Die Zukunft der Wissenspolitik

Wird alles das, was gedacht wird, auch ausgeführt? Nichts scheint so unaufhaltsam wie das Denken. Und, wie von nicht Wenigen behauptet wird, alles ist machbar oder wird bald machbar sein. Wenn man Gene arbeiten oder arbeitslos werden lassen kann, dann kann man auch das Altern (als Strafe) beschleunigen oder (als Belohnung) verlangsamen. Dass wir immer mehr machen können, ist unstrittig. Strittig ist hingegen die Frage, was wir mit Hilfe neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse tun wollen oder müssen. Das Dilemma könnte nicht größer sein!

I ch möchte mich einem der wahrscheinlich wichtigsten und zu möglicherweise endlosen Kontroversen Anlass gebenden Themen der nächsten Jahrzehnte zuwenden. Und zwar will ich die Frage nach der Überwachung und Kontrolle neuer Erkenntnisse im Sinne zusätzlicher Handlungsmöglichkeiten stellen und damit der Entwicklung eines neuen Politikfeldes, nämlich der Wissenspolitik, auf die Spur kommen.

Die Wissenspolitik ist nicht Ergebnis des vagen, unbestimmten Gefühls, dass eine Konsolidierung oder ein langsameres Wachstum des Wissens sinnvoll wäre. Im Mittelpunkt der Wissenspolitik finden wir strategische Bemühungen, neue Erkenntnisse und technische Erfindungen und damit zugleich die Zukunft im Zentrum der kulturellen, ökonomischen und politischen Matrix der Gesellschaft zu verankern. Wissenspolitik hat zum Ziel, dem Wissen in Zukunft eine bestimmte gesellschaftliche Karriere zuzuordnen. Ihre Aufgabe ist, neue Erkenntnisse und technische Artefakte zu regulieren und zu kontrollieren, indem Regeln und Sanktionen formuliert werden, die für relevante Akteure den Umgang mit bestimmten Erkenntnissen mitbestimmen.

Bedenken und Ängste über die gesellschaftlichen, psychologischen und moralischen Folgen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien werden nicht erst heute laut. Werner Sombart forderte schon vor über sechzig Jahren den Staat auf, einen Kulturrat einzurichten. Aufgabe des Kulturrates sollte es sein, Erfindungen und Erkenntnisfortschritte danach zu prüfen, ob sie ins Museum gehören oder ohne Auflagen praktisch realisiert werden dürfen.

Es lassen sich dennoch überzeugende Argumente dafür vorbringen, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaften und der Technik eine neue moderne Phase erreicht ist.

Das erste kontrollierte gentechnische Laborexperiment fand 1972 statt. Der erste außerhalb des Körpers einer Frau gezeugte Mensch wurde 1978 geboren. Die gegenwärtige kontroverse Diskussion um embryonale Stammzellen, Neurogenetik, Xenotransplantationen oder reproduktives Klonen macht beispielsweise deutlich, dass die Frage nach den sozialen Folgen der praktischen Umsetzung ungebremst expandierender (natur)wissenschaftlicher Erkenntnisse zur dringlichen Problematik der öffentlichen Diskussion und der politischen Tagesordnung wird.

Nicht selten mündet diese Diskussion in den Ruf nach einer Überwachung und bewussten Steuerung der Erkenntnisgewinnung und Anwendung des Wissens. Wie kann man vermeiden, so wird zunehmend gefragt, und hiermit sind keinesfalls nur die Folgen der Nukleartechnologie gemeint, dass die unglaublich erfolgreichen modernen Wissenschaften und Techniken uns auslöschen? Natürlich ist mit diesen sorgenvollen Fragen ein bestimmtes normatives Selbstverständnis der Menschen verbunden. Es wäre aber zu leicht zu glauben, man könne die Forderungen nach Intervention als irrationale Sorge oder als antimoderne Reaktion erledigen.

