ‚Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten‘ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen", so Habermas. Davon werde "eine Sogwirkung" ausgehen, "der sich die anderen Mitglieder - zunächst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen können."

Viel ist seitdem geschehen. Wenige Monate nach dem Aufruf ist wieder von Kerneuropa die Rede, doch haben sich die Vorzeichen dramatisch verändert. Zunächst der Machtpoker um den Stabilitätspakt, dann das Scheitern der Verhandlungen über den Verfassungsentwurf: Das EU-Projekt steckt in der Krise und die Kerneuropa-Idee hat sich von der avantgardistischen Vision zum realen (Schreckens-)Szenario gewandelt. Interessant ist das Habermassche Projekt jedoch nicht allein - vielleicht sogar weniger - wegen der aus der europäischen Integrationsgeschichte hinlänglich bekannten Kerneuropa-These (man denke nur an das provokante Schäuble-Lamers-Papier vom September 1994 oder Joschka Fischers Rede an der Humboldt Universität im Mai 2000), sondern wegen seiner Vorstellung von Öffentlichkeit jenseits des Nationalstaats.

"Wir halten es heute für notwendig und dringend, dass ungeachtet der Auseinandersetzungen, die uns in der Vergangenheit getrennt haben mögen, deutsche und französische Philosophen ihre Stimme gemeinsam erheben", schicken Derrida und Habermas ihrer Ansprache voraus. Soll heißen: Dieser "europaweit angezettelte Diskurs" resultiert aus augenblicklicher Bestürzung und ist ohne das Vorgehen der Amerikaner einerseits und die europäische Zerrissenheit während der Irakkrise andererseits nicht denkbar.

Habermas′ Antwort auf diese Misere kommt einer ideenpolitischen Flucht nach vorne gleich. Er belässt es nicht einfach bei der Empfehlung, das "europäische Heil" (Financial Times Deutschland) in einem Kerneuropa zu suchen, sondern nimmt den disparaten Zustand der Staatenunion zum Anlass, die Geburt einer Bürgerunion mit einem Selbstverständnis zu postulieren, das mehr sei als einfach nur "westlich". Die notwendige attraktive "Vision" für diese "Wiederbegründung" Europas, so Habermas, falle freilich "nicht vom Himmel", sondern könne für den Moment nur "aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit" geboren werden. Doch scheint er, Säkularisierung, sozialen Ausgleich und Einhegung des Marktgeschehens, Ökologie und Technikskepsis sowie der Abkehr vom Recht des Stärkeren nennend, der Ansicht zu sein, dass diese europäische Identität in ihren Grundzügen bereits vorhanden ist. "Europäisch" zu sein, heißt demzufolge unterm Strich vor allem: nicht amerikanisch zu sein.

Die Öffentlichkeit als Demokratiefaktor

Konstitutives Element der anvisierten Union der Bürger ist für Habermas eine europäische Öffentlichkeit. Dies offenbart ein von ihm als Basis seiner Überlegungen genanntes Datum. Es ist der 15. Februar vergangenen Jahres, der Tag der großen Anti-Kriegs-Demonstrationen in Europa, von denen Habermas glaubt, sie würden "als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichte eingehen". Das Scheitern der Staatenunion, der Moment, an dem die Zerrissenheit Europas und die fatale Schwäche der supranationalen Gemeinschaft offen zu Tage trat, als Genese einer die Union der Bürger tragenden europäischen Öffentlichkeit - ein Geniestreich, möchte man meinen!

Doch handelte es sich bei den lauten Anti-Kriegs-Protesten wirklich um Öffentlichkeit? Oder manifestiert sich in dieser Annahme nur Habermas′ Sehnsucht nach einer von einer politischen Öffentlichkeit getragenen europäischen Wertegemeinschaft, die er dann - frei nach dem Prinzip shrink to fit - in einem Kerneuropa ohne die renitenten Osteuropäer zu finden glaubt? Was kann man sich überhaupt unter einer europäischen Öffentlichkeit vorstellen?

