Die Zerreißprobe

Das Jahr 2015 wird sich später einmal im Rückblick als Wendepunkt der deutschen Geschichte erweisen. Entweder weil es uns gelungen sein wird, die in diesem Jahr millionenfach bei uns angekommenen Schutzsuchenden erfolgreich in unsere freiheitliche Gesellschaft zu integrieren. Oder weil wir daran gescheitert sein werden, den in unserem Land außer Kontrolle geratenden Hass wieder in den Griff zu bekommen. Die Situation ist da, jetzt kommt es auf uns alle an

2015 war das Jahr der Einwanderung und des Terrors in Europa. Man könnte auch sagen: Es war das Jahr des Verschlafens. Etwa eine Million Schutzsuchende und Einwanderer kamen nach Deutschland. Mit großer Herzlichkeit und überwältigender Hilfsbereitschaft empfing ein Teil der Gesellschaft die Neuankömmlinge. Und plötzlich wurden wir Deutschen weltweit für unsere vermeintliche Willkommenskultur gelobt und gerühmt. Die Welt bewunderte uns, weil wir Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit zeigten, Empathie und Toleranz in Zeiten der Intoleranz. Die Bewunderung hielt nur kurz. Bald danach brannten Asylunterkünfte und mehrten sich Angriffe und abfällige Äußerungen über diese Menschen, die da gekommen waren.

Es gab und gibt immer auch einen nennenswerten Teil unserer Gesellschaft, der gegen Flüchtlinge, Fremde, Muslime lautstark Stimmung macht. Jäh reißt dieser Teil das schöne Bild unserer Gesellschaft ein. Das Schlagwort der „Willkommenskultur“ wird dabei zur reinen Blendung. Von „Willkommenskultur“ reden heute vor allem diejenigen, die eben jene „Willkommenskultur“ aus tiefstem Herzen ablehnen. Die Existenz einer Willkommenskultur vorausgesetzt, könnten nationalkonservative Intellektuelle und Deutschomanen, wie ich sie nenne, nämlich prima dazu auffordern, jetzt doch bitte schön auch mal „kritischer“ im Umgang mit Flüchtlingen zu sein.

Hüten wir uns vor der Schutzbehauptung, diese Nationalkonservativen und Deutschomanen seien nur Anhänger und Mitglieder von NPD, Die Rechte, Pro NRW, AfD oder kommen vom äußerst rechten Rand der CSU. Nein, sie finden sich in allen Parteien – vorneweg in den großen Volksparteien CDU und SPD, aber ebenso bei der FDP, den Grünen oder in der Linkspartei. Will sagen: Das Problem geht uns alle an.

Das deutschomane Ideal ist die ethnisch und kulturell homogene Gesellschaft

Deutschomanen sind keine klassischen Rechtsradikalen. Die traditionellen politischen Kategorisierungen sind ebenso passé und in Auflösung begriffen, wie Rechtsradikale heutzutage nicht mehr mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln herumlaufen. Deutschomanen sind Bürger, die vor allem die völkischen Elemente des klassischen rechtsextremen Denkens übernommen haben, aber (zumindest äußerlich) Demokratie und Gewaltlosigkeit akzeptieren. Deutschomanen sind Bürger aus unserer Mitte, die wahnhaft dem „Ideal“ einer vermeintlich homogenen deutschen Gesellschaft anhängen, wie es sie ihren Vorstellungen zufolge nach dem Zweiten Weltkrieg und vor der Zeit der Anwerbung von „Gastarbeitern“ gegeben haben soll. Dabei verkennen sie, ob bewusst oder unbewusst, dass bereits heute jeder zehnte Deutsche einen Migrationshintergrund hat und Deutschland unter den OECD-Ländern bereits zum zweitbeliebtesten Einwanderungsland nach den Vereinigten Staaten geworden ist – deutlich vor den klassischen Einwanderungsländern Kanada und Australien.

Deutschomanen geben sich zwar rechts- und verfassungstreu, an den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten sollen aber ihrer Auffassung nach nur diejenigen teilhaben dürfen, die sie selbst als dafür geeignet erachten. Grundrechte erkennen sie bestimmten Gruppen nach Belieben zu oder ab. Derzeit fallen vor allem Flüchtlinge und Muslime aus ihrem Raster heraus. Doch das kann sich je nach Zeitgeist ändern und im Handumdrehen auch gegen andere Gruppen richten. Das gegenwärtig bekannteste Beispiel für diesen Grundrechte-Selektionismus ist die Religionsfreiheit für Anhänger der zweitgrößten Weltreligion, des Islam, denen man mal Vorschriften über ihre Kleidung (Stichwort: Burka, Kopftuch) machen, mal den Bau von Minaretten verbieten oder die Erteilung von Religionsunterricht in Schulen einschränken will.