Doch genau welche Erkenntnisse sollten überwacht werden, wie sollen sie gesteuert werden, und wer ist verantwortlich? Und welches Wissen ist notwendig, um Wissen zu überwachen? Muss man neue Erkenntnisse und Technologien so regulieren, wie man dies zum Beispiel im Fall der öffentlichen Lehrpläne oder des Verkehrswesens tut? Lautet die Antwort nein, wäre wichtig zu wissen, aus welchen Gründen. Ist die Antwort eher zustimmend, wäre zu fragen, um welche Erkenntnisse es geht und in welchem Interesse so entschieden wird. Werden wissenschaftliche Erkenntnisse damit (wieder) zu einem privaten Gut? Es muss oder es soll gehandelt werden. Aber wie ist es um die Identität der handelnden Akteure bestellt? Und wie organisiert man eine Überwachung des Wissens? Eines ist sicher: Das, was ich in diesem Beitrag Wissenspolitik nennen möchte, wird die politische Landschaft verändern.

Mich interessieren in diesem Zusammenhang, erstens, die Entwicklungsbedingungen der Wissenspolitik und, zweitens, die Grundlagen und Chancen des neuen Politikfeldes. Entscheidend für die Chancen und Grenzen der Wissenspolitik ist die Dynamik des kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen gesellschaftlichen Kontextes, häufig auf der Makro- und nicht der Mikroebene, wie zum Beispiel Laboratorien, Experimente oder Theorien. Der relevante gesellschaftliche Kontext verändert sich in der Tat rapide. Angesichts des Herrschaftsverlusts der großen gesellschaftlichen Zweckinstitutionen lassen sich aber keine zuverlässigen Zukunftsszenarien herausarbeiten. Dennoch präsentieren sich die großen gesellschaftlichen Institutionen auch in diesem neuen Politikkontext nicht als Mängelwesen sondern immer noch als handlungsfähige Systeme der gesellschaftlichen Steuerung.

Warum zunehmend Macht über Wissen ausgeübt wird

Der Begriff der Wissenspolitik scheint auf den ersten Blick zu signalisieren, dass es vorrangig um eine Prohibition in der Verwendung neuen Wissens geht. Doch dies täuscht. Wissenspolitik kann sich sehr wohl mit der Erarbeitung und Durchsetzung neuer Optionen für die praktische Realisierung von Wissen befassen. Viele interessensgeleitete Gruppen der modernen Gesellschaft bestehen beispielsweise darauf, dass ihre Vorstellungen und Bedürfnisse durch politische Maßnahmen etwa auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, der Umweltpolitik, dem Bildungswesen oder der Sozialpolitik durchgesetzt werden. Zu diesen Forderungen gehört natürlich auch die Implementation neuer Erkenntnisse und technischer Möglichkeiten durch eine flankierende Wissenspolitik.

Solange allerdings Gesellschaften die Tugend der auf Eigeninteresse basierenden individuellen und korporativen Initiative und des Entscheidungshandelns fördern, stützt das Kollektiv, wenn auch nur passiv, die ungehinderte Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Erfindungen. Allerdings dürfte ein Unterlassen des Handelns, auch angesichts des sich verändernden Stellenwerts der Wissenschaft und Technik in der Gesellschaft, immer weniger auf öffentlichen Zuspruch hoffen können.