Die Frage nach dem Zustand öffentlicher Kommunikation in und über Europa stellt sich im Jahre 2004 mit größerer Dringlichkeit denn je. Die "harten" macht- und interessengeleiteten Differenzen der letzten Monate (Stimmenverteilung im Rat, Finanzen et cetera) sind evident - und überbrückbar. Die eigentlichen Probleme der EU liegen tiefer. Sollten die Differenzen in der Verfassungsfrage aus dem Weg geräumt sein, werden die Bürger in über einem halben Dutzend Länder auch zu den Urnen gebeten, um direkt über den Entwurf abzustimmen. Somit hängen die Konstitutionalisierung Europas und die Zukunft europäischen Regierens insgesamt also ganz handfest davon ab, inwieweit es gelingt, die Bürger für diesen Prozess zu gewinnen.

Nicht zuletzt Habermas hat überzeugend herausgearbeitet, dass Demokratie nicht nur Methoden zur Aggregation individueller Präferenzen voraussetzt, sondern auch Diskussion, Argumentation, die Artikulation und das Testen von Meinungen umfassen sollte, kurz: öffentliche Deliberation. Willensbildung und Entscheidungsfindung sind nur dann demokratisch, wenn ihnen öffentliche Auseinandersetzung zu Grunde liegt. Da die Legitimität und Effektivität moderner Demokratien auf der Vermittlung zwischen den politischen Eliten und der Gesellschaft basiert, gilt Öffentlichkeit allgemein als Demokratiefaktor. Sie konstituiert jenen intermediären Raum, in dem die Regierten ihre Bedürfnisse artikulieren und die Regierenden versuchen, ihr politisches Handeln an den Willen der Regierten rückzukoppeln. Außerdem fungiert sie als notwendiges Gegengewicht zum Regierungshandeln.

Sowohl in der europapolitischen Rhetorik als auch in der Wissenschaft hat der Öffentlichkeitsbegriff seit geraumer Zeit Konjunktur. Lange wurde die Europäische Union technokratisch und aus ökonomischen Imperativen heraus begründet. Infolgedessen - und dabei handelte es sich um einen konstanten und in der historischen Rückschau vielleicht auch notwendigen Begleitumstand der europäischen Einigungsgeschichte - hinkte der öffentliche Diskurs in den Mitgliedstaaten den vollendeten Tatsachen europäischer Integration hinterher.

Spätestens jedoch seit der permissive Konsens zu Gunsten des Integrationsprojekts zusammenbrach und sich die Bürger zahlreicher Mitgliedstaaten in Folge des Maastrichtvertrags gegen ihre scheinbar abgehobenen Politikeliten erhoben, gelten Aufmerksamkeit und Anteilnahme der Öffentlichkeit als Voraussetzung für den weiteren Erfolg des Integrationsprozesses. Diese Erkenntnis schien mit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 auch auf politischer Ebene (zumindest rhetorische) Anerkennung gefunden zu haben: Eine "umfassende Debatte" mit Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wie auch der Öffentlichkeit insgesamt solle es geben, hieß es in der Schlusserklärung der Staats- und Regierungschefs.

Die Kluft zwischen Europa und seinen Bürgern

Die EU-Kommission schließlich sprach sich 2001 in ihrem Weißbuch "Europäisches Regieren", einem wegen seiner "technokratischen Attitüde" (Erik Oddavar Eriksen) weitgehend folgenlosen Rohrkrepierer, für mehr zivilgesellschaftliche Beteiligung aus und konzedierte, dass von Seiten der EU aktiver mit den nationalen Bürgerschaften über Europafragen kommuniziert werden müsse. "Alle demokratischen Institutionen und alle Volksvertreter müssen sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene den Versuch unternehmen, die Kluft zwischen der Union und ihren Bürgern zu überbrücken." Und: "Die Menschen müssen das politische Projekt hinter der Union besser erkennen können."

Dieser Tatsache waren sich auch die Regierungschefs bewusst, als sie beim Gipfel in Laeken den Konvent zur Zukunft Europas ins Leben riefen, dessen Entwurf für eine europäische Verfassung nun vorerst auf Eis liegt. Seine Zusammensetzung, die Offenheit der Debatte und der Zugang zu Informationen sollten den Konstitutionalisierungsprozess in die nationalen Öffentlichkeiten tragen und Debatten generieren, in Folge derer die Unterstützung für die Verfassung steigen werde.