Um mutmaßlich sachliche Argumente für solche Haltungen parat zu haben, grasen Deutschomanen und ihre Helfershelfer selektiv negative Medienberichte, Spekulationen, Halbwahrheiten sowie Lügen im In- und Ausland ab. So funktioniert die Hetze 2.0. Diese Strategie lässt sich seit Jahren beobachten.

Im Nachbarland Frankreich kam es im vergangenen Jahr zu zwei furchtbaren, gewaltigen Terroranschlägen, und uns allen stockte der Atem. Seither wird der Riss durch unsere Gesellschaft immer deutlicher, und auch Angela Merkels „Wir schaffen das“ konnte ihn nicht überwinden. Vollends manifestiert hat sich dieser Riss zur Jahreswende 2016: in der Silvesternacht. Ein Mob von vermutlich tausend Männern, vornehmlich aus Nordafrika stammend, fiel geradezu über Frauen auf dem Kölner Bahnhofsplatz her. Die Opfer wurden berührt, angemacht, beraubt und sexuell belästigt.

Die Silvesternacht 2015 – ein Wendepunkt unserer neueren deutschen Geschichte

Laut dem Innenministerium in Nordrhein-Westfalen wurden in Köln 1 527 Straftaten erfasst. Sie wurden von 1 218 Opfern angezeigt, 626 Menschen zeigten Sexualdelikte an. Die Wut, die Empörung ist verständlich. Diese widerlichen, sexistischen Straftaten müssen dringend aufgearbeitet werden. Doch statt sich auf die kriminalistische und juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen zu konzentrieren, wurden die Opfer von deutschomanen Interessengruppen instrumentalisiert. Von geifernden Männern, die vorgeben, mit ihrem Aktivismus Frauen beschützen zu wollen, aber Feministinnen mit abweichenden Meinungen ohne zu zögern eine Gruppenvergewaltigung an den Hals wünschen. All jene, die „schon immer gewusst haben“, dass Nordafrikaner und Araber ein grundsätzliches Problem mit Sexualität und Frauenbildern haben, fühlten sich bestätigt. Denn der arabische Mann ist in ihrer Wahrnehmung selbstverständlich „gewaltaffin und frauenverachtend“. Entscheidende Details und Informationen werden bei dieser Bewertung kaum beachtet. Vielen spielte der Vorfall in die fremdenfeindlichen Karten. Dabei trugen sie ihre Vorurteile so erfolgreich in die Öffentlichkeit, dass ein Großteil der an sich wichtigen Debatte über Frauenverachtung von rassistischen Grundgedanken geprägt wurde. Fünf Wochen lang diskutierte Deutschland darüber, ob und wie es zu den Ereignissen der Kölner Silvesternacht kommen konnte. Obwohl der tatsächliche Informationsfluss und die Erkenntnis selbst nach zwei Wochen eher gering ausfielen, überschlug sich die Öffentlichkeit geradezu mit Spekulationen.

Zu Recht haben wir das Vorgehen der Kölner Polizei verurteilt, die die Herkunft der Täter zunächst nicht bekannt gab – und so die Debatte um deren Herkunft noch intensivierte. Aber davon einmal abgesehen: Hätten wir nicht dieselbe Herkunftsdebatte geführt, wenn wir von Anfang an gewusst hätten, dass die Täter überwiegend Nordafrikaner waren? Hätten Rechtspopulisten diesen Vorfall dann weniger für ihre Zwecke benutzt? Nein, hätten sie nicht.

Wir haben dieselben rassistischen Ausfälle nach den Gewaltakten in München, Würzburg und Ansbach erlebt. Und da wurde unmittelbar, teilweise schon während der Tat über die Herkunft der Täter gesprochen. Und wieder hoben all jene, denen die grausamen Taten und deren Opfer im Grunde völlig egal waren, vorwiegend auf die Herkunft der Täter ab, um so auf die Motive zu schließen. Als in München klar wurde, dass ein Deutsch-Iraner die Tat begangen hat, war für viele der Vorhang bereits gefallen. Die einfache Gleichung lautete: Iran = Islam, Täter = Islamist! Dass es später darauf hinauslief, dass wir es offenbar mit einem rechtsradikalen Breivik-Verehrer und AfD-Sympathisanten zu tun hatten, der Türken und Araber hasste, zeigt, wie vorurteilsbeladen unsere öffentlichen Debatten zum Teil sind.