Ich will mich im Rahmen dieser Überlegungen vorrangig mit der Frage der Kontrolle des Wissens und nicht seiner wie auch immer gearteten Förderung beschäftigen. Jede Reflexion zur "Überwachung des Wissens" muss sich illusionslos der generellen Unvollkommenheit, Zerbrechlichkeit, Obsoleszens, aber auch der wachsenden Globalisierung und oftmals praktischen Erfolglosigkeit von Projekten versichern, die auf eine Regulierung sozialen Verhaltens in und über die Grenzen von modernen Gesellschaften hinaus abzielen. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass auf Regulierungsversuche unmittelbar eine Deregulierung folgen kann, wie dies im Fall der Gentechnik Anfang der achtziger Jahre in den USA zu beobachten war. Darüber hinaus kann die rasante Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens immer wieder Anlass sein, auf wissenspolitische Regulierungsmaßnahmen zu verzichten. Die regulative Politik wird mit Sicherheit oft von der Dynamik der Erkenntnisse eingeholt und überholt. Man kann beispielsweise auf die jüngst gemachte Entdeckung einer besonders vielseitigen Gruppe von adulten Stammzellen aufmerksam machen: Die Entdeckung dieser aus dem Knochenmark gewonnenen Stammzellen kann die kontroverse Diskussion und die regulative Politik der Anwendung von embryonaler Stammzellentherapie überflüssig machen.

Aber warum kommt es überhaupt zum Entstehen des Politikfeldes Wissenspolitik? Warum ist man zunehmend bereit, Macht über Wissen auszuüben? Die lange verbreitete Vorstellung, dass die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse eigentlich nur nützlich und wichtigste Quelle menschlichen Fortschritts sei, gilt nicht mehr. Warum ist man anscheinend nicht mehr bereit, die "naturwüchsige" Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fertigkeiten als Segen zu begreifen, als Entschlüsselung der Rätsel der Natur, als Emanzipation von Lasten und Schmerzen, als Instrument für eine bessere Gesellschaft, als Realisierung dessen, was den Menschen von anderen Kreaturen unterscheidet, als Schlüssel zu umfassendem Wohlergehen oder einfach als Befreiung von "ewigen" natürlichen und gesellschaftlichen Zwängen aller Art? Die herkömmliche Vorstellung und die Erfahrungen mit Spezialwissen, das allgemeinen Respekt verdiene, und die These, Wissenszuwachs sei Wertschöpfung, der dem Menschen automatisch Nutzen bringe, sind zunehmend kritischen Stimmen ausgesetzt. Sobald man nicht mehr bereit ist, wie zum Beispiel der amerikanische Biochemiker Robert Sinsheimer skeptisch betont, die Produktion und die Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen als humanitäres Projekt zu begreifen, das heißt als eine nützliche Aktivität, die als solche gut ist, ist man bereit, die Folgen dieser Tätigkeit zu disziplinieren.

Es ist also angesagt, sich erneut und vielleicht noch dringlicher, als dies in der Vergangenheit der Fall war, Gedanken über die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft zu machen. Die Sorge, dass wir zu viel wissen, dass wir der Wissenschaft viele unserer aktuellen gesellschaftlichen Probleme verdanken und dass die Menschheit sich anschickt, Gott zu spielen beziehungsweise zur "Selbsttransformation der Gattung" (Habermas) ansetzt, ersetzt zunehmend die Furcht, wir könnten immer noch unter umfassenden Wissenslücken leiden.

Wenn Eltern über das genetische Erbe ihrer Kinder entscheiden

Mit Recht kann man angesichts der Forderungen nach einer Regulierung des Wissens fragen, ob nicht wissenschaftliche Erkenntnisse, die zum Beispiel eine Verlängerung der du rchschnittlichen menschlichen Lebenserwartung ermöglichen, sobald sie als Handlungsmöglichkeit entdeckt worden sind, auch zur Anwendung kommen werden? Warum soll man warten, bis jemand krank wird, bevor man ihn ärztlich behandelt, wenn Gentherapien dies schon sehr viel früher ermöglichen? Muss man andererseits wesentlich verbesserte, individuell spezifizierbare Vorhersagemöglichkeiten der Lebenserwartung des Einzelnen fürchten? Wollen wir in einer Welt leben, in der die Kontrolle aller kontrollierbaren genetischen Mängel und Chancen machbar ist, und dies sogar, bevor der Mensch überhaupt krank wird? Auf welche Weise will der Staat oder wollen andere sich als zuständig definierende Institutionen bei der Überlegung zukünftiger Eltern, über das genetische Erbe ihrer Kinder entscheiden zu können, intervenieren? Sollte das Recht des Einzelnen auf autonome Entscheidungen in einem solchen Fall Vorrang haben oder sollten bestimmte Verweise auf das Allgemeinwohl vorgeben, wie wir uns gegenüber neuen Erkenntnissen und technischen Möglichkeiten zu verhalten haben? Dieser Fragen- und Aufgabenkatalog droht angesichts der Tatsache, dass wir in einem Zeitalter der Deregulierung leben bzw. dass diejenigen, die sich für eine neoliberale Agenda und damit für die Zurückdrängung des Staates aus vielen Lebenszusammenhängen stark machen, erfolgreich waren, noch undurchsichtiger zu werden.

