Die Macht der neuen Öffentlichkeit

Das Zeitalter der betreuten Öffentlichkeit ist ein für allemal Geschichte. Diese war homogen, hilflos - und anfällig für Manipulation durch mächtige Institutionen. Die neue Öffentlichkeit der Gegenwart dreht den Spieß um - und setzt die alten Mächte unter Druck

There has developed in the modern West a deep fear of being ,manipulated‘ – of the invasions of privacy which seem inevitable in a widely participant society“, schrieb 1959 der amerikanische Politologe Daniel Lerner.1 War seine Besorgnis gerechtfertigt? In meinen Thesen zur Macht der neuen Öffentlichkeit werde ich der Frage nachgehen, warum die Gefahr einer Verführung der Öffentlichkeit in den westlichen Gesellschaften durch die großen Ideologien nicht mehr gegeben ist, warum die sorgenvolle Frage von Günter Grass, ob „uns die Wiederholungstat in Runenschrift vorgeschrieben“ sei, ebenso hinfällig erscheint wie Daniel Lerners Befürchtungen.

Ich werde meine Überlegungen in einer Reihe von Gedankenschritten voranbringen: Erstens möchte ich auf die Differenz zwischen der betreuten Öffentlichkeit und der neuen Öffentlichkeit aufmerksam machen. Meine These ist, dass sich das Gewicht von betreuter zu neuer Öffentlichkeit radikal verschoben hat. Zweitens zeige ich, welche gesamtgesellschaftlichen Veränderungen für diesen Wandel verantwortlich sind. Drittens will ich auf einige vielleicht triviale Beispiele dieses gesellschaftlichen Wandels verweisen, aber auch auf durchaus gravierende soziale und politische Konsequenzen dieser Entwicklung eingehen. Insgesamt werden mit dem Aufstieg der neuen Öffentlichkeit konstitutive Konturen der zukünftigen Gesellschaftsordnung sichtbar.

Zuerst geht es also um den Unterschied von betreuter und neuer Öffentlichkeit. Die betreute Öffentlichkeit ist nicht nur eine unmündige Öffentlichkeit, sondern eine weitgehend machtlose, unorganisierte, manipulierte, entfremdete, hilflose, unpolitische Masse. Es ist die Masse der Massengesellschaft, wie man diese Gesellschaftsformation gern bezeichnete. Die betreute Öffentlichkeit ist kein homogenes Sozialgebilde; aber in allen ihren öffentlichen Rollen und Positionen manifestiert sich vorrangig ihre essentielle Hilflosigkeit und gleichzeitig ihre Offenheit gegenüber ideologischen Manipulationen vielfältigster Art, sei es gegenüber den Autoritäten in der Schule, im Beruf, beim Konsumverhalten, den Medien oder der Politik.

Als die Eliten noch Eliten waren

Diese Eigenschaften der betreuten Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften lassen sich am besten in einem Rückgriff auf die Gesellschaftsdiagnosen der ersten Nachkriegsjahrzehnte verdeutlichen und erklären, zumal die Gesellschaftsdiagnosen dieser Zeit auch eine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit betreuter Öffentlichkeit bereithalten.

Mit leidenschaftlicher Stimme sprach beispielsweise 1956 der amerikanische Soziologe C. Wright Mills – absolut dem Zeitgeist entsprechend und von vielen anderen intelligenten Beobachtern unterstützt – von der uneingeschränkten gesellschaftlichen Herrschaft der Eliten der großen gesellschaftlichen Institutionen: der Wissenschaft, der Politik, des Staates, der Konzerne, des Militärs und der Medien. Es komme zu einer Zentralisierung der Informationsmittel und der Medien, ja der gesellschaftlichen Macht schlechthin in den Händen weniger, und zwar derjenigen, welche die Spitzen der genannten gesellschaftlichen Institutionen okkupierten.

Was bleibt den von diesen Machtpositionen ausgeschlossenen Massen der Gesellschaft? Sie müssen die Betreuung ihrer Lebenswelt als natürlich hinnehmen. Mehr noch, es wird sogar Konsens mit den herrschenden Verhältnissen konstatiert. Widerstand ist zwecklos. Habituelle Folgsamkeit und weitgehender Gehorsam sind angesagt. Da die manifesten Interessen der betreuten Öffentlichkeit nicht ihre latenten Interessen waren, blieb eigentlich nur eine einzige Frage ungeklärt: Warum rebelliert die betreute Öffentlichkeit nicht?

Wie dem auch sei, in den Sozialwissenschaften der Nachkriegszeit setzte sich der Eindruck durch, dass die Öffentlichkeit eine weitgehend passive, die Herrschenden und die herrschenden Zuständen nicht weiter gefährdende Öffentlichkeit sei. Ich denke in diesem Zusammenhang nicht nur an die Spielarten des Neomarxismus, sondern auch an die Arbeiten von Michel Foucault und Pierre Bourdieu.

Der Machtverlust der großen Institutionen

Die neue Öffentlichkeit ist schnell beschrieben. Sie ist das Gegenteil der betreuten Öffentlichkeit. Sie fürchtet nicht mehr die Macht der großen Institutionen und lässt sich nicht mehr durch sie bestimmen und manipulieren. Welche sozialen Veränderungen sind für das Wachstum dieser neuen Öffentlichkeit verantwortlich? Ich möchte an dieser Stelle nur auf zwei Veränderungen aufmerksam machen. Und zwar auf zwei Transformationen, die relativ eng an den Status natürlicher Personen geknüpft sind.