Klar ist: Wir haben ein Rassismusproblem in Deutschland – und das nicht erst seit 2015. Auf eine Welt, die sich rasch und massiv zu ändern scheint, reagieren die Menschen mit Angst. Sie suchen nach Erklärungen, nach Möglichkeiten, ihre neue Situation zu erfassen. Dazu werden ihnen immer wieder Sündenböcke angeboten. Nach dem Krieg waren es die Vertriebenen aus Ostpolen, dann kamen die Gastarbeiter, wahlweise unterteilt in „Itaker“, „Polacken“ oder „Kümmeltürken“, in den neunziger Jahren folgte dann die „Asylanten-Flut“, seit den nuller Jahren sind es die Muslime, und heute die Flüchtlinge.

Die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre waren von viel Leid und Schmerz und starken Emotionen geprägt. Zweifelsohne war 2015 ein sehr aufwühlendes Jahr, eines, das die Gemüter erhitzte – und gespalten hat. Die Ereignisse rund um die Silvesternacht stellen einen turning point in unserer neueren deutschen Geschichte dar. Diese Ereignisse waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die AfD – den politischen Stellvertreter der Deutschomanen par excellence – weiter nach oben spülte. Die Debatten wurden danach deutlich aggressiver, die Stimmung angespannter. Menschen, die sich sonst bei gemeinhin polarisierenden Themen (wie Einwanderung, Nahost, Religion) zurückgehalten hatten, wunderten sich, wie sie auf einmal verbal attackiert wurden, wenn sie aus Versehen das „Falsche“ zu den Ereignissen in Köln sagten. Die schweren Anschläge in Europa und den Vereinigten Staaten, in Brüssel, Orlando und Nizza beförderten diese Entwicklungen – und genau das ist das perfide Kalkül der Terroristen. Die Spaltung der westlichen Gesellschaft, das Schüren von Hass aufeinander, das ist ihr Ziel. Hass ist der Treibstoff der Terroristen. Ein Teil der deutschen Bevölkerung ist dazu übergegangen, den Terroristen als Adjutanten zu dienen und ihnen beim Verbreiten ihres Hasses zu sekundieren. Die einen haben sich Muslime und Einwanderer als Opfer ausgeguckt, die anderen Christen und alteingesessene Deutsche.

Seit Facebook und Twitter kann jeder seinen Hass öffentlich verbreiten

So verwundert es nicht, dass 2015 auch das Jahr war, das den Hass im Internet zum breiten Thema machte. Während früher der Hass der Massen darauf angewiesen war, dass ihm Medien oder bekannte Persönlichkeiten eine Stimme und mithin Öffentlichkeit verliehen, kann heute jeder selbst seinen Hass kundtun: auf Facebook, bei Twitter, in sämtlichen Kommentarspalten, die sich so bieten. Als im September 2015 in Österreich ein Lkw an der Autobahn abgestellt wurde, in dem sich die Leichen von 59 Männern, acht Frauen und vier Kindern befanden, konnte man im Internet folgende Kommentare lesen: „Österreich hat ein Gammelfleischproblem, auf der Autobahn wurde ein Lkw sichergestellt mit mindestens fünfzig Klumpen syrischem Gammelfleisch. Die Regierung von Österreich ist gerade am Überlegen, ob es das Gammelfleisch zu Lasagne verarbeitet und dann als Spende an die Flüchtlinge schickt.“ „Sachsen macht’s richtig. Raus mit diesem Schweinepack.“ Oder auch: „Gas rein, bis Ruhe ist!“

Ich würde besonders denjenigen, die das Gammelfleisch-Posting gemacht haben, gerne die Ausgabe des Magazins Stern vom 4. August 2016 unter die Nase halten. Der Autor Felix Hutt hat darin zusammen mit Ghofran Fetaiti in einem Akt von vorbildlichem Journalismus die Lebensgeschichten dieses syrischen „Gammelfleisches“ recherchiert: die Geschichten von echten Eltern, echten Mädchen, echten Jungen, echten Geschwistern, echten Freunden, echten Bekannten, die einmal voller Freude, Hoffnungen, Ängsten, Sorgen gelebt haben und deren Leben durch skrupellose Menschenhändler in jenem Lkw endete als „verwesende Körper, ineinander versunken, aneinandergelehnt, als stünden sie in einer überfüllten U-Bahn und wären eingeschlafen“; „ihre Füße bis zu den Knöcheln in einem Gemisch aus Kot, Urin und Leichenflüssigkeit“; ein Geruch, den Bergungsbeteiligte als unmöglich zu beschreiben bezeichneten.