Dass die zukünftige Wissenspolitik außergewöhnliche politische Koalitionen zustande bringen wird und dass vormals zerstrittene Gruppen politische Gemeinsamkeiten entdecken, die unter Umständen nicht lange halten, ist nicht schwer vorauszusagen. Wichtige, emotional und politisch aufgeladene Debatten in der modernen Gesellschaft über die Rolle der Wissenschaft, der Medizin, über die Kontrolle unseres Körpers, die erwünschten Beziehungen von Umwelt und Gesellschaft, den Sinn technischer Entwicklungen und menschlicher Selbstbestimmung und über die Verbindung von Ethik und Erkenntnis werden nicht nur symbolisch neu konstituiert, sondern neu geschrieben, wenn nicht sogar neu entdeckt.

Auf zwei Unterscheidungen muss von Anfang an verwiesen werden: Einmal ist dies der Unterschied zwischen Forschungs- und Wissenspolitik. Mein Interesse gilt der Wissenspolitik. Die in jüngster Zeit kontrovers diskutierte Frage der menschlichen Stammzellenforschung gehört ganz eindeutig in den Bereich der Forschungspolitik. Forschungs- und Technologiepolitik verweist auf die Konstitution und Fabrikation von Erkenntnissen, auf die Individuen, die solche Erkenntnisse produzieren, auf den sozialen Kontext, in dem Wissen erzeugt wird, auf steuerpolitische Anreize oder Tarif- und Zollbestimmungen, auf die Subvention von Forschung und Entwicklung und die angeblichen Erträge und Folgen, die die Förderung der Wissenschaft legitimieren. Das Ziel der Forschungspolitik ist natürlich, Einfluss auf die Entwicklung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Erfindungen zu gewinnen.

Forschungsergebnisse fallen nicht vom Himmel

Im Gegensatz dazu sind mögliche praktische Ergebnisse der Stammzellenforschung ein strittiges Element der emergenten Wissenspolitik. Das von Wissenschaftlern gemachte Versprechen, dass die embryonale Stammzellenforschung enorme therapeutische Erfolge nach sich ziehen wird, macht aber schon deutlich, dass eine strenge Trennung von Forschungs- und Wissenspolitik in der Praxis nur sehr schwer möglich ist. Ein Argumentationsstrang in Disputen über die Stammzellenforschung verweist demnach auf Fragen der Forschungspolitik, das heißt ein Verbot des reproduktiven und des therapeutischen Klonens embryonaler Stammzellen, wie vom amerikanischen Repräsentantenhaus schon Ende Juli 2001 mit großer Mehrheit beschlossen, tangiert die Forschung, während gleichzeitig auf die instrumentelle Bedeutung von potenziellen Forschungsresultaten als Rechtfertigung für die Notwendigkeit der Forschung hingewiesen wird. Die praktische Umsetzung erst noch zu fabrizierender und zu erlernender technischer Fertigkeiten wird damit ebenfalls nicht einer späteren separaten wissenspolitischen Diskussion überlassen, sondern vorab legitimiert.

