Durch die Mitte ein Riss

Auf den ersten Blick scheint es, als wäre im Iran wieder die alte unterdrückerische Normalität eingekehrt. Doch mit Gewalt wird sich der Konflikt nicht lösen lassen. Die junge iranische Gesellschaft wird auch weiterhin Freiheit und Modernität anstreben

Es gibt sie wieder: deutsche Nachrichten-Sendungen ohne Beitrag über die aktuelle Lage im Iran. In manchen Zeitungen sind die Demonstrationen im Iran nur noch eine Randnotiz. "Die Proteste im Iran kommen zum Erliegen", heißt es in vielen Berichten. Das Tagesgeschäft hat uns wieder. Ahmadinedschad ist weitere vier Jahre Staatspräsident des Iran. Alles bleibt beim Alten, so scheint es.

Zugegeben: Die Journalisten, die über den Iran berichten, arbeiten im Ausnahmezustand. Im Internet wimmelt es von ständig neuen Informationen " nur kann niemand sagen, woher sie kommen und wie verlässlich sie sind. Die staatlichen iranischen Medien vermelden Widersprüchliches: Mal kündigt der mächtige Wächterrat an, dass die Wahlergebnisse teilweise kontrolliert werden, dann bestätigt er das Wahlergebnis wieder voreilig. Danach will er plötzlich wieder eine Sonderkommission zur Überprüfung der Wahlen einsetzen.

Wer persönliche Kontakte in den Iran hat, wer die Landessprache Farsi verstehen kann, wer sich schon länger mit der Bloggerszene im Iran beschäftigt, der bekommt ein anderes Bild, als wir es derzeit in unseren Nachrichtensendungen sehen. Die Proteste gehen weiter, nicht nur in Teheran, sondern auch in vielen mittleren und kleinen Städten, in denen ebenfalls seit Wochen viele Menschen auf den Straßen sind.

Die Mobilisierung begann schon lange vor dem Wahltag. Noch im März war Mir Hossein Mussawi, die jetzige Galionsfigur der Oppositionsbewegung, nur der "zweite Kandidat". Am 8. Februar hatte der Anführer des Reformerlagers, Mohammad Khatami, seine Kandidatur erklärt, sie aber am 16. März wieder zurückgezogen, um eine Spaltung des reformorientierten Wählerpotenzials zu vermeiden. Bei vielen im Reformerlager machte sich daraufhin große Enttäuschung breit. Der damals farblos wirkende Kandidat Mussawi schien nicht in der Lage, die Reformer und eine Mehrheit der Wähler hinter sich zu vereinen.

Dabei war der Widerstand gegen Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad in der gesamten iranischen Gesellschaft spürbar. Seine Versprechen im Wahlkampf 2005 - vor allem in der Wirtschaftspolitik - konnte er nicht halten. Die Inflation stieg in seiner ersten Amtszeit drastisch an und die Kluft zwischen Arm und Reich ist im Iran gewachsen. In den ländlichen und ärmeren Gegenden war die Enttäuschung über seine gebrochenen Versprechen besonders groß. Hier halfen auch keine Wahlgeschenke. Als Ahmadinedschad kurz vor dem Urnengang noch schnell kostenlos Kartoffeln an die Landbevölkerung verteilen ließ, skandierte diese  "Tod der Kartoffelregierung".

Mussawi nutzte die vorhandene Unzufriedenheit geschickt. Bei Auftritten im ganzen Land präsentierte er sich als erfahrener Krisenmanager. Gerade aufgrund seiner Verbundenheit mit dem Machtsystem der islamischen Republik - von 1981 bis 1989 war er Premierminister - und wegen der betonten Nähe zum 1989 verstorbenen Revolutionsgründer Ruhollah Khomeni schien Mussawi eine realistische Chance auf das Präsidentenamt zu haben.

Ausdruck von Mussawis Reformwillen waren zahlreiche gemeinsame Auftritte mit seiner Ehefrau Sahra Rahnaward. Die Universitätsprofessorin sprach vor allem über Frauenrechte. Und sie absolvierte sogar eine eigene Wahlkampf-Tour durch die Provinzen, was für einiges Aufsehen sorgte. Ein genialer Schachzug war Mussawis Entscheidung, die Farbe grün für seine Kampagne zu wählen. Grün ist die Farbe des Islam. Spätestens durch die grünen Armbändchen seiner Anhänger erlangte der einst so farblose Kandidat den Status eines Hoffnungsträgers.

Bei den Rededuellen im iranischen Fernsehen begegnete Mussawi Ahmadinedschad auf Augenhöhe. Offen, klug und mutig widersprach er dem Amtsinhaber in wichtigen Politikfeldern, allen voran in der Wirtschaftspolitik. Spätestens ab diesem Zeitpunkt standen Ahmadinedschad und Mussawi in Meinungsumfragen mindestens gleich auf.

Die Mächtigen haben Grund zur Nervosität

Bereits kurz vor dem Urnengang wurden jedoch Stimmen laut, die vor einem Wahlbetrug warnten. Und am Wahltag mehrten sich schließlich die Indizien dafür, dass die Regierung einen Betrug in großem Stil vorgenommen hatte. So fanden in der Hauptstadt Teheran zeitgleich zur Präsidentenwahl auch Wahlen zum Expertenrat statt. Für die Präsidentschaftswahl wurden 6 Millionen Stimmzettel abgegeben, für die Expertenratswahl nur 1,4 Millionen, obwohl jeder Wähler zwei Stimmzettel erhalten hatte. Diese Diskrepanz ist ein klares Indiz für eine Fälschung der Präsidentschaftswahl. Außerdem wurde aus vielen Orten berichtet, dass Mussawis Anhänger mit der Begründung nach Hause geschickt wurden, die Wahlzettel seien ausgegangen. Tatsache aber ist, dass 10 Millionen Wahlzettel mehr gedruckt wurden, als es Wahlberechtigte im Land gibt.