Natürlich würde es keine Läuterung bringen, den „Gammelfleisch“-Postern diesen Artikel unter die Nase zu halten. Im Zweifelsfall würden sie ihre Postings nämlich relativieren: Es sei ja nicht ernst gemeint gewesen. Außerdem stürben anderswo auch Menschen. Wer weiß, ob die Toten nicht auch Verbrecher gewesen seien. Und so weiter und so fort. Es ist diese Abgestumpftheit, Empathielosigkeit und Uneinsichtigkeit, die maßgeblich für das Leid in der Welt verantwortlich ist. Zugleich spiegelt es die Hilflosigkeit des Rests der Gesellschaft gegenüber diesem Hass wider.

Wir erleben den Hass allerorten. Erst kocht die Wut virtuell im Netz hoch, dann real auf der Straße – wie brennende Unterkünfte oder geifernde Brüllangriffe auf verängstigte Flüchtlinge in einem Bus im sächsischen Clausnitz illustrierten. Deutschland scheint in Teilen zu einer Hassgesellschaft zu verkommen. Man schwadroniert offen über das Anheizen der Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, von der Wiedereröffnung von Treblinka, von Majdanek, von Auschwitz: sowohl im Internet als auch auf offener Bühne. Anfang Oktober 2015 spielte der Autor Akif Pirinçci bei einer Pegida-Kundgebung in Dresden mit folgendem Gedanken: „Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb“, sagte er und stellte damit die Gegner der deutschen Asylpolitik auf eine Stufe mit den Verfolgten und Ermordeten des NS-Regimes. Dafür bekam er Applaus. Ungestört redete er weiter, sammelte weiteren Applaus und Jubelrufe seiner Zuhörer ein. Natürlich bleiben Äußerungen wie die von Pirinçci nicht ungestraft, auch das gehört zur Wahrheit: Akif Pirinçci hat mit dieser Rede seine berufliche Zukunft aufs Spiel gesetzt und sich isoliert, selbst Freunde und Mitstreiter distanzierten sich von ihm. Die Staatsanwaltschaft verfolgt erste Hassparolen auf Facebook. Menschen verlieren ihren Job, ihren Ausbildungsplatz, weil sie gegen Menschengruppen gehetzt haben. Medien stellen Personen öffentlich an den Pranger, die Flüchtlingen Tod und Verderben an den Hals wünschen. Das sind erste Schritte, um deutlich zu machen: Stopp! Es gibt Grenzen. Aber: Ist es nicht schlimm genug, dass immer mehr Bürger überzeugt sind, es sei legitim, sich so zu äußern? Dass es Bürger gibt, die so etwas für „Meinung“ halten?

Demokratie ja – aber nur wenn sie der eigenen Meinung zum Triumph verhilft

In jeder öffentlichen Debatte, die den Gedanken an eine völkische deutsche Nation entlang ethnischer und religiöser, sprich christlicher Linien auch nur am Rande berührt, stößt man heutzutage unweigerlich auf diese Hetze. Wir erleben Menschen, die vorgeben zu diskutieren, aber nicht diskutieren wollen, sondern ganz im autoritären Sinne ihre Meinung zur Richtschnur erheben. Demokratie ja, aber nur wenn sie der eigenen Meinung zum Triumph verhilft. Und wenn das geschafft ist, werden anderslautende Stimmen ausgeschaltet. Ein klassisch diktatorisches Denken. Diese Menschen wollen ihre Grenzen abstecken, und alles, was jenseits dieser Grenzen liegt, wird abgelehnt.

