Die Zukunft ist weiblich

Der alte Feminismus ist mausetot - und die "Frauenfrage" nicht mehr das Problem, sondern Teil der Lösung. Wenn sie mit den Anforderungen des 21. Jahrhunderts klar kommen wollen, müssen die Männer von den Frauen noch eine ganze Menge lernen

Wer geglaubt hat, der demografische Wandel sei vor allem ein ostdeutsches Thema, muss sich mittlerweile eines Besseren belehren lassen. Nicht nur in Ostdeutschland gibt es Regionen, die besonders stark altern, aus denen viele Menschen abwandern und in denen die Bevölkerung zurückgeht. Auf den bunten Karten zur Bevölkerungsentwicklung, etwa zur Geburtenquote oder zur Bevölkerungsdichte, zieht sich eine demografische Schneise von Mitteldeutschland und Mecklenburg-Vorpommern über Nordhessen, das Ruhrgebiet bis hin zum Saarland und Nordbayern. Die Umrisse der DDR sind auf diesen Karten fast nicht mehr erkennbar. Denn auch die alten Bundesländer werden alt. Und auch dort gibt es Verlierer- und Gewinnerregionen.

Nur auf einer Bevölkerungskarte tritt die DDR optisch noch deutlich hervor: beim Geschlechterverhältnis. In Ostdeutschland kommen mittlerweile auf 100 Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren nur noch etwa 90 Frauen. In manchen ostdeutschen Regionen sind es sogar nur noch 80. Das sind europäische Spitzenwerte – Grund genug, sich dieses Phänomen genauer anzuschauen. Im Osten scheint sich mehr zu verändern als nur ein Zahlenverhältnis.

In Ostdeutschland gab es in den neunziger Jahren zwei Abwanderungswellen: eine zu Beginn und eine gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts. Per saldo sind über eine Million Menschen in die alten Länder gewandert. Verlief die erste Wanderungswelle noch quer durch alle Bevölkerungsschichten, war die Mehrzahl der Abwanderer der zweiten Welle überdurchschnittlich jung, überdurchnittlich gut ausgebildet und – nicht arbeitslos. Vor allem Frauen suchten ihr Glück in den alten Ländern. Rund 63 Prozent der Abwanderer seit 1991 waren weiblich. Damit leben in Ostdeutschland mittlerweile etwa 10 Prozent weniger Frauen als noch Anfang der neunziger Jahre.

Jahrelange Abwanderung, noch dazu von jungen Frauen, reißt Löcher in die Gesellschaft. In vielen Gemeinden im Osten kann man es bereits auf der Straße spüren: Die jungen Leute fehlen einfach. Besonders schmerzlich ist die Abwanderung angesichts der noch immer geringen Geburtenrate. Ohne potenzielle Mütter wird die Zahl der Kinder nicht steigen. Doch mit der Abwanderung der Frauen geht mehr verloren als nur Familienglück.

Verlierer der Transformation

Nach der Wende hieß es noch, Frauen seien die Verlierer der Vereinigung. Im Jahr 1993 betrug die Arbeitslosenquote unter Frauen in Brandenburg 21 Prozent, unter Männern dagegen nur 10 Prozent. Im Jahr 1997 waren sogar 24 Prozent der Frauen arbeitslos. Seitdem sinkt die Frauenarbeitslosigkeit kontinuierlich und liegt heute bei 17 Prozent. Die Arbeitslosigkeit unter Männern hingegen ist beständig angestiegen. Sie beträgt heute 19 Prozent und ist damit bereits im vierten Jahr in Folge höher als unter Frauen.

Die Männer scheinen die Verlierer der Transformation zu werden, und zwar nicht nur in Ostdeutschland. Mit dem Niedergang der klassischen Industrien gehen auch die herkömmlichen Beschäftigungsverhältnisse für Männer verloren – gerade für diejenigen mit ungenügenden oder veralteten Bildungsvoraussetzungen. Stattdessen nehmen die Dienstleistungsjobs zu, die sich zur Domäne von – obendrein immer besser ausgebildeten – Frauen entwickeln.

