Ein Technokrat als Revolutionär

Anderswo treibt das Volk die Herrschenden. In Palästina dagegen kommen entscheidende Impulse derzeit vor allem von oben. Premier Salam Fayyad schafft mit konstruktiver Politik neue Tatsache

In Tunis, Kairo, Amman und Sana’a gehen die Menschen massenhaft auf die Straße, um mehr Mitbestimmung und soziale Teilhabe einzufordern. Die langfristigen Konsequenzen dieser Entwicklungen lassen sich derzeit noch nicht absehen. Sie werden jedoch gravierende Auswirkungen haben – auf die Zukunft des Nahen Ostens insgesamt, aber auch auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. In den Palästinensergebieten betrachtet man die revolutionären Entwicklungen mit einer Mischung aus Faszination und Nervosität. Wird die Welle der Unzufriedenheit in Kürze auch über der Autonomiebehörde in der Westbank und der Hamas-Regierung in Gaza zusammenschlagen?

Als erste Reaktion hat sich die Führung in Ramallah zunächst darauf verständigt, im Sommer 2011 lange überfällige Kommunalwahlen abzuhalten – und die Kritiker in den politischen Prozess einzubinden. Ob dieser Schritt ausreichen wird, um die Autonomiebehörde vor vergleichbaren Massenprotesten zu bewahren, ist offen. Einiges spricht dafür. Denn während die autoritären Regime in Nordafrika, Jordanien und im Jemen in den vergangenen Monaten von zunehmender politisch-wirtschaftlicher Stagnation geprägt waren, ist in der Westbank ein äußerst konstruktiver Trend zu beobachten: Seit August 2009 arbeitet der palästinensische Premierminister Salam Fayyad konsequent an seinem Plan, Fakten zu schaffen und Strukturen eines palästinensischen Staates zu etablieren – parallel zu den stagnierenden Friedensverhandlungen mit Israel. Wird er dabei weiter von der internationalen Gemeinschaft und einer wachsenden Zahl von Palästinensern unterstützt, könnte er mit seinem Vorhaben durchaus Erfolg haben.

Als Salam Fayyad sein Konzept „Ending the Occupation – Establishing the State“ im August 2009 präsentiert, bricht er mit einem palästinensischen Tabu: Auf knapp 40 Seiten umreißt der ehemalige Ökonom des IWF, wie die Palästinenser in den kommenden zwei Jahren alle Bestandteile eines lebensfähigen Staates errichten werden. Und das, obwohl in Palästina bisher das Leitmotiv galt: erst Befreiung, dann state building. Fayyads Plan liest sich wie eine Blaupause zum Staatsaufbau – und wie eine direkte Erwiderung auf die Kairoer Rede Barack Obamas im Juni 2009. Damals hatte der amerikanische Präsident die Palästinenser dazu aufgerufen, „sich darauf zu konzentrieren, was sie aufbauen können“. Teile des Pakets sind etwa die Einsetzung eines professionellen diplomatischen Dienstes, die Ausarbeitung eines Rechtskorpus, der das Nebeneinander jordanischen, ägyptischen, britischen und osmanischen Rechts überwindet, aber auch nahezu illusionäre Projekte wie die Planung eines internationalen Flughafens im Jordantal. Das Ziel, so formuliert es Fayyad, ist „der Staatsaufbau trotz Besatzung – für ein Ende der Besatzung“. Sein politisches Kalkül: Nach Ablauf der zwei Jahre „werden wir für einen Staat bereit sein und die Welt wird sehen, dass nur die Besatzung uns von diesem Traum trennt“.

Die internationalen Reaktionen auf seinen Plan waren zunächst verhalten. Der amerikanisch-israelische Showdown beim Siedlungsbau schien weit größere Auswirkungen zu haben als die Absichtserklärungen der Notstandsregierung in Ramallah. Dennoch gelang es Fayyad, die internationale Gemeinschaft zu überzeugen. Spätestens seit 2009 gilt der Premierminister als veritabler Darling der internationalen Donor-Community. Das Nahost-Quartett, die EU sowie die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton stellten sich hinter ihn und unterstützen die Palästinensische Autonomiebehörde mit Millionenzahlungen. New York Times-Kolumnist Thomas Friedman taufte den Ansatz kurzerhand „Fayyadism“, und der in Harvard lehrende Rechtswissenschaftler Alan Dershovitz erklärte kategorisch, der Premierminister sei der „beste Partner für Frieden, den Israel je hatte“. Sogar Israels Staatspräsident Shimon Peres adelte Fayyad als „den ersten Ben Gurion Palästinas“.