Es fällt schwer, hier von einer Diskussions-„Kultur“ zu sprechen, es handelt sich eher um eine Diskussions-„Dekadenz“. Wir erleben eine Agonie des demokratischen Austauschs. Menschen haben sich zum Teil derart verrannt in ihren Überzeugungen, dass kein Zugang zu ihnen mehr möglich ist. Wie konnte es dazu kommen? Warum betrifft dies Menschen aus nahezu allen sozialen Schichten? Warum sitzen auch Oberstudienräte, Ingenieure, Ärzte und Professoren bei der AfD in der ersten Reihe und klatschen frenetisch, wenn eine Großgruppe von Menschen pauschal herabgewürdigt wird?

Natürlich betrifft das nur eine Minderheit in Deutschland – die AfD etwa steht in Wahlumfragen irgendwo zwischen zehn und 25 Prozent. Das heißt 75 bis 90 Prozent wählen derzeit keine AfD. Aber mit dieser Erkenntnis ist das Problem nicht erledigt, denn diese Minderheit der Autoritären injiziert ihr Gift in den breiten politischen Diskurs. Und dieses Gift wirkt weit über die eigentliche Gruppe dieser Aktivisten hinaus.

Viel zu lange wurde abgewartet und nicht richtig hingesehen

Bundesjustizminister Heiko Maas, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Facebook-Gründer Mark Zuckerberg haben sich des Hasses angenommen und denken zumindest schon einmal laut über Gegenmaßnahmen nach. Bereits im Jahr 2000 wurde als Ergebnis einer internationalen Konferenz mit dem Titel „Verbreitung von Hass im Internet“ eine „Berliner Erklärung gegen Fremdenfeindlichkeit und Hass im Internet“ veröffentlicht. Dort hießt es: „Wir sehen jedoch gleichzeitig mit großer Sorge, dass das Internet auch dazu genutzt werden kann und zunehmend genutzt wird, … Hass gegen Einzelpersonen und gegen Teile der Bevölkerung, insbesondere gegen Minderheiten zu verbreiten und zu schüren, und damit das friedliche Zusammenleben zwischen den Menschen zu zerstören oder in Gefahr zu bringen, nicht allein in der Gesellschaft eines Landes, sondern auch über die Grenzen hinaus.“

Seit der Berliner Erklärung ist allerdings nicht viel passiert. Was wir heute erleben ist eine unmittelbare Folge des lange missachteten Hasses im Netz. Warum haben wir also so lange die Realität verweigert und die Dinge einfach laufenlassen? Wieso haben wir den bürgerlichen Stichwortgebern dieses Hasses sogar breiten öffentlichen Raum gegeben, sie mit Preisen für die Fortentwicklung freiheitlicher Ziele und Werte bedacht und als couragierte Bürger gelobt, die es wagen, Klartext zu reden? Warum haben wir den Hass nicht schon viel früher thematisiert, statt abzuwarten, bis er aus dem Internet herausquillt und sich über die Straßen ergießt? Bis dieser Hass im Wahlerfolg einer Partei resultiert, die in ihrem Parteiprogramm Islamfeindlichkeit quasi als politischen Schwerpunkt festgelegt hat? Gerade der Aufstieg der AfD ist zu einem großen Teil das Ergebnis dieser frühen fremdenfeindlichen Bewegungen im Internet unter dem Deckmantel einer vermeintlichen „Islamkritik“. Heute meinen bereits viele hater, dass sie sich mit ihrem Hass nicht einmal mehr verstecken müssen. Denn sie haben angesehene Menschen, die sie sich zum Vorbild nehmen können.

Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch erklärte bereits vor zwei Jahren dem Rheinneckarblog: „Die derzeitige Rhetorik der CSU, die das Grundrecht auf Asyl infrage stellt und ständig von ‚Obergrenze‘ spricht, führt diese Verrohung des öffentlichen Diskurses konsequent fort.“ Und weiter: „Wenn selbst führende Politiker demokratischer Parteien wie Horst Seehofer sagen, man werde sich ‚bis zur letzten Patrone‘ gegen Einwanderung in die Sozialsysteme wehren, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn junge Menschen denken, Gewalt gegen Migranten wäre in Ordnung.“ Kommt es dann zu Anschlägen wie in Ansbach oder Würzburg, wird die Gefahr noch größer. Experten war schon lange klar, dass es irgendwann auch in Deutschland zu Anschlägen kommen wird. Ebenso klar war, dass es irgendwann zu Racheakten an Migranten kommt. Nur, wo soll das enden? Wollen wir wirklich den Einstieg in die Gewaltspirale fördern? Wollen wir wirklich, dass wir uns von Politikern, denen es bloß um den schnellen Profit bei Wahlen geht, dort hinein drängen lassen?

