Eine gefährliche Idee

Die Agenda 2010 hat das deutsche "Geschäftsmodell" verändert. Unser Land ist nun davon abhängig, gigantische Exportüberschüsse zu erwirtschaften. Das wird nicht mehr lange gut gehen

Freiheit gibt es nicht für Menschen, die arm sind. Denn Freiheit heißt nicht nur, dass man frei seine Meinung sagen darf. Freiheit bedeutet auch, dass man wählen kann, wie man das eigene Leben gestaltet. Doch diese Wahlfreiheit wird Hartz-IV-Empfängern versagt. Wer 399 Euro im Monat zum Leben hat, der erfährt nur noch Zwang – den Zwang zum permanenten Sparen.

Mit 399 Euro monatlich ist es nicht möglich, ins Kino zu gehen, ein Restaurant aufzusuchen oder sich ein Haustier zu leisten. 399 Euro sind das Symbol für die permanente Entwürdigung. Die Wohlfahrtsverbände haben längst vorgerechnet, dass 485 Euro nötig wären, um wenigstens ein bisschen Gestaltung des persönlichen Lebens zu ermöglichen. Man sollte ihnen glauben, denn sie sind die Experten für die Armut.

Hartz IV ist vor genau zehn Jahren in Kraft ge­treten – und in diesem Jahrzehnt wurde viel experimentiert. Mehr als 70 Mal ist das Gesetz geändert worden, doch die zentralen Mängel blieben. Die Agenda 2010 wurde vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgestellt, doch es wäre falsch, nur die Sozialdemokraten verantwortlich zu machen. Alle Parteien, die damals im Parlament saßen, haben zugestimmt. SPD und Grüne stellten die Regierung, Union und FDP hatten die Mehrheit im Bundesrat. Vielleicht erklärt dieser Konsens von damals, warum die „Agenda 2010“ bis heute so viel Zustimmung erfährt. Noch immer behaupten die allermeisten Politiker, dass Hartz IV viele neue Arbeitsplätze geschaffen hätte. Doch das ist falsch.

Was stimmt: Mehr Menschen arbeiten. Was nicht stimmt: Dass mehr gearbeitet wird. Stattdessen wurde die gleiche Zahl an Arbeitsstunden auf mehr Erwerbstätige verteilt, indem Minijobs, Leiharbeit und Teilzeitstellen explodierten. Im Jahr 2000 wurden in Deutschland 57,9 Milliarden Stunden gearbeitet; 2013 waren es 58 Milliarden Stunden. Da muss man schon mit der Lupe suchen, um einen wesentlichen Unterschied auszumachen.

Für diese minimale Differenz an Arbeitsstunden wurden jedoch horrende soziale Kosten akzeptiert. Nicht nur die Arbeitslosen litten, die pro Kopf weniger Geld bekamen, wie jüngst eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung noch einmal nachgerechnet hat. Die gesamte Gesellschaft wurde von einer neuen Unruhe erfasst. Jeder Beschäftigte wusste nun, dass er nach einem Jahr ohne Job in die Hartz-IV-Armut abrutschen würde. Das machte die Belegschaften erpressbar, auch niedrige Löhne zu akzeptieren. Juristisch ist die Mitbestimmung noch verankert, aber faktisch wurden die Gewerkschaften entmachtet. Dies zeigen die nackten Zahlen: 2013 lagen die deutschen Reallöhne noch immer um 0,7 Prozent niedriger als im Jahr 2000. Profitiert haben nur die Kapitaleigner und Fabrikbesitzer: Seit der Jahrtausendwende sind ihre realen Einkommen um etwa 30 Prozent gestiegen.

Doch nicht nur die soziale Ungleichheit nahm zu, auch das deutsche „Geschäftsmodell“ hat sich verändert. Die Bundesrepublik ist strukturell davon abhängig geworden, gigantische Exportüberschüsse von derzeit 200 Milliarden Euro im Jahr einzufahren. Da die Reallöhne nicht stiegen, nahm auch die Binnennachfrage in Deutschland nicht zu. Wachstum konnte es also nur geben, wenn die Ausfuhren zulegten. Deutsche Firmen hatten dabei keine Mühe, ihre Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu schlagen: Da die Reallöhne nicht stiegen, blieben auch die Kosten für die Unternehmen niedrig. Hierzulande hält sich hartnäckig die Legende, dass die deutschen Waren allein durch ihre Qualität bestechen. Doch die Wahrheit ist, dass die Deutschen gezielt auf Lohndumping gesetzt haben.

Vielen Politikern ist nicht klar, warum es ein Problem sein soll, die Reallöhne zu drücken, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Bundeskanzlerin Angela Merkel empfiehlt dieses Rezept jetzt auch den anderen Eurostaaten – nach dem Motto „Agenda 2010 für alle!“ Doch dahinter verbirgt sich ein logischer Fehler. Man kann nur so viel exportieren, wie andere importieren. Es ist schlicht nicht möglich, dass alle Euroländer zugleich nur ihre Ausfuhren steigern.

Eine europaweite „Agenda 2010“ schafft nicht Reichtum – sondern Armut auf dem ganzen Kontinent. Wenn überall die Reallöhne stagnieren oder fallen, sinkt die Nachfrage und es droht die Rezession. Die Eurozone ist extrem labil, so dass nur ein kleiner externer Schock nötig ist, damit die Krise erneut ausbricht.

Die „Agenda 2010“ war eine gefährliche Idee. In Deutschland hat sie die Arbeitslosen entwürdigt und die Beschäftigten um ihren angemessenen Lohn gebracht. Als deutsches Exportprodukt wird sie die Dauerkrise provozieren und die Eurozone zerstören. Also weg damit.

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