In kürzester Zeit befriedete Fayyad die Westbank

Die Euphorie wird verständlich, wenn man den Fayyad-Plan mit bisherigen palästinensischen Ansätzen vergleicht. Zwar wurden staatsähnliche Institutionen bereits zu Beginn des Oslo-Prozesses Anfang der neunziger Jahre ins Leben gerufen. Jedoch handelten die Verantwortlichen bislang nicht kohärent und mit einer dezidierten Agenda. Seit der zweiten Intifada beherrschten bewaffnete Milizen die Palästinensergebiete, immer wieder lieferten sie sich blutige Scharmützel mit der israelischen Armee und mit konkurrierenden Warlords. Fayyad hingegen konnte die Westbank in kürzester Zeit befrieden. Unterstützt vom amerikanischen General Keith Dayton und der Europäischen Union wurden bewaffnete Paramilitärs von den Straßen der Westbank verdrängt. Statt „Märtyrerbrigaden“ kontrollieren heute uniformierte Polizisten den öffentlichen Raum. Die Behörden in Ramallah stellten Ende 2010 sogar erstmals elektronische Parkautomaten auf. Reformen im palästinensischen Sicherheitssektor führten zwar dazu, dass Polizisten vereinzelt unrechtmäßig gegen Dissidenten und Hamas-Aktivisten vorgingen. Jedoch nahmen sie zugleich Übergriffen der israelischen Armee jeden Vorwand. Die neue Sicherheit auf der Straße hat nicht zuletzt dazu geführt, dass der palästinensische Justizsektor aus seinem Dornröschenschlaf erwacht ist. Hunderte neu eingestellte Richter und Staatsanwälte verhandeln heute fast 70 Prozent mehr Zivilfälle als noch vor zwei Jahren. Sogar die mehr als 90.000 Zivilprozesse, die auf Halde liegen, werden endlich abgearbeitet.   

Das Wirtschaftswachstum beträgt acht Prozent

Die zunehmende Rechtssicherheit und eine geringfügig reduzierte Anzahl israelischer Checkpoints im Zuge des vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu verkündeten „ökonomischen Frieden“ haben zudem ein beachtliches Wirtschaftswachstum von aktuell acht Prozent ermöglicht. Laut Weltbank hat sich die Anzahl neu gegründeter Betriebe in Palästina seit 2006 fast verzehnfacht. Die Zahl der Baugenehmigungen stieg allein in der ersten Jahreshälfte 2010 um fast 40 Prozent, ein neuer Mövenpick-Luxustempel in Ramallah inbegriffen.

Auch die öffentliche Verwaltung hat sich unter Fayyad grundlegend reformiert. Die Finanzplanung wird erstmals per Computer nach internationalen Standards durchgeführt, wodurch die Korruption erheblich zurückging. Auch werden Gehälter nunmehr regelmäßig und verlässlich gezahlt, unter anderem aufgrund einer entscheidenden Verbesserung bei der Steuererhebung. Die Erfolge des Fayyad-Plans haben zumindest die Weltbank mittlerweile davon überzeugt, dass die Regierungsführung von Salam Fayyad und Mahmoud Abbas in der Autonomiebehörde längst besser sei als in manch international anerkanntem Staat in der Region.

Besonders auffällig ist, dass internationale Finanzhilfen nicht mehr lediglich zur Aufrechterhaltung der Verwaltung eingesetzt werden, sondern gezielt für Infrastrukturmaßnahmen. So schloss die Autonomiebehörde 50 Gemeinden der Westbank erstmals verlässlich an das Elektrizitätsnetz an und legte 3.000 Kilometer landwirtschaftliche Wege neu an. Sie eröffnete dutzende Gesundheitszentren, dazu Schulbibliotheken und Wasseraufbereitungsanlagen sowie die erste professionelle palästinensische Blutbank. In der gesamten Westbank implementiert sie derzeit rund 1.000 Projekte, mit denen Serviceleistungen entscheidend verbessert werden. Nicht selten ausgerechnet dort, wo die Autonomiebehörde eigentlich gar nicht zuständig ist: in den so genannten C-Gebieten der Westbank. Diese machen mehr als 60 Prozent des Landes aus und gelten völkerrechtlich als palästinensisch, wurden jedoch in Oslo bis zum Abschluss eines Friedensabkommens der vollständigen Konrolle Israels unterstellt. Das Engagement stellt also eine handfeste politische Herausforderung des jüdischen Staates dar. 