Das Beispiel Seehofer zeigt auch, dass die Dynamik zugleich in die andere Richtung wirkt: Etablierte Kräfte lassen sich von den radikalen Stimmungen treiben – nicht unbedingt direkt, offen heraus, bewusst. Politiker, Journalisten, Intellektuelle: Für alle ist diese neue Radikalität im Netz und auf der Straße eine Herausforderung. Und es gibt unterschiedliche Formen, damit umzugehen. Eine Strategie ist der Versuch der „widerspenstigen Zähmung“. Man versucht, die Radikalen einzufangen, indem man ihnen teilweise nach dem Mund redet, sie als „besorgte Bürger“ tituliert, nicht als Rassisten, wie es viele von ihnen in Wahrheit sind. Eine andere Herangehensweise ist die der Stigmatisierung: Radikale werden als solche bewusst ausgeschlossen aus den gesellschaftlichen Verhandlungen.

Das »feine Schweigen« führte schon einmal in die Katastrophe

Aus meiner Sicht ist die Idee des Appeasement ein fataler Trugschluss. Erkennen wir an, dass man nicht mit allen Menschen reden kann. Es wird immer welche geben, die sich dem gesamtgesellschaftlichen Konsens der Mitte verweigern. Es gab sie auch schon immer. Aber seit uns das Internet Live-Berichterstattungen und Standleitungen zu den Stammtischen der Republik liefert, fühlen wir uns dazu gedrängt, daran teilzuhaben, darauf eingehen zu müssen. Nur: Rassistisches Gedankengut gehört als solches benannt. Niemand kann und sollte mit überzeugten Radikalen diskutieren, denn um sachlichen Dialog geht es ihnen nicht. Sie wollen nur eines: die Oberhand gewinnen. Hier bleibt nur noch, sich dagegen zu positionieren. Diese Positionierung zielt weniger auf die Radikalen selbst, sondern auf den großen Teil der Mitte der Gesellschaft. Die Menschen in dieser Mitte müssen davon abgehalten werden, aufgrund von überbordender Propaganda und Gruppendruck einzuknicken. Dazu müssen aber auch die echten freiheitlich-demokratisch gesinnten Kräfte aktiv werden. Dafür müssen sie zum Teil dorthin, wo es schmutzig ist, wo es weh tut.

Von Friedrich Nietzsche stammt die Idee des „feinen Schweigens“, der Historiker Fritz Stern hat sie dann in seinem gleichnamigen Buch aufgegriffen. Das „feine Schweigen“ beschreibt die vornehme, gewiss auch bequeme Haltung gebildeter und gut situierter Menschen (Nietzsche nahm sich Goethe zum Vorbild), über das Vulgäre, Proletarische des gemeinen Volkes lieber hinwegzusehen. Fritz Stern nahm diesen Gedanken auf und übertrug ihn auf das Bürgertum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als dieses sich pikiert von dem Theater, das die junge NSDAP auf den Straßen aufführte, abwandte – in der guten Hoffnung, der Spuk würde schon bald wieder vorübergehen.

Im Mai 2016 griff der Spiegel Online-Kolumnist Georg Diez in seinem Beitrag „Sie taten liberal“ auf diesen Gedanken zurück und formulierte ihn anklagend gegen die gesellschaftliche Mitte, deren Vertreter wieder nur zusehen: „Sie weigerten sich, laut zu werden, sie waren sich zu gut dafür, in den Streit der Meinungen einzugreifen, sie überließen das Feld den Geiferern, sie taten liberal und hatten doch nicht gelernt, für diese Liberalität zu kämpfen.“

In der Praxis heißt dies aus meiner Sicht zum Beispiel: Wir müssen Politiker und Personen, die sich deutschoman äußern, öffentlich darauf festnageln, was das Ziel ihrer Vorstellungen ist, wie sie dieses erreichen wollen. Unsere öffentlichen Debatten kranken oft daran, dass jemand nur sagt, was er nicht will. Da wird kritisiert, polemisiert, beschimpft. Aber konstruktive und realistische Vorschläge zur Beseitigung von Problemen hört man nicht. Warum wird da nicht mehr nachgehakt? Weniger Schwammiges, mehr Konkretes – das benötigen unsere politischen Debatten. Was wollen Deutschomanen am Ende mit den Millionen Menschen mit Migrationshintergrund machen? Reicht es ihnen aus, wenn Burka und Minarette verboten sind? Oder geht es dann weiter? Weil ein Populist bekanntlich immer neues Futter braucht, da er sonst nicht funktioniert.