Die Wissenspolitik kann sich somit sehr wohl als Regulierungsmaßnahme unmittelbar in die Wissensproduktion verlagern. Und damit wären Forschungs- und Wissenspolitik praktisch deckungsgleich. Ein eindeutigeres Beispiel für den Unterschied zwischen Forschungs- und Wissenspolitik ist das von der amerikanischen Regierung 1975 untersagte Vorhaben eines Harvard-Teams, eine genetische Untersuchungsreihe auf XYY-Chromosom-Muster durchzuführen. Die von dem Team verwendete bekannte Technik zur Erkennung des Chromosoms sollte darüber Aufschluss geben, ob es einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein dieses Chromosoms und abweichendem Verhalten gibt. Auf Grund wachsender öffentlicher Proteste, so vom Children′s Defense Fund, entschloss sich die amerikanische Bundesregierung, die Untersuchungen zu stoppen.
Gleichzeitig werden bestimmte Grundsätze sowohl der Wissenschafts- als auch der Wissenspolitik von vorherrschenden politischen Grundüberzeugungen in ähnlicher Weise beeinflusst sein. Beherrschen zum Beispiel stark interventionistische (oder sogar planwirtschaftliche) Vorstellungen die Gesellschaftspolitik, so dürften Forschungs- und Wissenspolitik durch Bemühungen gekennzeichnet sein, die Autonomie der Wissensproduktion zu beschneiden, die Forschung planvoll zu instrumentalisieren und die Implementation von neuen Erkenntnissen nicht vorrangig dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen. Die argumentative Trennung von Wissens- und Forschungspolitik soll nicht heißen, dass neue Erkenntnisse als exogene Phänomene im Prozess gesellschaftlichen Wandels verstanden werden. Neue Erkenntnisse sind endogene Faktoren. Sie sind Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse. Sie fallen nicht vom Himmel oder machen sich mehr oder weniger zufällig bemerkbar.

Eine zweite Differenz bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen der Steuerung herkömmlichen, tradierten Wissens und der Regulierung neuer, noch nicht realisierter Erkenntnisse und technischer Fertigkeiten. Kultur ist Kontrolle. Sie diktiert, diszipliniert und reguliert, und hat dies schon immer getan. Neu ist allerdings nicht nur die Beschleunigung des Wachstums zusätzlicher Erkenntnisse, sondern auch die Art der zusätzlich generierten Handlungsmöglichkeiten, deren gesellschaftliche und politische Steuerung und Überwachung unter Umständen ansteht.

Unter der Vielzahl aktueller Nachrichten, die auf die von mir ins Auge gefasste Problematik der Wissenspolitik verweisen, sei an dieser Stelle zur Illustration auf wenige relevante Meldungen verwiesen: Im September 2001 gibt der Vorsitzende des Ethikrates der American Society for Reproductive Medicine bekannt, dass es akzeptabel sei, wenn zukünftige Eltern das Geschlecht ihres Kindes im Rahmen einer künstlichen Befruchtung bestimmen. Eine Organisation, die eine Reihe von Kliniken in den USA betreibt und die um diese Entscheidung gebeten hatte, ließ unmittelbar darauf verlautbaren, sie werde die Technik der Geschlechtswahl ihren Patienten ab sofort anbieten. In den USA gibt die Food and Drug Administration Anfang Juni 2001 bekannt, dass sie den Verkauf von Fleisch und Milch geklonter Tiere nicht genehmigen wird, solange nicht feststeht, dass diese Lebensmittel "sicher" sind und die fraglichen Techniken keine "Gefahr" für die Umwelt und die Tiere darstellen. Eine Studie der National Academy of Sciences soll Antworten auf diese Fragen bringen. In Deutschland lässt das Bundesverbraucherministerium ebenfalls Anfang Juni verlauten, dass der kommerzielle Anbau von Genmais (Maissorte Artuis) nicht mehr zugelassen wird. Die fragliche Maissorte ist gentechnisch gegen ein bestimmtes Unkrautvernichtungsmittel resistent gemacht worden. Sofern das Herbizid Verwendung findet, vernichtet es ausschließlich nicht resistente Pflanzen. Auch in diesem Fall werden weitere Prüfungen durch das Bundessortenamt angekündigt.

