Droht die zweite Große Depression?

Auf den Crash von 1929 folgten Massenarbeitslosigkeit, Hunger, Hoffnungslosigkeit und - jedenfalls in Deutschland - Diktatur. Welche Entscheidungen bewirkten diese Entwicklung? Einiges spricht dafür, dass sich die Geschichte nicht wiederholen wird

Wir befinden uns inmitten der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 80 Jahren. Zum ersten Mal seit 60 Jahren wird die Weltwirtschaft wieder schrumpfen. Der Internationale Währungsfonds schätzt die weltweiten Vermögensverluste inzwischen auf über vier Billionen amerikanische Dollar. Weltweit wanken vormals mächtige Banken, ohne den Staat würden sie Pleite gehen. An der Wall Street gibt es keine einzige Investmentbank mehr. Die einstigen "Masters of the Universe" sind entweder in Insolvenz gegangen wie Lehman Brothers, zwangsverkauft oder zu traditionellen Bankenholdings umgewandelt worden. Mehrere Banken sind nicht nur verstaatlicht, sondern ihre Eigentümer sind wie in Großbritannien sogar enteignet worden. Weltweit geraten nicht nur Aktien, sondern ganze Währungen in heftige Turbulenzen; allein der russische Rubel hat seit Herbst vergangenen Jahres gegenüber dem Euro fast ein Drittel an Wert verloren. Kleinere Länder stürzen in ökonomisches und politisches Chaos, etwa Island oder die Ukraine.

Viele Menschen fragen sich jetzt: Wie geht das weiter? Droht uns im nächsten Jahrzehnt eine ähnlich bedrückende Entwicklung wie zur Zeit der Großen Depression? Auf den Crash von 1929 folgten die Weltwirtschaftskrise mit vielen Millionen Arbeitslosen, Hunger und Hoffnungslosigkeit. Doch diese Krise war nicht nur eine Folge ökonomischer Fehlentwicklungen, sondern auch politischer Fehlentscheidungen. Was war schief gelaufen? Und was können wir heute aus den damaligen Fehlentwicklungen lernen?

Erstens: Auch die Große Depression entsprang dem Finanzmarktsektor. Nach dem Börsencrash von 1929 kam es zu einer Kettenreaktion, eine Bank nach der anderen ging Pleite. Die Ersparnisse von Millionen Menschen, ob reich oder arm, wurden vernichtet. In Deutschland ging die Danat-Bank in Insolvenz, die Dresdner und die Commerzbank waren im Sommer 1931 zahlungsunfähig, und selbst die Deutsche Bank brauchte eine Minderheitenbeteiligung des Reiches, um gerettet zu werden. Das Deutsche Reich musste insgesamt über 600 Millionen Reichsmark Eigenkapital- und Liquiditätshilfen aufbringen, um die Banken vor dem Konkurs zu retten. Es gab keine echte Alternative zu diesen Teilverstaatlichungen.

Die Welt am Rande des Zusammenbruchs

In der gegenwärtigen Krise hätte die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 fast zu einer weltweiten Kettenreaktion von Bankpleiten geführt. Indem die damalige Regierung George W. Bush sich weigerte, diese systemrelevante Bank zu retten, brachte sie das Weltfinanzsystem an den Rand des Zusammenbruchs. Das Weltfinanzsystem wäre mittlerweile kollabiert, hätten nicht Regierungen weltweit beherzt eingegriffen und mit riesigen Milliardensummen - allein in Deutschland mit mehr als 500 Milliarden Euro - ihre Finanzmärkte stabilisiert und systemrelevante Banken gestützt. Weltweit sind Kreditinstitute auf Hilfen des Staates angewiesen. Wichtig ist jetzt, international gültige Regeln für ein nachhaltigeres Wirtschaften als bisher durchzusetzen. Mit dem umfassenden Steinmeier-Steinbrück-Papier liegt die Blaupause hierfür vor.

Zweitens: Das nächste Problem heißt Protektionismus. Nach dem Crash von 1929 und dem darauf folgenden Wirtschaftseinbruch wollte der amerikanische Präsident Herbert C. Hoover ein Jahr später mit der Einführung empfindlicher Importzölle auf 20.000 Produkte (!) die heimische Produktion schützen. Aber daraufhin erhoben alle führenden Industrienationen ebenfalls Zölle zum Schutz der einheimischen Produktion. Weltweit gingen die Exporte zurück. Der Welthandel brach bis Anfang 1933 um sage und schreibe zwei Drittel ein. Die Weltwirtschaftskrise dauerte zehn Jahre -bis zum Zweiten Weltkrieg.