Demokratisch legitimiert ist Fayyad nicht

So beeindruckend diese Fortschritte auch sind – die wirtschaftliche Entwicklung kann jederzeit wieder zunichte gemacht werden, etwa durch eine Verschärfung der israelischen Besatzung. Fragil ist auch das demokratische Mandat der palästinensischen Regierung. Aufgrund der anhaltenden Spaltung zwischen Westbank und Gazastreifen konnten im Jahr 2010 weder Parlaments- noch Präsidentschaftswahlen abgehalten werden; selbst die Kommunalwahlen wurden verschoben. Hinzu kommt: Weder Abbas noch Fayyad sind selbst bei wohlwollender Betrachtung richtig demokratisch legitimiert. Die Präsidentschaft Abbas’ wurde nicht in Wahlen, sondern vom Leitungsgremium der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) „bis auf weiteres“ verlängert. Fayyad selbst trat daher im März 2009 von allen Ämtern zurück, wurde dann aber im Mai vom Präsidenten zurückberufen. Es ist ein Eingeständnis, dass derzeit nur Fayyad über das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft und über das erforderliche politische Know-how verfügt. Kritiker haben dem Premierminister daraufhin eine dreiste Überschreitung seiner Kompetenzen vorgeworfen. Außerdem lasse die Technokraten-Regierung Fayyad die säkulare Fatah-Partei außen vor. In Wirklichkeit hat Fayyads Dienstherr Abbas stets seine schützende Hand über ihn gehalten. Und Abbas ist Chef von Fatah und PLO zugleich. Beide Organisationen stehen somit zumindest formell hinter Salam Fayyad.

Überzeugendere Kritik am Fayyad-Plan kommt aus einer anderen Richtung: Der Staatsaufbau findet bislang überwiegend in den A- und B-Zonen der Westbank statt, die die Palästinenser seit Oslo eigenständig verwalten. Gaza, Ost-Jerusalem sowie die C-Zonen bleiben gezwungenermaßen weitgehend außen vor. Skeptiker befürchten daher, dass Fayyads state building nicht zu einem Palästina in den Grenzen von 1967 führt, sondern lediglich den aktuellen Flickenteppich aus A- und B-Zonen mit einer effektiveren Verwaltung versieht. Obwohl Fayyad selbst diese Option wiederholt als „Mickey Mouse state“ zurückgewiesen hat, bleibt sie so lange realistisch, wie Israel sich nicht aus den besetzten Gebieten zurückzieht.

Genau das ist der Grund dafür, dass Abbas und Fayyad ihre Blicke in den vergangenen Monaten intensiv auf Lateinamerika gerichtet haben. Ende 2010 konnten sie eine erste Dividende ihrer Bemühungen einfahren: Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay, Venezuela, Ecuador und Peru erkannten einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 an, Paraguay dürfte dem Beispiel bald folgen. Obwohl der israelische Vize-Außenminister die Erklärungen als politisches Äquivalent zum „like-“Button auf der Internetplattform Facebook verspottete, ist ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen. Dabei geht es weniger um die wiederholte Drohung der Palästinenser, bilaterale Verhandlungen durch eine multilaterale Staatsgründung auf Ebene der Vereinten Nationen zu umgehen. Vielmehr verankert die Unterstützung aus Lateinamerika den palästinensischen Anspruch auf einen Staat in der gesamten Westbank und in Gaza.

Die Fortsetzung des Fayyad-Ansatzes ist deshalb so gravierend für die Zukunft der Zweistaatenlösung, weil sie staatliche Ansprüche der Palästinenser erstmals überzeugend inhaltlich unterfüttert (und nicht etwa, weil sie die Ansprüche legitimer erscheinen lässt). Somit handelt es sich um eine Verwirklichung der road map for peace von George W. Bush, was die Anschlussfähigkeit der palästinensischen Positionen erhöht.

Neuerdings mehren sich auch in der Hamas Stimmen, die eine Zweistaatenlösung grundsätzlich akzeptieren. Somit könnte es erstmals zu einer Konvergenz von internationalen Forderungen nach einer Zweistaatenlösung und tatsächlichem lokalen Rückhalt kommen. Ernüchternd stellt sich dabei allerdings die kompromisslose Haltung der aktuellen israelischen Rechtsaußen-Regierung dar – und die Tatsache, dass dieses hoffnungsvolle Signal aus Nahost derzeit nicht wegen, sondern trotz der Politik des amerikanischen Präsidenten ausgesandt wird. «

Die Thesen dieses Beitrags führt der Autor in seinem im März 2011 erscheinenden Buch weiter aus: Michael Bröning, The Politics of Change in Palestine: State-Building and Non-Violent Resistance, London: Pluto Press 2011, 256 Seiten, 21,99 Euro

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