Ein in jeder Hinsicht differenziertes Bild

Den einen und einheitlichen Osten gibt es nicht mehr. Die ostdeutschen Bundesländer sind vom größten geschlossenen Krisengebiet zu einem Flickenteppich von Krisengebieten, halbwegs lebensfähigen Räumen und Wachstumsregionen geworden. Alles wie im Westen also?

Genau 25 Jahre ist es her, seit der demokratische Aufbruch in Ostdeutschland, in der damaligen DDR begann. Noch immer verfügt der Osten gegenüber dem Westen über seine Besonderheiten – im Schlechten wie im Guten. Da sind seine ökonomischen Schwächen, sein sonderbares Parteiensystem, seine kulturellen Eigenheiten, seine Mühen im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, sein vermeintlich wehleidiges Klagen darüber, dass die Lebensverhältnisse immer noch nicht an die im Westen angeglichen sind. Noch immer ist der Osten der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft etwas fremd.

75 Jahre ist es her, seit sich auch im deutschen Süden die bundesrepublikanische Staatlichkeit konstituierte. Bayern, Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern wurden Bundesländer im Bonner föderalen Gefüge. In Bayern regiert seit einem Dreivierteljahrhundert eine Partei, die es nur in diesem Bundesland gibt und die seit Jahr und Tag besonders enge Verbindungen zu den Organisationen pflegt, die mit den Grenzziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre besondere Not haben. In Bayern bestehen erhebliche regionale Disparitäten zwischen einem Ballungsraum wie München und Teilen Frankens oder dem deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Selbst in Baden-Württemberg gehen rund 50 000 Menschen zur Arbeit über die Grenze – in die Schweiz. Noch immer haben die beiden Südländer je eigene öffentlich-rechtliche Sendeanstalten, während im Norden die länder­übergreifenden Sender NDR, RBB und MDR tätig sind. Haben sich die Süddeutschen also mental von Deutschland abgekoppelt? Sind sie nicht angekommen? Bilden sie eine Teilgesellschaft?

Wie schlimm ist es um den Osten bestellt?

Absurde Fragen? In gewisser Weise schon. Aber: Wenn ein bestimmtes analytisches Schema, das man für den Osten gewöhnt ist, auf den ersten Blick auch für den Süden passt, ist es umgekehrt für den Osten vielleicht nicht ganz so stimmig – zumindest auf den zweiten Blick. Versuchen wir den zweiten Blick. Wie schlimm ist es also um den Osten bestellt?

Natürlich gibt es da ein Gefälle – und der Trend ist nicht gerade ermutigend: Die Neuberechnung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 2012 auf Basis der EU-Kriterien hat bestätigt, dass der Angleichungsprozess zwischen Ost und West langsamer verlaufen ist als 2009 und 2010. Gleichzeitig sind die Entwicklungsunterschiede zwischen den westlichen Bundesländern aber ebenso ausgeprägt. Die wirtschaftliche und strukturelle Entwicklung zeigt zudem, dass die Leistungsfähigkeit Ostdeutschlands insgesamt gewachsen ist. Daher gehört Ostdeutschland auch nicht mehr zu den strukturschwächsten Regionen in Europa. Das ist ein Erfolg, der viele Quellen hat. Er wäre nicht denkbar ohne die großen Leistungen der Ostdeutschen, ohne ihren Mut und ihre Kraft zur Selbstbehauptung, auch nicht ohne ihre politische Interessenvertretung. Der Erfolg beruht aber auch auf einer großen gesamtnationalen Anstrengung – finanziell erkennbar in Solidarpakt und Solidaritätszuschlag.

Mittlerweile ergibt sich für Ostdeutschland ein in jeder Hinsicht differenziertes Bild. Während in einigen Lebensbereichen eine faktische Angleichung zwischen Ost und West stattgefunden hat (zum Beispiel beim Preisindex, beim Verkehr, bei der medizinischen Versorgung), ist Ostdeutschland auf anderen Gebieten eine bunte Mischung sowohl aus Krisenerscheinungen als auch aus relativer Stabilität und Prosperität. Der Arbeitsmarkt und das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte stellen weiterhin wichtige Problemfelder dar, bei denen im Bundesvergleich – nahezu – die Grenzen der ehemaligen DDR hervortreten. Allerdings gibt es im Osten mittlerweile auch Regionen, die eine geringere Arbeitslosigkeit aufweisen als strukturschwache Gebiete im Westen. Und angesichts des Bevölkerungsrückgangs und der sich verändernden Altersstruktur ist ein weiterer Rückgang der Arbeitslosigkeit absehbar. Zugleich wird der Fachkräftemangel auch im Osten immer deutlicher spürbar. Schließlich zeichnen sich perspektivisch Probleme ab, die Ostdeutschland wieder stärker einheitlich erscheinen lassen und bestehende Missstände weiter verschärfen. Das betrifft vor allem die öffentliche Infrastruktur – von der Tragfähigkeit der Mittelzentren bis zur Erreichbarkeit der Schulen.