Im Teufelskreis des Protektionismus

Heute kommt der Protektionismus in der Regel nicht in Gewand von Zöllen, sondern als Subventionsbedingung daher, die den Kauf einheimischer Produkte erzwingen soll. Das macht die Sache nicht besser. Der Effekt ist immer der Gleiche: Statt die Krise zu bekämpfen, führen Schutzmaßnahmen für einheimische Unternehmen und Produkte wie zum Beispiel die "Buy American"-Klausel oder die neue "Buy Chinese"-Klausel bei Staatsaufträgen regelmäßig zu entsprechenden Gegenmaßnahmen anderer Länder. Hier entsteht neben der Stabilisierung von Banken jetzt die wichtigste Aufgabe: Ein solcher Teufelskreis muss unbedingt verhindert werden, damit die Globalisierung nicht durch Handelskriege auseinanderbricht. Weltweite Massenarbeitslosigkeit wäre die Folge.

Drittens: Das Fehlen antizyklischer Finanz- und Wirtschaftspolitik. Im Jahr 1929 und in den frühen dreißiger Jahren, also in der Zeit vor John Maynard Keynes, predigten fast alle Wirtschaftswissenschaftler, dass auch in schweren Krisenzeiten grundsätzlich ausgeglichene Staatshaushalte anzustreben seien. Mitten in der Krise erhöhten die Regierungen weltweit Steuern und kürzten Ausgaben. Dieses prozyklische Verhalten war Gift für die Konjunktur. In Deutschland reagierte die Regierung Brüning auf den Rückgang der Steuereinnahmen Anfang der dreißiger Jahre mit einem rigorosen Sparprogramm
- und verschärfte dadurch die Wirtschaftskrise. Das Resultat waren unzählige Firmenpleiten, Rekordarbeitslosigkeit und letztendlich das verhängnisvolle Ende der Weimarer Republik.

Für dieses Jahr erwartet die Bundesregierung einen Rekordrückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um real 6 Prozent. Das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Die bisher schwerste Rezession bescherte unserem Land 1975 ein Minuswachstum von 0,9 Prozent. Auch die amerikanische Wirtschaft muss den stärksten Wachstumseinbruch seit mehr als 25 Jahren hinnehmen, im vierten Quartal 2008 um mehr als 6 Prozent. Rund um den Globus stabilisieren die Regierungen die Wirtschaft mit Milliardensummen: Die amerikanische Regierung nimmt rund 787 Milliarden Dollar in die Hand, das sind etwa 5,5 Prozent des BIP. Und die Bundesregierung gibt rund 81 Milliarden Euro zusätzlich aus, das sind zusammen mit den so genannten automatischen Stabilisatoren rund 4,7 Prozent des BIP.

In dieser Lage drohen eigentlich lebensfähige Industriestrukturen kaputt und Hunderttausende eigentlich wettbewerbsfähige Arbeitsplätze verloren zu gehen. Um das zu verhindern, ist aktive Industriepolitik zum Erhalt industrieller Kerne jetzt wichtiger als reine Ordnungspolitik. Der Staat kann und darf nicht jedes Unternehmen retten. Aber genauso falsch ist es, mit marktideologisch motivierten Vorfestlegungen gegen die Rettung großer Unternehmen das notwendige Krisenmanagement zu erschweren. Am Ende leiden darunter Tausende betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Viertens: Deflation und Inflation. In den dreißiger Jahren war die Angst vor Inflation größer als das Wissen über die verheerenden Auswirkungen von Deflation auf Konsum, Investitionen und Beschäftigung. Bis zum Jahr 1932 hatten die Vereinigten Staaten ihre Goldreserven enorm ausgebaut, ohne die Geldmenge entsprechend auszuweiten. Gleichzeitig mussten die Länder mit Goldabfluss ihre Geldmenge einschränken. Weltweit wurde das Geld knapp, die Preise sanken. Statt zu Inflation kam es Anfang der dreißiger Jahre zur schlimmsten Deflation in der Geschichte.