An hehren Worten fehlt es also nicht. Ganz im Gegenteil. Denn mit dem inflationären Gebrauch des Öffentlichkeitsbegriffs verschwimmen auch seine Konturen. Zu fragen ist: Welche Form von Öffentlichkeit entspricht überhaupt dem sich traditionellen Kategorisierungen entziehenden Charakter (weder Staat noch internationale Organisation) der europäischen Mehrebenendemokratie? Welche ist erforderlich, um Informiertheit und Partizipation ihrer Bürger zu ermöglichen?

Im akademischen wie publizistischen Diskurs ist die Annahme weit verbreitet, dass die EU unter einem "Öffentlichkeitsdefizit" leidet. Der europäische Einigungsprozess, so die Annahme, realisiere sich in zwei Geschwindigkeiten: Während die politischen, ökonomischen und juristischen Sphären zusehends konvergierten, blieben die Kommunikationsstrukturen national fragmentiert. Europas Öffentlichkeiten, so die Vermutung, reden nicht miteinander. Von gegenseitiger Verständigung seiner Bürger keine Spur.

Vor allem angesichts ihrer wachsenden politischen Rolle ist klar, dass die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen in der EU von einem Mindestmaß an politischer Öffentlichkeit abhängt. Doch die Meinungen darüber, wie gravierend das Öffentlichkeitsdefizit der EU sei und ob es überhaupt behoben werden könne, gehen auseinander, was nicht zuletzt auf unterschiedliche normative Prämissen zurückzuführen ist. Grundsätzlich lässt sich zwischen zwei im Raum stehenden Verständnissen von Öffentlichkeit unterscheiden: Die Vorstellung einer "einheitlichen europäischen Öffentlichkeit" einerseits und das Model einer "Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten" andererseits.

"Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft"

Das Konzept einer einheitlichen europäischen Öffentlichkeit setzt die Kongruenz des kommunikativen und des politischen Raumes voraus. Eine "wirkliche" europäische Öffentlichkeit bedarf demnach sowohl eines einheitlichen, alle Mitgliedsstaaten umfassenden Mediensystems als auch eines sprachlich und kulturell homogenen Publikums. Da diese Bedingungen alleine schon angesichts der sprachlichen Heterogenität in der EU nicht erfüllt sind und von einem Demos im klassischen, staatszentrierten Sinne schon gar keine Rede sein kann, ist es, folgt man zum Beispiel Dieter Grimm oder Peter Graf Kielmansegg, um die Aussichten für eine unmittelbare "Kommunikationsgemeinschaft" schlecht bestellt. "Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, weil Europa ein vielsprachiger Kontinent ist - das banalste Faktum ist zugleich das elementarste", so Kielmannsegg.

Diese Diagnose hat weit reichende Konsequenzen, nicht zuletzt für die Aussichten von Identität und Demokratie in der Union. Es sind "Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kollektive Identität sich herausbildet, sich stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa, ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft". Da es "auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen Diskurs geben wird", sieht auch Dieter Grimm das Projekt einer Demokratisierung Europas zum Scheitern verurteilt. Europäische Entscheidungsprozesse stünden "nicht in derselben Weise unter Publikumsbeobachtung wie nationale". "In ihrem Kern", resümieren die beiden Journalisten Andreas Oldag und Hans-Martin Tillack in ihrem Buch Raumschiff Brüssel angesichts des Mangels an Information und Diskurs "ist die EU ein vordemokratisches Gebilde geblieben - die Bürger bleiben außen vor".

Gewiss: Wer den Nationalstaat als Norm für die Suche nach einer einheitlichen, fest umrissenen europäischen Öffentlichkeit erhebt, landet unweigerlich in der Sackgasse. Wo in einer EU mit bald 25 Mitgliedern sind die Medien, wo die Akteure und wo das eine kulturelle und sprachlich homogene Publikum, die sich über den Raum erstrecken, über den die Union wirtschaftlich und politisch Einfluss nimmt? Es gibt - folgt man diesen Kriterien - keinen Kommunikationsraum, dessen Grenzen mit denen des vom supranationalen Regieren betroffenen sozialen Raums übereinstimmen, sondern allenfalls eine Experten-Öffentlichkeit der Berufseuropäer aus Wirtschaft und Politik, die sich über europaweit publizierte Elitemedien wie Financial Times und Economist informieren.

Von oben herab, mittels einer europäischen Medienpolitik herstellbar ist eine Ländergrenzen überschreitende Öffentlichkeit schon gar nicht. Genauso wie klar ist, dass sich nationalstaatliche Identitäten nicht durch Hymne, Flagge und Feiertag zu einer europäischen Identität verschmelzen lassen, wird die EU auf absehbare Zeit aus nationalen Öffentlichkeiten bestehen.