Motor der Entwicklung hin zur neuen Öffentlichkeit ist die historisch einmalige Ausweitung des allgemeinen Wohlstands in der Nachkriegszeit und der gleichfalls historisch einmalig gestiegene durchschnittliche Wissensstand der Bevölkerung in den westlichen Gesellschaften. Der Aufstieg der neuen Öffentlichkeit ist mit einem Machtverlust der großen gesellschaftlichen Institutionen der Moderne verbunden. Aus der Sicht der großen gesellschaftlichen Institutionen der Moderne manifestiert sich Machtverlust vor allem durch das Nichtenscheiden. Das heißt, durch die Unfähigkeit der großen Institutionen, ihren Willen durchzusetzen.

Welche Folgen sind mit der neuen Öffentlichkeit verbunden? Die Präsenz der neuen Öffentlichkeit schränkt die Handlungsoptionen der Institutionen ein. Diese Tatsache wurde erstmals im Fall des amerikanischen Vietnamkrieges sichtbar. Der Widerstand der neuen Öffentlichkeit, neuer sozialer Bewegungen und neuer Bürgerinitiativen begrenzte die politischen Optionen der amerikanischen Regierung – etwa die nukleare Option – und führte schließlich nicht nur zum Ende des Krieges, sondern 1972 auch zur Aussetzung der Wehrpflicht.

Das Wachstum der sozialen Bewegungen

Die neue Öffentlichkeit macht sich allgemein durch das Wachstum und den zunehmenden gesellschaftlichen Einfluss sozialer Bewegungen bemerkbar – lokal, national und international. Die neue Öffentlichkeit macht im Sinne des agenda setting ihre Anliegen zu gesellschaftlichen Themen und übt Druck auf die großen Institutionen aus. Sie erhöht die Durchlässigkeit zwischen den sozialen Institutionen. Zivilgesellschaftliche Akteure werden zu ökonomischen oder politischen Akteuren, wenn etwa organisierte Opfer von Gewalt die Ausführung von Gesetzen oder sogar die Gesetzgebung selbst ändern; wenn der Widerstand gegen Atomkraftwerke zum Ausstieg aus dieser Form der Energieerzeugung führt; wenn kurzfristig die öffentliche Meinung mobilisiert oder verändert wird – und langfristig die Kultur einer Gesellschaft.

Natürlich bestehen Konfliktlinien auch innerhalb der neuen Öffentlichkeit, genau wie es Interessengegensätze in der betreuten Öffentlichkeit gibt. Und aufgrund des Gesetzes von der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger gesellschaftlicher Prozesse gilt auch in diesem Fall, dass wir es in modernen Gesellschaften mit Elementen beider Formen der Öffentlichkeit zu tun haben.

Zu den wichtigsten und bisher kaum erforschten Konfliktlinien in der neuen Öffentlichkeit wird ein clash of generations gehören, wie man ihn bisher nicht kannte. Und zwar ein materieller Konflikt, der in Zukunft den Konflikt der Klassen und jenen zwischen den Geschlechtern oder den der Kulturen schnell ablösen wird. Die neue Öffentlichkeit ist politisch zerstritten. Sie ist nicht unbedingt liberal oder konservativ. Und natürlich repräsentiert die neue Öffentlichkeit ein Problem für das, was man unter einem demokratischen Funktionieren von Demokratie verstehen mag.

Schließlich möchte ich noch auf wenige, eher einfache Beispiele der neuen Öffentlichkeit aufmerksam machen. Dass es sich um Beispiele für das Verhalten der neuen Öffentlichkeit handelt, erkennt man daran, dass die Repräsentanten einer großen gesellschaftlichen Institution von diesem Verhalten der Öffentlichkeit völlig überrascht waren:

Die öffentliche Trauer um Lady Diana im September 1997 machte zum ersten Mal deutlich, dass es nicht mehr die Medien sind, die sich ihre Heldinnen aussuchen – sondern es ist die Öffentlichkeit selbst. Als es damals in Großbritannien zur handgreiflichen Konfrontation zwischen der trauernden Öffentlichkeit und Medienvertretern kam, wurde dies besonders deutlich.

Die neue aktive Rolle der Öffentlichkeit manifestiert sich auch in der modernen Forschungs- und Wissenspolitik. Diese sind nicht mehr ausschließlich die Domänen von Experten, die darüber befinden, warum etwas ein Risiko darstellt beziehungsweise in welche Richtung sich die Forschungslandschaft entwickeln sollte. Die Partizipation der Öffentlichkeit in diesen politischen Arenen macht deutlich, dass die traditionelle Sicht überwunden wird, die Öffentlichkeit sei nicht in der Lage, in diesen Fragen unabhängig mitzusprechen.

Schließlich sei als jüngstes Beispiel noch auf die von der Fußballweltmeisterschaft faszinierte Öffentlichkeit in Deutschland verwiesen. Auch in diesem Fall, im Vorfeld und im Nachhinein, entwickelten sich die Dinge anders als vorausgesagt: Die Medien sowie die Repräsentanten anderer gesellschaftlicher Institutionen hatten Gewalt und Chaos prognostiziert.

Mit der neuen Öffentlichkeit wird gleichzeitig eine primäre konstitutive Kontur der zukünftige Gesellschaftsordnungen sichtbar: eine Gesellschaft, die weitaus zerbrechlicher ist, als ihre Vorgänger. Für die einstmals mächtigen gesellschaftlichen Institutionen wie den Staat, die Kirche, die Wissenschaft oder die Wirtschaft wird es immer schwerer, ihren Willen gegen die Macht der neuen Öffentlichkeit durchzusetzen.

1 Daniel Lerner, Social science: whence and whither?, in: Daniel Lerner (Hrsg.), The Human Meaning of the Social Sciences: Original Essays on the History and the Application of the Social Sciences. Cleveland, Ohio 1959, S. 13-39.

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