Nach der Wahl nimmt die Härte und Gewalt, mit der staatliche Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden vorgehen, immer neue Ausmaße an. Niemand kann genau sagen, wie viele Todesopfer es mittlerweile zu beklagen gibt, wie viele Menschen verschleppt und verhaftet wurden. Die iranischen Machthaber sind nervös, und sie haben allen Grund dazu, denn der Riss verläuft nicht zwischen der Machtelite und den Menschen auf der Straße. Der Riss verläuft mitten durch das Machtgefüge des Landes.

Auf dem Weg in die Militärdiktatur?

Schon länger rumorte es auch in der schiitischen Geistlichkeit. Bereits im Wahlkampf bezogen führende Kleriker klar Stellung für Mussawi. Auch jetzt stellen sich einige auf die Seite der Proteste, während andere die Todesstrafe für Demonstranten fordern. Die Angst unter den Geistlichen ist groß, dass Ahmadinedschad und seine Gefolgschaft die Islamische Republik - mit Billigung des Revolutionsführers - zu einer Militärdiktatur umbauen werden.

Dies alles spricht dafür, dass die Proteste im Iran so schnell nicht zum Erliegen kommen werden. Die Demonstranten verbindet, dass sie keinen Umsturz wollen, keinen regime change, wie ihn sich der ehemalige amerikanische Präsident George W. Bush immer erträumt hatte. Sie wollen einfach ihre Stimme zurück, um die sie die amtierende Regierung betrogen hat. Sie wollen die Freiheiten und Bürgerrechte zurück, die ihnen schrittweise genommen wurden. Übrigens sind die meisten von ihnen der Meinung, dass der Iran ein Recht darauf hat, die Atomtechnologie friedlich zu nutzen. In dieser Frage herrscht in der iranischen Gesellschaft ein breiter Konsens. Unter einem Präsidenten Mussawi würde sich bei diesem Thema kaum mehr verändern als die Tonlage: Die iranische Position würde dann wohl etwas weniger aggressiv vorgetragen werden. 

Die Regierung Ahmadinedschad musste lernen, dass der alte Trick, innenpolitische Spannungen mit Angriffen und Verschwörungspropaganda gegen die Vereinigten Staaten und den gesamten Westen aufzulösen, nicht mehr funktioniert. Nun spielt sie auf Zeit und hofft, die Proteste mit Gewalt ersticken zu können. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass wir in Deutschland weiter genau beobachten müssen, was im Iran passiert. Protestiert wird weiter, auch wenn es die iranische Zensur immer schwieriger macht, an Informationen darüber zu kommen. Dennoch dürfen wir das Ende der Proteste nicht herbeireden - nicht zuletzt würden wir damit auch den vielen iranischstämmigen Deutschen ihre Hoffnung nehmen, die um ihre Verwandten und Bekannten im Iran fürchten und sich jeden Tag an Lichterketten und Demonstrationen beteiligen.

Wir müssen aufhören, den Iran ausschließlich unter dem Aspekt der Atomfrage zu betrachten und stattdessen klar die Menschenrechte in den Mittelpunkt rücken. Die Bundesregierung sollte den Dialog mit dem iranischen Regime nicht einfrieren, aber sie muss eine klare Sprache zu den Menschenrechtsverletzungen und zur Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Oppositionellen sprechen. Damit würde sie den Protestierenden im Iran das Signal senden, dass ihre Demonstrationen weiter gehört und gesehen werden. Und sie würde Ahmadinedschad zeigen, dass er mit seinem Volk nicht alleine auf der Welt ist und deshalb nicht tun und lassen kann, was er möchte.

Bereits jetzt hat sich der Iran durch die Wahlen verändert. Es kann aber noch Wochen und Monate dauern, bis die Proteste der Menschen auf den Straßen Früchte tragen und sich Veränderungen im System einstellen. Niemand kann heute sagen, ob die Auseinandersetzungen noch blutiger werden, als sie es derzeit bereits sind. Oder ob sich in der nächsten Zeit eine Form des stillen, schleichenden Protestes entwickelt, der die noch vorhandene militärische Machtbasis des Regimes langsam aushöhlen wird. Das Fundament dafür wurde in diesem Präsidentschaftswahlkampf gelegt.

Auch das Iran-Bild bei uns in Deutschland hat sich verändert. Der Iran ist nicht mehr nur das im finsteren Mittelalter verhaftete Land der streng dreinblickenden Mullahs, der fanatischen Vollbartträger und der Frauen, die unter den Tschador gezwungen werden. In Wirklichkeit ist der heutige Iran eine vielfältige und sehr junge Gesellschaft, deren Menschen nach Freiheit, Modernität und Internationalität streben. Sie haben in den letzten Wochen sehr viel Mut bewiesen und im Kampf für diese Ziele Leib und Leben aufs Spiel gesetzt. Sie werden das auch weiter tun. Daran sollten wir denken, wenn die Nachrichten aus dem Iran verebben und Journalisten schreiben: "Die Proteste im Iran kommen zum Erliegen."

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