Aber bedeutet das, dass Debatten über das Gemeinwohl betreffende Themen über Sprach-, Mediensystem- und Ländergrenzen hinweg unmöglich sind? Glaubt man einer stetig wachsenden Gruppe vor allem deutscher Wissenschaftler, lautet die Antwort klar: Nein. Statt das Vorhandensein transnationaler Kommunikation auf EU-Ebene apodiktisch auszuschließen, geht diese Forschungsrichtung davon aus, dass sich Öffentlichkeit in Europa als Prozess der Europäisierung bestehender Öffentlichkeiten konstituiert. Sich dem Phänomen europäischer Massenkommunikation nicht nur normativ sondern vor allem empirisch nähernd vertreten zum Beispiel die Berliner Soziologen Klaus Eder und Cathleen Kantner die Position, dass sich eine Öffentlichkeit in Europa über die transnationale Verschränkung nationaler Debatten bildet. Von einer EU-weiten Öffentlichkeit kann dieser (erstmals 1996 von Habermas selbst in seinem Buch Die Einbeziehung des Anderen entwickelten) Argumentation folgend dann die Rede sein, wenn die Medien der Mitgliedsstaaten "die gleichen europäischen und europäisierten Themen in Europa im Großen und Ganzen zur gleichen Zeit und unter gleichen inhaltlichen Relevanzgesichtspunkten" diskutieren. Denn auch wenn sie über ihre nationalen Zeitungen und Fernsehsender an der Diskussion teilnehmen, so die Annahme, teilen die Unionsbürger durchaus transnational ein gewisses Maß an wechselseitiger Informiertheit.

Umstritten ist allerdings, ob neben dieser Themenkonvergenz nicht zusätzliche Kriterien (wie die Bewertung der europaweit diskutierten Themen unter einer europäischen Perspektive, wechselseitige Beobachtung der nationalen Arenen und gegenseitige Bezugnahme in der Berichterstattung) erfüllt werden müssen, damit von Öffentlichkeit die Rede sein kann. Obwohl die Wissenschaft erst in den letzten Jahren angefangen hat, sich dem Phänomen empirisch zu widmen, gibt es Anzeichen für einen entstehenden europäischen Kommunikationsraum: Genuin europäische Themen wie die Einführung des Euro, der Umgang mit BSE oder der Skandal um die Santer-Kommission produzieren nicht nur Sprachgrenzen überschreitende kommunikative Verdichtungen. Sie zeugen auch (wie zum Beispiel die Untersuchung der Reaktionen auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich durch ein Forscherteam um Thomas Risse deutlich macht) von ähnlichen Interpretationsmustern und Images der EU - die Union als Wertegemeinschaft - in den nationalen Öffentlichkeiten.

Es spricht einiges für eine solche Rekontextualisierung des Öffentlichkeitskonzepts, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie dem Mehrebenencharakter der EU und dem komplexen Spannungsverhältnis von lokaler, nationaler und supranationaler Identitätsbildung in Europa näher kommt als das nationalstaatlich geprägte Modell. Zudem besteht Öffentlichkeit schon auf nationalstaatlicher Ebene aus widersprüchlichen, heterogenen Kräftefeldern. So werden selbst multikulturelle und linguistisch segmentierte Gesellschaften wie die Schweiz oder Kanada den normativ überfrachteten Maßstäben eines nationalstaatlichen Öffentlichkeitsverständnisses nicht gerecht - und gelten trotzdem als konsolidierte Demokratien und gesamtstaatliche Öffentlichkeiten.

Auch ohne ein Volk im klassischen, staatszentrierten Sinne kann also Öffentlichkeit entstehen. Voraussetzung sind weder eine lingua franca noch europäische Medien, sondern europäische Themen als "relevante Gegenstände politischer Kommunikation in den lokalen, regionalen und nationalen öffentlichen Arenen" (Klaus Eder und Cathleen Kantner).