Man muss sich illusionslos Gedanken darüber machen, welches Wissen und welche Wissensformen wir brauchen, um in Zukunft die Folgen von zusätzlichen Erkenntnissen und die Chancen von Wissenspolitik in einer globalisierenden Welt einschätzen zu können. Allerdings lassen sich diese Überlegungen nicht allein auf ethische Reflexionen reduzieren. Man muss nicht nur angesichts der Vielfalt und damit der Strittigkeit moralischer Standards skeptisch sein, dass ethische Werte alleinige Grundlage einer Wissenspolitik sein können. Da neues Wissen in modernen Gesellschaften nicht nur zunehmend zur wichtigsten Quelle zusätzlicher ökonomischer Wertschöpfung wird, sondern auch zur Grundlage gesellschaftlicher und politischer Macht, lässt sich die Wissenspolitik nicht auf moralische Appelle, religiöse Edikte und gesetzliche Verordnungen reduzieren. Es wird mit Sicherheit eine regulative Wissenspolitik geben, auch ohne dass vorab ein guter Einblick in die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse oder ein gesicherter Überblick über die Folgen der Eingriffe der regulativen Politik vorliegen wird.

Die moderne Gesellschaft findet nicht statt - sie wird gemacht

Die Entwicklung des Politikfeldes Wissenspolitik ist eine, wenn auch verzögerte Reaktion auf die außerordentliche Geschwindigkeit, mit der neue Erkenntnisse und technische Möglichkeiten in modernen Gesellschaften zunehmen. Mit einer zutreffenden Metapher des Ökonomen Adolph Lowe kann man die moderne Gesellschaft als eine Sozialordnung beschreiben, in der die Verhältnisse aus der Sicht des Einzelnen nicht mehr nur, wie in der Vergangenheit, einfach stattfinden, sondern in der mehr und mehr Handlungsumstände und Verhaltensweisen von den Akteuren "gemacht" werden. Die moderne Gesellschaft lässt sich als eine Wissensgesellschaft beschreiben, weil ein wachsender Teil der gesellschaftlichen Handlungsräume und Handlungsabfolgen von Erkenntnissen mitbestimmt und durchdrungen ist. In Wissensgesellschaften verstärkt sich die Handlungsfähigkeit des Individuums signifikant. Die Bandbreite dessen, was der Einzelne sich vorzustellen vermag, und dem, was er tatsächlich tun kann, verschiebt sich massiv. Die Grenzen des Machbaren erweitern sich. Anders formuliert, sowohl im Fall der großen gesellschaftlichen Institutionen als auch im Fall der Individuen verschieben sich die Gewichte von Bedingtheit und Freiheit. Die Summe von Bedingtheit und Freiheit ist nicht unbedingt fixiert. Sowohl Freiheit als auch Bedingtheit können wachsen, aber auch abnehmen. In Wissensgesellschaften wächst im Fall von Individuen und kleinen sozialen Gruppen das Gewicht der Freiheit, während sich der Grad der Bedingtheit schmälert. Für die großen gesellschaftlichen Institutionen vergrößert sich die Bedingtheit, ohne dass die Freiheit (ihren Willen durchzusetzen) steigt. Und damit wird die Verantwortlichkeit für herrschende Zustände in modernen Gesellschaften auf eine sehr viel größere Basis verschoben.