Wenn jemand sagt, er wolle nur die Einwanderung begrenzen, dann muss man nachfragen, wie es denn mit den „Fremden“ ist, die bereits im Land sind? Und dabei sollte man selbstverständlich berücksichtigen, dass die Vordenker der Bewegung stets darauf bedacht sind, seriös und bürgerlich zu erscheinen. Deutschomanen Wählern reicht es nämlich nicht, dass „nur“ die Einwanderung abgestellt wird. Was ist mit Bezirken wie Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh und anderen Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil? Sind die Wähler von AfD und die Anhänger von Pegida etwa damit einverstanden? Aufgabe von Journalisten und Politikern ist es, solche Fragen immer wieder zu stellen und rassistisches Gedankengut so zu entlarven.

Die »Gastarbeiter« sind so wenig Gäste wie die Übersiedler aus der DDR

Wir müssen den grassierenden Rassismus im Land offenen ansprechen. Die Zeit des beredten Schweigens aus Angst vor den Wählern oder der Mehrheitsbevölkerung ist vorbei. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, wohin dieser Weg führt. Wir müssen uns auf unsere demokratischen Verantwortlichkeiten besinnen, sie ganz klar abstecken und von jedem Mitglied der Gesellschaft einfordern. Mit der permanenten Verhandlung darüber, was man von Minderheiten in diesem Land fordern darf und muss, gelangen wir nicht zum Ziel. Es besteht längst Einigkeit, dass die Neuankömmlinge die Sprache lernen und die Gesetze dieses Landes einhalten müssen. Niemand bestreitet das. Nein, wir müssen endlich darüber sprechen, was unsere Bringschuld ausmacht. Und eine solche haben wir de facto. Es ist deutsche Politik gewesen, „Gastarbeiter“ ins Land zu holen. Sie und ihre Nachkommen arbeiten nun hier, zahlen Steuern, tragen zum Wohlstand bei. Sie sind keine Gäste mehr. Sie sind es ebenso wenig, wie die Übersiedler aus der ehemaligen DDR Gäste sind. Ferner tragen wir als Gesellschaft Verantwortung für die Menschen, die bei uns in Deutschland Schutz suchen – und zwar rechtlich und moralisch, denn wir sind mit unsere Außen- und Wirtschaftspolitik nun einmal nicht ganz unschuldig an der Misere in vielen Ländern der Welt.

Und es ist Aufgabe der Politik, diese Dinge zu erklären. Wenn sich eine Parole wie „Wir schaffen das“ festsetzt, dann ist es die Aufgabe der Politik, klarzumachen, was sie bedeutet. Aus Bequemlichkeit oder aus Furcht bloß darüber hinwegzugehen trägt zur Radikalisierung bei. Es hilft auch nicht, die Veränderungen lediglich abzulehnen oder sie einfach nur laufenzulassen. Der Soziologie Wolfgang Lepenies warnte in seinem Essay „Profiteure der Angst“ in der Welt: „Der Angst vor einem Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten kann man nicht damit begegnen, dass man den Wandel emphatisch begrüßt und sich vor Freude nicht zu halten weiß, dass ‚unsere Welt eine andere werden wird‘.“ Genauso wenig ergibt es einen Sinn, Populismus mit Populismus zu begegnen. Das führt nur dazu, noch mehr Menschen in die Arme der anderen Seite zu treiben oder diejenigen, die schon in der Nähe stehen, noch weiterzutreiben – entweder aus einer Opferhaltung heraus, aus Wut oder Trotz. Die gegenwärtigen Entwicklungen müssen nüchtern aufgezeigt, emotional nähergebracht und erfahrbar gemacht werden.