Warum es an Debatte und Anteilnahme mangelt

Betrachtet man Habermas′ These von der Geburt einer europäischen Öffentlichkeit aus den massenhaften Protesten gegen die Regierung Bush im Lichte dieser pluralistischen Neudefinition des Öffentlichkeitsbegriffs ergeben sich gewichtige Einwände. Vernachlässigenswert ist das Faktum, dass es sich bei den Demonstrationen keineswegs um ein genuin europäisches sondern um ein globales Phänomen handelte. Es stellt sich aber auch die gravierende Frage, inwieweit der grundsätzliche, nicht selten ins Weltanschauliche geratende Charakter des Konflikts - die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen gerechtfertigt ist - es erlaubt, Rückschlüsse auf den Zustand öffentlicher Kommunikation in Europa zu ziehen.

Jürgen Habermas, der Chronist bürgerlicher Öffentlichkeit und Vorreiter postnationalen Denkens, hat mit überzeugenden Argumenten der Annahme widersprochen, dass nur der Nationalstaat Kraft seiner identitätstiftenden Rolle als Wohlfahrts- und Kulturstaat die Bürger sozial integrieren könne. Aber wenn er nun dem Tag, an dem acht europäische Regierungen ihre Solidarität mit George W. Bush in einem Brief bekundeten, den Protest der europäischen Bevölkerungen gegenüberstellt, und diesen als eine Art volonté générale bemüht, auf den sich nachhaltig Politik gründen könne, scheint es, als würde auch er in den Kategorien eines vermeintlich von einem Willen durchströmten Nationalstaats denken, wenn er von Europa spricht. Gute Europäer demonstrieren gegen Bush, schlechte unterstützen ihn?

Indem Habermas den Gegensatz zu den Vereinigten Staaten zum konstitutiven Element einer europäischen Identität erhebt, sagt er in jedem Fall mehr über den antiamerikanischen Gestus dieser "Wiedergeburt Europas", als über die Öffentlichkeit, die er zu beschreiben sucht. Denn die vereinte Protestöffentlichkeit, der "Konsens des Marschierens" (Frankfurter Allgemeine), während des Irakkriegs, trug vielleicht zur temporären Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten bei - zwingend notwendig war sie jedoch nicht. Umgekehrt sind divergierende nationale Meinungen kein "Beleg für scheiternde Kommunikation", so Cathleen Kantner. Ganz im Gegenteil: Konflikte, Widerstreit von Meinungen und Dissens - so die empirischen Ergebnisse jüngerer Forschung - können genauso als Indikatoren einer emergenten Öffentlichkeit verstanden werden, wie die von Habermas angeführten pazifistischen Aufwallungen vom Februar 2003.

So wichtig, ja überfällig Habermas′ Initiative war, so unverständlich ist es, dass er zum Beispiel die Befindlichkeiten der neuen Beitrittsstaaten kaum berücksichtigt. Denn auch sie gehören dazu. Klammert man unliebsame und unbequeme Positionen aus oder nimmt sie nicht ernst, muss man sich über unliebsame Überraschungen wie das Scheitern des Brüsseler Gipfels im Dezember nicht wundern.

Die größte Gefahr ist die Gleichgültigkeit

Nochmals: Habermas′ Versuch, eine grenzüberschreitende und vielsprachige Debatte über die Identität Europas und die Perspektiven der EU nach dem Irakkrieg anzustoßen, war verdienstvoll. Ganz ihrem Berufsethos als öffentliche Intellektuelle verpflichtet, leisteten er und seine sechs Mitstreiter ihren Beitrag zu einer europäischen Sinnstiftung. Sie stehen somit in der noch jungen Tradition einer transnationalen Diskurskultur, für die Joschka Fischers Rede an der Berliner Humboldt-Universität die Initialzündung war. Dennoch: Bislang handelt es sich dabei vor allem um eine Debatte der Eliten in der Öffentlichkeit und vor deren Augen. Aus der Debatte in der Öffentlichkeit muss nun erst die öffentliche Debatte werden, die die Regierungschefs in Laeken anstoßen wollten.

Solch eine Debatte darf weder Dissens leugnen, noch konflikthafte Auseinandersetzungen scheuen. In der Akzeptanz, dem Austausch und der Neuverhandlung solcher Differenzen besteht eine zentrale Voraussetzung für demokratische Öffentlichkeit. "Wir brauchen den Streit um Europas Vergangenheit und Zukunft; die größte Gefahr ist die Gleichgültigkeit der europäischen Bürger", schreibt der Historiker Hagen Schulze. Das gilt vor allem für die Verfassung der EU. Schon vor einigen Jahren argumentierte der in Oxford lehrende Politologe Larry Siedentop in seinem Buch Demokratie in Europa, dass eine Debatte über die Ziele, Grenzen und Instrumente der europäischen Integration schon deshalb unerlässlich sei, um den Völkern Europas "wieder Anteil an ihrem eigenen Schicksal" zu geben.