Nimmt man alle Indikatoren zusammen, ergibt sich eine Ballung stark unterdurchschnittlicher Lebensverhältnisse „nur“ noch in Nordost-Deutschland über die Altmark und Teile Sachsen-Anhalts hindurch bis in das nördliche Thüringen sowie in Berlin und im Raum Dresden. Ostdeutschland ist nicht in dem Sinne aus der Post-DDR-Krise herausgekommen, dass die Versprechen von 1990 eingelöst worden wären – vielmehr hat sich der Osten mit einem veränderten Westen irgendwo unterhalb des erwarteten Niveaus getroffen. Die neuen Bundesländer sind vom größten geschlossenen Krisengebiet zu einem Flicken­teppich von Krisengebieten, halbwegs lebensfähigen Räumen und Wachstumsregionen geworden.

Die Annäherung der Lebensverhältnisse sagt allerdings noch nichts über die Qualität und Akzeptanz der entstandenen Lage aus. Die Bevölkerung in Ost und West ist mit diesen Standards unzufrieden und bewertet die jeweils eingetretenen Veränderungen als ungerecht.

Gefühlte Einheitsverlierer auch im Westen

Ostdeutsche und Westdeutsche sind sich in den vergangenen zwanzig Jahren in vielem ähnlicher geworden, wie der Sozialreport 2012 zeigt: Beispielsweise haben sich die Bewertungen der Lebenslagen einander angeglichen. Arbeitslosigkeit und Transferabhängigkeit treffen, trotz stärkerer Ausprägung im Osten, auf bundesweit nahezu gleiche Wahrnehmungsmuster. Armutsgefährdung wird als genereller Trend des sozialen Wandels erlebt, wobei sich in Ost wie West gleichermaßen betroffene Problemgruppen herausbilden. Ein Drittel im Osten und ein Viertel im Westen leben sozial verunsichert. Die Angleichung der Einkommen – einst als Symbolthema das maßgebliche Kriterium für den Stand der Einheit – ist in den Erwartungen der Menschen faktisch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Tatsächlich liegen die Ost-Einkommen mittlerweile im Schnitt bei 87 Prozent des Westniveaus – das entspricht etwa der bundesweiten Einkommensschere zwischen Männern und Frauen oder dem Nord-Süd-Gefälle im Westen; die gezahlten Renten im Osten betragen aktuell jedoch nur 73 Prozent des West-Niveaus.

In Ost wie West (!) sieht sich je rund ein Fünftel der Bevölkerung als Verlierer der Einheit; ebenfalls jeweils ein Fünftel erlebt die eigene Entwicklung als sozialen Abstieg. Was diese Zahlen heute tatsächlich bedeuten, wird erst im Zeitvergleich deutlich. Der Maßstab der Bürger ist laut Sozialreport offenbar die „Wohlstandsentwicklung wie vor 1990“. Zugleich wird deutlich, dass die Hartz-Reformen in Ost wie West die entscheidende Zäsur im sozialen Leben, ein Einschnitt im Meinungsbild sowie eine Desillusionierung im Verhältnis zu Staat und Gemeinwesen darstellen. Der soziale Abstieg oder die wachsende Furcht davor sind also in der Zeit seit der Wende eingetreten. Dies wird als Bruch mit dem Wohlstandsversprechen der alten Bundesrepublik wahrgenommen. Dieses Thema überlagert die positiven Erfahrungen mit jenen Bereichen, in denen eine Angleichung der Lebensverhältnisse stattgefunden hat. In Ost und West sieht man gerade in den von den Reformen betroffenen Politikfeldern eine zunehmende Ungerechtigkeit.

Mit dem heutigen Ostdeutschland hat dies alles jedoch wenig zu tun. Bei Spontannennungen auf die Frage nach den drängenden politischen Aufgaben in Deutschland kam der Osten im Sozialreport 2012 nicht ein einziges Mal vor. Die Ost-West-Differenz weicht also zunehmend einer sozialen Differenz, die in Ost und West gleichermaßen als solche reflektiert und nicht mehr mit einer spezifischen Misere des Ostens verbunden wird. Dies führt zu der Frage, welche Rolle das Thema Ostdeutschland künftig im politischen Raum spielen wird. Die Zeiten für einen „Masterplan Ost“ sind vorbei. Es dominieren die sozialen Probleme – und die können nicht mehr als in erster Linie ostdeutsche Angelegenheit skandalisiert und bearbeitet werden.