Der gesellschaftliche Stellenwert der Wissenspolitik nimmt in der Tat in diesem Jahrhundert eine umfassendere und größere Bedeutung ein, als dies bisher je der Fall sein konnte. Das wachsende Gewicht der Wissenspolitik in der Gegenwart lässt sich auf eine Reihe von Faktoren und Entwicklungen zurückführen, die ich kurz aufzählen möchte:

Erstens, es sind neue Wissensformen (und damit ein neuer Typus von Handlungsmöglichkeiten), die alarmieren oder zu umfassenden Versprechungen verleiten. Die Erkenntnisform selbst verändert sich. Der Weg von der Grundlagenforschung zur angewandten Forschung und zur kommerziellen Anwendung ist in einigen Wissenschaftsfeldern, wie zum Beispiel in der molekularen Biologie, besonders kurz und direkt. Grundlagenforschung und angewandte Forschung sind sich erheblich nähergerückt, so dass von einer "produktorientierten Grundlagenforschung" gesprochen werden kann. Die Identifikation eines Gens ist identisch mit den Tests für das Gen. Diese neuen Wissensformen entspringen einer immer weiter wachsenden Spezialisierung in der Wissenschaft sowie einer massiven Förderung bestimmter Forschungsfelder durch öffentliche und kommerzielle Gelder. Die Grenzen der Machbarkeit scheinen sich radikal zu verschieben; biotechnologische Verfahren machen es beispielsweise möglich, DNA-Strukturen unmittelbarer menschlicher Kontrolle auszusetzen. Die versprochene bio-utopische Zukunft läuft auf eine Kontrolle des biologischen Schicksals des Menschen hinaus. Die Grenzen der "Unverfügbarkeit" (Habermas) verändern sich, aber nicht nur, wie fälschlicherweise oft unterstellt wird, durch "Erkenntnisfortschritte" in den Biowissenschaften, sondern auch in anderen Wissenschaften, wie zum Beispiel der Meteorologie.

Völlig unmöglich scheint gar nichts mehr

Zweitens, der Stellenwert der Wissenspolitik nimmt nicht nur angesichts der Beschleunigung, mit der unser Wissen zunimmt, neue Formen an, sondern auch als Ergebnis der wachsenden Möglichkeiten, mit neuem Wissen in Kontakt zu kommen.

Drittens, mit der rapiden Zunahme multiplizieren sich unsere Handlungsmöglichkeiten und -optionen, da Wissen Handlungskapazitäten oder Modelle für die Wirklichkeit repräsentiert. Der Stellenwert des Wissens für die Ökonomie, die Politik (als Lieferant politischer Themen und Probleme) und andere gesellschaftliche Institutionen wächst. Und in diesen Institutionen wachsen damit auch, ganz neutral formuliert, Reflexionen über die dadurch verursachten potenziellen Veränderungen. Nichts erscheint mehr unmöglich. Aus der Einsicht in die Macht der modernen Wissenschaft und Technik erwächst aber auch eine andere, skeptische Einstellung zur Ertragsrechnung ihrer Anwendung.

Viertens, obwohl jede technische Erfindung und jeder wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt ohnehin stets von doppeldeutigen Reaktionen begleitet war, ist neuerdings zu beobachten, dass es in der Bewertung der gesellschaftlichen Folgen der Wissenschaft und Technik eine bemerkenswerte Verschiebung der Akzente gibt, weg von der Lösung einmal aufgetretener Probleme, die sich aus der Anwendung von Technik und Wissenschaft ergeben, hin zur möglichen Reduktion oder Prävention nicht gewollter Folgen. Man ist zwar immer noch sowohl begeistert als auch besorgt, und oft sind es nicht einmal unterschiedliche Personen oder Gruppen, die zwiespältig, sowohl alarmiert als auch hoffungsvoll auf neue Erkenntnisse reagieren. Aber die einst verbreitete Haltung, eine nachträgliche Entsorgung der unangenehmen Folgen sei ausreichend, wird zunehmend skeptisch beurteilt. Fragen wie "Sollen wir diese Erfindung überhaupt anwenden"? konkurrieren zumindest auf dem Gebiet medizinischer Entdeckungen fast zwangsläufig mit der Frage "Können wir es verantworten, sie nicht anzuwenden"?