Ohne Verständigung über die EU, über das quo vadis und das wie auch immer definierte europäische Gemeinwohl wird auch eine Verfassung nicht zur erhofften Legitimationsquelle werden. Diese kann aber, wie es Jürgen Habermas in seinem Buch Die postnationale Konstellation treffend ausdrückt, "erst dann funktionieren, wenn es den durch sie ... angebahnten demokratischen Prozess tatsächlich geben wird".

Doch genau daran, an Debatte und Anteilnahme, mangelt es in den Mitglieds- und auch in den Beitrittsländern. Auch dem Verfassungskonvent gelang es nicht, den eingeschränkten Kommunikationsraum europäischer Eliten zu überschreiten und das Interesse der nationalen Massenöffentlichkeiten zu gewinnen. Eine Eurobarometer-Studie ergab letztes Jahr, dass nur 45 Prozent der europäischen Bürger überhaupt von diesem bewusst deliberativ konzipierten Gremium gehört hatten. Ein signifikantes Informationsdefizit begleitet auch den Erweiterungsprozess. Nur 24 Prozent fühlten sich über die bislang größte EU-Erweiterung in der Geschichte gut oder sehr gut informiert.

Ein Teil des Problems ist, dass den Institutionen und Entscheidungsprozessen der EU in den Medien bei weitem nicht die Aufmerksamkeit zu Teil wird, die ihnen gebührt (sofern es sich nicht um nationale Gemüter bewegende Probleme wie die Einführung des Euro oder blaue Briefe aus Brüssel handelt). Dies gilt vor allem für das beinahe öffentlichkeitsabstinente Europäische Parlament. Man muss dem italienischen Premier Berlusconi schon fast dankbar sein für seinen Ausfall gegenüber dem deutschen Europaparlamentarier Martin Schulz, bescherte er doch dem EU-Parlament so eine wahrscheinlich nie da gewesene Präsenz in den TV-Nachrichtensendungen der Mitgliedsstaaten.

Europa ist in den Köpfen der Bürger angekommen - die EU nicht

Dazu kommt das Paradox, dass sich in den europäischen Bürgerschaften zunehmend ein Bewusstsein für Europa und die Tragweite des europäischen Einigungsprojekts bildet, der Transfer zur EU allerdings nicht funktioniert hat. So stehen Relevanz und Leistung der EU in einem krassen Missverhältnis zu ihrer Wahrnehmung. In seiner berühmten Humboldt-Rede fasste es Außenminister Fischer zutreffend zusammen: Die EU gelte "als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen Eurokratie in Brüssel und bestenfalls als langweilig, schlimmstenfalls aber als gefährlich".

In der Tat wird die EU als eine vorwiegend die Binnenmarktintegration betreffende Angelegenheit zwischen Staaten verstanden, aber nicht selbst als Gemeinwesen, das die Möglichkeit und Notwendigkeit der Teilhabe und Identifikation mit sich bringt. Während Europa dank des Schengener Abkommens, des Euros, des europäischen Passes sowie diverser Schüler- und Studentenaustauschprogramme in den Köpfen der Bürger angekommen ist, verhält es sich mit der EU anders: Ihre Relevanz im Alltag wird nicht erfasst; ihre Entscheidungen scheinen geradewegs aus dem Nichts zu kommen; was über sie bekannt ist, geht an den Bedürfnissen der Bürger vorbei und ruft nicht selten Protest hervor.

Wie kann die "kognitive Lücke" zwischen der EU und ihren Bürgern geschlossen werden? Wie lässt sich die Alleinzuständigkeit politischer professionals und Eliten sprengen, für die auch Habermas′ Intellektuellen-Aufruf symptomatisch ist?