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Frauen in Gymnasien und Hochschulen unterrepräsentiert. Mittlerweile gehen Zukunftsforscher davon aus, dass Frauen in 15 Jahren fast zwei Drittel der Abiturienten stellen könnten. Bereits im Jahr 2002 gab es in Deutschland 615.000 männliche Hauptschüler, aber nur 480.000 Hauptschülerinnen. Und einer Million Gymnasiasten standen über 1,2 Millionen Gymnasiastinnen gegenüber.

„Nach oben“ heiraten? Wen denn bitte?

Hat die Frauenbewegung also all ihre Ziele erreicht? Ist sie vielleicht sogar über ihre Ziele hinaus geschossen? Wohl kaum. Noch immer sind Führungspositionen überwiegend Männersache, noch immer lastet auf vielen Frauen der größte Teil der Familienarbeit. Dennoch: Der alte Feminismus ist tot. Die „Frauenfrage“ ist heute nicht mehr das Problem, sondern Teil der Lösung.

Zurück nach Ostdeutschland. Eigentlich herrschen hier die besten Voraussetzungen, um Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Im Osten sind Frauen häufiger als im Westen berufstätig, und hier gibt es genügend Kita-Plätze. In Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg stellen Frauen sogar mehr als die Hälfte aller Beschäftigten, im Saarland dagegen sind nur 42 Prozent der Beschäftigten weiblich. Trotzdem wandern deutlich mehr Frauen als Männer aus dem Osten ab, die Geburtenrate ist hier immer noch im Keller – und geheiratet wird auch nicht. Die meisten Kinder in Ostdeutschland kommen „unehelich“ zur Welt.

In manchen Gegenden Ostdeutschlands, etwa in Vorpommern, kommen schon heute nur noch 74 Frauen auf 100 Männer. In den Dörfern zurück geblieben sind die Alten, die Arbeitslosen und die schlecht Ausgebildeten. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass der Alkoholkonsum dort dreimal höher ist als in Westdeutschland. So entsteht auf regionaler Basis eine randständige Gesellschaft, in der die Menschen wenig Hoffnung haben und keinen Mut, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Das Vertrauen in die Zukunft fehlt ebenso wie der Kitt, der stabile Familien zusammenhält.

Trotz der Emanzipation der Frau hat sich das Heiratsverhalten von Frauen und Männern in Deutschland wenig geändert. Frauen heiraten „nach oben“, Männer schauen bevorzugt „nach unten“. Noch immer gibt also ein Anwalt eher einer Sekretärin das Jawort, eine Lehrerin hingegen geht nur selten eine Partnerschaft mit einem Handwerker ein. Diese Tradition wird nun dadurch untergraben, dass Mädchen besser lernen als Jungen. Wenn Frauen auf der beruflichen und sozialen Leiter nach oben steigen, können sie immer seltener „nach oben“ heiraten, während die Männer sich sozial immer weniger nach unten orientieren können. Das verschärft die Lage auf dem Heiratsmarkt, und zwar ausgerechnet in den Gegenden, wo „Mann“ die Frauen am meisten bräuchte.

Die Probleme der Zukunft sind männlich

Einige Bevölkerungsforscher glauben, die Disproportion der Geschlechter im Osten werde langfristig größere und schwerer wiegende Auswirkungen haben als die niedrige Geburtenrate. Die Effekte werden jedoch nicht so sehr quantitativer, sondern vor allem qualitativer Natur sein. Was soll eine gut ausgebildete und mobile junge Frau auch in einem Ort anfangen, in dem nur noch „die arbeitslosen Deppen ohne Chancen auf Paarbeziehungen und Familien“ den Ton angeben, wie es ein Regionalplaner unlängst formulierte? Heimatverbundenheit allein hilft nicht.

Viel deutet also darauf hin, dass die Probleme der Zukunft in Ostdeutschland männlich sein werden. Abhelfen könnte eine integrierte Familien-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik.