Das Tempo, mit dem neue Erkenntnisse und technische Fertigkeiten dem bestehenden Wissensfundus hinzugefügt werden, hat nicht nur das Bewusstsein bestärkt, dass Wissen zum Motor sozialen Wandels wird, sondern hat auch existierende Besorgnisse, Ängste und Unsicherheiten gestützt und neue Bedenken geweckt, dass mit diesem Wachstum der Erkenntnisse und den möglichen gesellschaftlichen Veränderungen, die durch sie erst denkbar und dann unter Umständen auch in Gang gesetzt werden, Risiken und Bedrohungen verbunden sein können. In Perioden rapiden sozialen Wandels werden wie immer diejenigen Stimmen lauter, die eine Regulierung und Steuerung der Kräfte fordern, die für die beobachteten Veränderungen verantwortlich gemacht werden.

Fünftens, Versuche, neues Wissen und neue technische Fertigkeiten zu kontrollieren lassen sich nicht abkoppeln von den Kontingenzen von Zeit und Ort. Die Gebundenheit der Kontrolle des Wissens an bestimmte Kontexte verweist unmittelbar auf das Dilemma jeder Wissenspolitik, dass auch in einer auf Grund der Globalisierungskräfte angeblich ständig schrumpfenden Welt der Legitimität, der Herrschaft und den Kontrollmöglichkeiten über die Differenzen von Sozialsystemen hinaus Grenzen gesetzt sind.

Sechstens, die umfassende, erfolgreiche Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fähigkeiten im militärischen, industriellen und medizinischen Bereich im vergangenen Jahrhundert erklärt die große Wertschätzung der Wissenschaft und Technik in vielen Teilen der Öffentlichkeit. Szientismus oder technokratische Ansätze, die Entscheidungsmöglichkeiten über alternative Verwendungsmöglichkeiten von Wissenschaft und Technik in der Regel verneinen, verlassen sich in extremer Weise auf diesen traditionellen, unstrittigen Ruf der Wissenschaft. Die Autorität der Wissenschaft lässt kaum Zweifel an ihr zu. Allerdings gab es den guten Ruf der Wissenschaft nie ohne diejenigen, die ihn schmälern wollten. Der Szientismus kommt zunehmend unter Druck. Zweifel an technokratischem und szientistischem Denken begann in den sechziger Jahren zu wachsen, als besorgte Stimmen in der Öffentlichkeit Gehör fanden, die vor den Umweltrisiken wissenschaftsbasierter Produkte warnten. Zweifel und Besorgnisse dieser Art stützen die Möglichkeit und Legitimität einer regulativen Wissenspolitik.

Wichtig für die Chancen und die Art der praktizierten Wissenspolitik ist natürlich auch, dass das Wachstum des Wissens nicht ausschließlich das Ergebnis einer unverfänglichen Neugier ist, die Geheimnisse der Natur und der Gesellschaft zu entschlüsseln. Die Produktion von Wissen ist ebenso durch ökonomische und militärische Ziele mitbestimmt. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse für ökonomische Zwecke behandelt die sozialen Belastungen und umweltverändernden Folgen in der Regel als exogene Kosten und Ex post-Entwicklungen. Und wie der Begriff der exogenen Kosten schon andeutet, sind antizipierte Lasten und Kosten vorrangig nach der Realisierung von Wissen zu behandeln und eventuell zu reduzieren. Eine wachsende Lücke zwischen Lasten und erhofften Erträgen wird aber den Ruf nach einer proaktiven Regulierung des Wissens und der technischen Möglichkeiten verstärken. Die Organisationsformen, der Grad der Einbindung der Bürger und die Art der Regulierung zusätzlicher Erkenntnisse werden zu einem relevanten Indikator für den Grad der "Zivilisiertheit" gesellschaftlicher Beziehungen.

Zum Thema des Essays hat der Autor voriges Jahr im Verlag Suhrkamp das Buch Wissenspolitik: Die Überwachung des Wissens veröffentlicht. 327 Seiten kosten 13 Euro.

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