Heute reagieren die Notenbanken rund um den Globus auf das stark gestiegene Deflationsrisiko richtig. Die Europäische Zentralbank hat ihren Leitzins inzwischen auf das historische Rekordtief von 1,0 Prozent gesenkt, und die amerikanische Notenbank entschloss sich sogar zu so unorthodoxen Schritten wie Wertpapier- und Staatsanleihekäufen. Damit versorgen die Notenbanken die Wirtschaft mit dringend notwendiger Liquidität. Das ist richtig, mittelfristig droht daraus allerdings eine weltweite Inflation zu werden.

Fünftens: Der kurzsichtige Kapitalmarkt forderte und fordert von Konzernen, möglichst hohe Dividenden auszuschütten. Auch deswegen wurden in den dreißiger Jahren Investitionen zurückgefahren: um Dividenden ausschütten zu können. Diese Schwächung der Unternehmen verschärfte den Abschwung, erhöhte in der Folge die Arbeitslosigkeit und den Deflationsdruck. Die Unternehmen konnten nicht genug Vorsorge für künftige Finanzierungen treffen.

Auch heute gibt es einen starken Druck des Kapitalmarktes auf die Konzernvorstände, Dividenden auszuschütten. Experten erwarten, dass die 30 DAX-Konzerne in diesem Jahr rund 24 Milliarden Euro Dividenden ausschütten werden - und das mitten in dieser globalen Rezession. Gleichzeitig werden trotz Wirtschaftskrise und Rekordverlusten gerade auch im Bankbereich Bonuszahlungen in Millionenhöhe geleistet. Oder es wird auf Zahlungen geklagt: So hat der ehemalige Vorstandschef des Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate (HRE) die Bank nach seinem Rückzug auf Gehaltszahlungen in Höhe von rund 3,5 Millionen Euro sowie auf weitere Pensionsansprüche verklagt.

Wo der Anstand auf der Strecke bleibt

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Hier fehlt jeder Anstand und jedes Augenmaß. Solche negativen Vorbilder gibt es überall auf der Welt in großer Zahl, nicht nur in Deutschland. Sie erschüttern die Grundfesten des globalen Kapitalismus. Den Menschen, die die Lasten der Krise tragen müssen, fehlt hierfür jedes Verständnis. In Deutschland wird sich voraussichtlich erst am 27. September entscheiden, ob sich die SPD mit ihren Forderungen nach stärker begrenzenden Regeln für Managergehälter und weitergehenden Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung durchsetzen kann. Widerstand kommt aus der CDU/CSU, die gemeinsam mit der FDP die Interessen von angestellten Managern vertritt.

Secshstens: In den dreißiger Jahren waren die sozialen Sicherungssysteme bei Weitem nicht so ausgebaut und die Arbeitsmarktpolitik nicht so aktiv wie heute. Die nach heutigen Standards geringen Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung konnten nicht verhindern, dass überall in den Vereinigten Staaten, Europa und Asien der Konsum massiv einbrach. Heute dagegen wirken die gut ausgebauten sozialen Sicherungssysteme in Westeuropa wie automatische Stabilisatoren. Vor allem in Deutschland konnten die negativen Auswirkungen der Exporteinbrüche auf den Arbeitsmarkt mit der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes bisher aufgefangen werden. Fast 50 Prozent der Ausgaben des Bundes gehen in die soziale Sicherheit: für Rente, Gesundheit, gegen Arbeitslosigkeit. Allein im Jahr 2008 waren das mehr als 140 Milliarden Euro, in diesem Jahr sind es sogar noch viel mehr. Damit sichert der Staat gerade in der Krise den Konsum breiter Bevölkerungsschichten und stabilisiert zugleich die Konjunktur.

Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre war keine zwangsläufige Folge des Börsencrashs von 1929. Damals wie heute hatten wir es mit einem unglaublichen Ausmaß an Marktversagen zu tun. Damals wie heute konnte nur der Staat helfen. Gerade deswegen lag der Grund für die Große Depression in den politischen Fehlern, die beim Management der Krise seinerzeit gemacht wurden.

Wenn die Regierungen weltweit heute die Fehler von damals unterlassen - also Protektionismus vermeiden, eine antizyklische Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, weder vor aktiver Industriepolitik noch, bei Bedarf, vor einer (Teil-)Verstaatlichung von Banken zurückschrecken, und den Finanzmärkten global gültige Regeln auferlegen -, dann gibt es keinen Grund, warum uns heute eine Weltwirtschaftskrise bevorstehen sollte.

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