Erstens brauchen wir eine weibliche Wirtschaftspolitik. Angesichts des absehbaren Fachkräftemangels entdecken die Unternehmen derzeit die Frauen zunehmend als „Arbeitskraftreserve“. Doch die Wirtschaft muss künftig viel stärker bereit sein, die Bedürfnisse von Familien ernst zu nehmen. Gute Kita-Plätze mit flexiblen Öffnungszeiten und familienfreundliche Arbeitszeiten sind das Minimum. Zweitens sind familienfreundliche Kommunen gefragt. In der Wissensgesellschaft ist Familienfreundlichkeit für Städte und Dörfer schon heute ein Markenzeichen, das junge Paare anzuziehen vermag. Zu einer guten Betreuung von Kindern und Eltern gehören Netzwerke zwischen Kitas, Ämtern, Gesundheits- und Familieneinrichtungen. Dazu gehören billiges Bauland für Familien, kinderfreundliche Wohngebiete, Jugendangebote und ein intensiver Austausch zwischen den Generationen.

„Männerförderung“ statt „Frauenprogramme“

Drittens muss, wer Frauen halten oder sie gar zurückholen will, Kontakte pflegen. Erste Rückholagenturen gibt es in Ostdeutschland bereits. In Ostsachsen haben sich Unternehmen zusammengeschlossen und informieren im Internet über freie Jobs. Großes Aufsehen erlangten die „Heimatschachteln“, die in Magdeburg an die Abgewanderten geschickt wurden. Theatergutscheine und Hallorenkugeln allein werden sicherlich niemanden zur Heimkehr bewegen, doch mittlerweile haben viele Unternehmen den Reiz der Aktion erkannt. So können sie Verbindungen herstellen zu den Jungen, Flexiblen und gut Ausgebildeten, sie bei Bedarf direkt ansprechen und auch noch die Einarbeitungszeit sparen – angesichts des steigenden Fachkräftebedarfs ein unschätzbarer Vorteil.

Viertens werden wir „Männerförderprogramme“ statt „Frauenpläne“ brauchen. Schließlich ist seit einiger Zeit bekannt, dass die Jungen das eigentlich schwächere Geschlecht sind. Ihr Anteil unter den Schulabbrechern ist weit höher, ihre schulischen Leistungen sind schlechter. Zudem streben sie noch allzu häufig in „alte“ Berufe, anstatt in die zukunftsträchtigeren Technologie- und Dienstleistungssektoren. Die jungen Männer orientieren sich noch zu sehr an ihren Vätern – und das führt häufig in die Irre.
Jungen lernen offenbar wirklich langsamer. Sie brauchen mehr und intensivere Förderung in der Kita und in der Schule, sie brauchen mehr Hilfe bei der Berufswahl und sogar Nachhilfe bei der Familiengründung. Denn den jungen Männern von heute fehlen zeitgemäße Rollenvorbilder, besonders im Osten. Allein in der Industrie sind in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten 2,5 Millionen einfache Jobs verschwunden, und zwar hauptsächlich die von Männern. In derselben Zeit entstanden 1,5 Millionen Arbeitsplätze für Akademiker, von denen die Mehrzahl weiblich ist.

Die Männer sind damit das eigentliche Problem der Kinderlosigkeit in Deutschland. Unter den 40- bis 44-jährigen Akademikern hatten im Jahr 2003 satte 36 Prozent keine Kinder. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr 1971. Bei den Frauen hingegen ist dieser Wert von 40 auf 33 Prozent gesunken. Wenn die Geburtenrate in Deutschland steigen soll, wird es um mehr gehen als um Elterngeld und Kindereinrichtungen. Es wird um eine neue Einstellung gerade bei den Männern gehen – zur Familie, zum Beruf und zu ihrer eigenen Zukunft.

Viele Frauen sind längst weiter

Letztlich aber kommt es auf die Frauen an. Das mag wie eine Beschwörung aus den alten Zeiten des lila Feminismus klingen, aber viele Frauen sind längst weiter. Sie haben den Wert guter Bildung und Ausbildung längst für sich entdeckt. Sie sind flexibel und familienorientiert zugleich. Sie wollen Karriere und Kinder. Damit haben sie die Politik der Emanzipation der Achtundsechziger weiterentwickelt und um ein neues, selbstbewusstes und realistisches Zukunftsbild ergänzt.

Wenn man sie lässt, werden Frauen gerade in Ostdeutschland die zentrale Rolle spielen. Ihre sozialen und beruflichen Fertigkeiten braucht diese Region dringend. Es ist jedoch an den Männern, den Unternehmen, den Kommunen, der Politik, der Gesellschaft insgesamt, die Frauen nicht zu verscheuchen.

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