Die Strukturen öffentlicher Massenkommunikation und die Praktiken demokratischer Politik bedingen sich wechselseitig. Voraussetzung für Öffentlichkeit sind Politisierung und Polarisierung. Doch vor allem die schwer durchschaubaren Entscheidungsstrukturen und das Fehlen von Kernmerkmalen innerstaatlicher Demokratie (wie der Dauerstreit zwischen Regierung und Opposition) in Europa erschweren eine der nationalen Politik ähnliche Mobilisierung der öffentlichen Meinung in Europa. Das vielbeklagte Defizit an europäischer Öffentlichkeit ist demnach auch ein Reflex des europäischen Transparenz- und Demokratiedefizits. Wie sich die europäische Öffentlichkeit entwickelt, hängt auch von den direkten und indirekten Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die für sie relevanten Entscheidungen ab. "Interessanterweise", schreibt der Soziologe Jürgen Gerhards, "war in den Momenten, in denen die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürger über europäische Belange groß waren, wie in den Ländern, in denen Referenden zum Maastrichter Vertrag abgehalten wurden, auch die öffentliche Debatte über Europa groß."

Europäische Öffentlichkeit wird also in dem Maße entstehen, in dem die EU als ein eigenständiges politisches System mit klar definierten Kompetenzen und verständlichen Strukturen (Exekutive, Legislative, Judikative) erkennbar wird. Je größer die Entscheidungsmacht der Bürger - durch direkte Wahlen entscheidender Akteure, Stärkung des Parlaments und individuelle Partizipationsmöglichkeiten - desto größer der öffentliche Rechtfertigungsdruck auf die handelnden Akteure. Damit entsteht politischer Wettbewerb, der wiederum öffentliches Interesse, Medienaufmerksamkeit und Meinungsbildung generiert. Obwohl es nicht gelungen ist, die europäischen Entscheidungsstrukturen signifikant den nationalen anzupassen, bringt der Verfassungsentwurf hier Besserung, indem er zum Beispiel das Parlament aufwertet und sicherstellt, dass der Rat öffentlich zusammentritt.

Die Entstehung wirklich europäischer Parteien ist ferne Zukunftsmusik und angesichts der bestehenden Verflechtung europäischer und nationalstaatlicher politischer Ordnungen auch nicht zwingend erforderlich. Schon mit einer Verarbeitung des europäischen Integrationsprozesses durch nationale Parteien, die dann in wirklich europapolitischen Kampagnen münden würde, wäre etwas gewonnen. Doch obwohl es an europäischen Themen nicht mangelt, wird wohl der bevorstehende Europawahlkampf wie seine Vorgänger von nationalen Themen dominiert werden.

Von der Europaagonie, von der passiven Hinnahme zur aktiven Identifizierung der Unionsbürger mit dem Einigungsprojekt ist es noch ein weiter Weg. Angesichts der zukünftigen Größe und Heterogenität Europas mehren sich die Chancen dafür nicht. Die EU bedarf weder eines "gemeinsamen" europäischen Willens noch einer einheitlichen Öffentlichkeit, sondern einer transnationalen Debattenkultur. Die Diskussion über eine weitere Demokratisierung der EU darf nicht beim Geschacher um Stimmrechte und Institutionen stehen bleiben.

Literatur

 


Klaus Eder und Cathleen Kantner, Interdiskursivität in der europäischen Öffentlichkeit, in: Berliner Debatte INITIAL 13 (2002), S. 79-88
Jürgen Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 2 (1993), S. 96-110
Jürgen Gerhards, Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Maurizio Bach (Hrsg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften: Sonderheft 40 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie , Opladen 2000, S. 277-305
Jürgen Gerhards, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Demokratietheorien, in: Hartmut Kaelble, Martin Krisch und Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identtäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 135-158
Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? in: Juristenzeitung, 50 (1995) 12, S. 581-591
Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1999
Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998
Peter Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Markus Jachtenfuchs and Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 47-72
Andreas Oldag und Hans-Martin Tillack, Raumschiff Brüssel, Berlin 2003
Thomas Risse, Zur Debatte um die (Nicht-)Existenz einer europäischen Öffentlichkeit: Was wir wissen, und wie es zu interpretieren ist, in: Berliner Debatte INITIAL 13 (2002), S. 15-23
Thomas Risse, Marianne van de Steeg und Valentin Rauer, The EU as a Political Community: A Media Analysis of the „Haider Debate“ in the European Union. Paper presented to the Annual Meeting of the European Union Studies Association (EUSA), Nashville TN, March 27-30, 2003

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