In der Sache kommt man den Ostdeutschen (wie den Westdeutschen) vor allem dann wieder näher, wenn man die zentralen sozialen Ungerechtigkeitslagen aufgreift und sie nicht nur skandalisiert, sondern ihnen Gestaltungsoptionen entgegensetzt, die sich an den heutigen gesellschaftlichen Realitäten in Ost und West orientieren (und nicht an den Versprechen und Fiktionen der Vereinigung). Diese Optionen müssen einerseits verteilungspolitisch ausgerichtet sein und andererseits die Organisation von Wertschöpfung berücksichtigen. Es braucht sowohl übergreifende Lösungsstrategien, die für Ost und West gleichermaßen tauglich sind, als auch eine differenzierte, auf regionale Spezifika angepasste Struktur- und Industriepolitik.

Ungleichheit als Entwicklungsbremse

Tatsächlich richtet sich die Politik der ostdeutschen Länder schon seit längerem neu aus – weg vom ostdeutschen Fokus. Für Mecklenburg-Vorpommern etwa spielen die norddeutschen Länder eine wichtige Rolle. Brandenburg konzentriert sich nicht nur auf Berlin, sondern auch auf die Entwicklungsachsen nach Norden (Hamburg und Stettin), nach Süden (Dresden) und auf die deutsch-polnische Grenzregion. Für Thüringen spielt Hessen eine wichtige Rolle, für Sachsen-Anhalt Niedersachen. Berlin nimmt seine Rolle als Bundeshauptstadt wahr und sucht seinen Platz im Ensemble der deutschen und europäischen Metropolen.

Politisch ist die Einheit „Ostdeutschland“ also bereits aufgebrochen, die zentripetalen Tendenzen werden sich weiter verstärken. Damit tritt das Kernproblem der Entwicklung Deutschlands (und anderer westlicher Länder) immer klarer hervor: die zunehmende Ungleichheit als Entwicklungsbremse. Dies betrifft sowohl die soziale Polarisierung von Oben und Unten, als auch unterschiedliche regionale Entwicklungs­dynamiken innerhalb der Räume, die durch den Kalten Krieg und die deutsche Teilung geschaffen wurden.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnis legten Brandenburgs Wirtschaftsminister Ralf Christoffers, der frühere Arbeitsminister von Mecklenburg-Vorpommern Helmut Holter, und der Berliner Landesvorsitzende der Linkspartei Klaus Lederer Anfang 2013 ein Konzept zur Regional- und Strukturpolitik in Deutschland vor. Im Mittelpunkt des Konzepts steht eine nachhaltige Strukturentwicklung, die nicht die dauerhafte Transferabhängigkeit und Alimentierung „abgehängter Regionen“ vertiefen soll, sondern soziale und ökologische Modernisierung mit demokratischer Modernisierung und ökonomisch selbst tragender Entwicklung verbindet. Durch ihre spezifische Rolle im Osten und die dort gemachten Erfahrungen mit dem Problem regionaler Ungleichheiten hat die Linkspartei dazu durchaus produktive und eigene Zugänge. Das betrifft einerseits differenzierte Vorstellungen für die Wirtschafts-, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik auf Landes- wie Bundesebene. Andererseits hat die Linkspartei aus der Erfahrung gelernt, dass die Probleme prekärer Regionen nicht durch Sonderrechte oder sanktionierte Benachteiligungen zu lösen sind.

Die Herausforderungen sind gesamtdeutsch

Den Vorschlag eines „Solidarpakts III für Krisenregionen in Ost und West“ zur Finanzierung des Konzepts von Christoffers, Holter und Lederer hat immerhin Thüringens christdemokratische Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht in ihr Modell eines „Deutschland-Paktes“ aufgenommen – mit freundlicher Rückendeckung von Angela Merkel. Was daraus wird, muss sich vor allem in den Verhandlungen über die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs bis 2019 erweisen.

Es bleibt eine gesamtdeutsche Herausforderung, dass weder Menschen noch Regionen dauerhaft abgehängt und aufgegeben werden dürfen. Dazu braucht es Ressourcen und finanzielle Mittel. Doch gerade die Erfahrungen Ostdeutschlands zeigen: Viel Geld allein reicht nicht aus. Nötig ist vor allem eine tatkräftige Politik, die Chancen eröffnet und Perspektiven schafft.

zurück zur Person