Und wenn die bisherigen Mittel und Wege der Politikvermittlung hier nicht mehr zum gewünschten Ziel führen, dann müssen sich die Politik- und PR-Berater etwas Neues einfallen lassen. Seit Jahrzehnten wird darüber geklagt, dass die Politik der EU den Menschen so fern ist – und nichts ändert sich daran. Statt in Floskeln und bunten Bildern zu reden, müssen die Menschen wieder ernstgenommen werden. Politik ist kein Showbetrieb. Seriöse Politiker brauchen eine Haltung, zu der sie stehen. Das bedeutet dann auch einzusehen, dass man nicht mit jedem reden kann und sollte. Ehrlicher Meinungsaustausch setzt voraus, dass Menschen gewillt sind, zuzuhören und mitzumachen. Eine Deradikalisierung erzwingen, kann man nur mit unlauteren Methoden. Nicht jeder Mensch wird am Ende dazu bereit sein, im Zweifelsfall auch Gegenargumente zuzulassen und diese zu bedenken. Nicht jedes Mitglied der AfD ist bereit, seine Position zur Debatte zu stellen. Und nicht jedes Mitglied der NPD ist nicht bereit seine Position zur Debatte zu stellen. Es muss also zunächst geklärt werden, ob jemand offen für Argumente ist. Erst dann sollte man reden oder verhandeln – gerne auch öffentlich, so dass andere Menschen an dem Austausch der Argumente teilhaben und davon lernen können.

Das schlimmste politische Instrument ist der Populismus

Klar ist: Die Herausforderungen, die auf unsere Gesellschaft zukommen, sind immens und müssen allen in aller Deutlichkeit und Schonungslosigkeit aufgezeigt werden. Wir müssen über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Deutschomanie sprechen, über all das, was permanent vor unseren Augen geschieht und doch nicht ernsthaft, sondern allenfalls oberflächlich thematisiert wird. Das schlimmste politische Instrument ist der Populismus. Der wirkt für den Urheber maximal bis zum Wahltermin positiv und richtet spätestens danach nur noch Schaden an, weil sich dann zeigt, dass Populisten keine Lösungen parat haben, sondern nur Phrasen.

Anfang 2016 spürte ich einen Respekt gegenüber Angela Merkel, den ich mir zuvor nicht hätte träumen lassen, nachdem ich die Kanzlerin aufgrund ihrer Volten – etwa bei der Energiewende – oder ihres penetranten Schweigens oder ihrer nichtssagenden Worte zu vielen wichtigen Dingen vor allem für einen reinen Machtmenschen ohne persönliche Überzeugungen gehalten hatte. Doch in der Flüchtlingsfrage stellte sie sich gegen große Teile der eigenen Partei, nahm Verluste in der Wählergunst hin, musste sich harten Attacken aus der Schwesterpartei CSU erwehren und setzte doch konsequent ihren Weg fort. Selbst nach den Anschlägen in Ansbach und Würzburg wich sie keinen Deut von ihrem Kurs ab. Sie wiederholte die Worte „Wir schaffen das“. Ihr muss klar gewesen sein, dass dies Schaum vor dem Mund ihrer Gegner erzeugen würde.

Und tatsächlich, einem pawlowschen Reflex gleich, folgten auf dem Fuße die ersten „kritischen“ Stimmen, die sich diesen Satz „beim besten Willen nicht zu eigen machen“ können. Als ob man ernsthaft glauben wollte, eine Bundeskanzlerin im elften Dienstjahr würde einen solchen Satz gedankenlos daher sagen und meinen, die Probleme würden sich nach kurzer Zeit von selbst lösen. Aber was zählt im Politbetrieb schon Logik, wenn man allein mit drei Worten beim Wähler hausieren gehen kann? Das muss aufhören.

Ich muss in diesen Zeiten immer wieder an Gerhard Schröder denken. Man mag mit seiner Politik nicht einverstanden gewesen sein, aber die Geradlinigkeit und die Konsequenz, mit der er für seine Überzeugungen einstand – sowohl das „Nein“ zu George W. Bushs Angriffskrieg gegen den Irak 2003 als auch die Hartz-IV-Reformen – nötigten mir damals ebenfalls Respekt ab. Ich glaube, in mir und vielen anderen Bürgern existiert eine Sehnsucht danach, dass Politiker wieder für eine Haltung einstehen und bereit sind, dafür auch Nachteile in Kauf zu nehmen. Belanglose Politik, der es sicht- und hörbar nur um Stimmenfang geht, ist furchtbar ermüdend, frustrierend, ärgerlich. Wenn Menschen der Politik wieder mehr vertrauen sollen, dann brauchen wir mehr Politiker mit Rückgrat, die Stürmen trotzen – gerade im Zeitalter des Internet mit seinen Shitstorms und in einer Gegenwart, in der der Populismus so vielen Menschen den Geist vernebelt. Kaum etwas ist schlimmer als etablierte Parteien, die sich dieser teuflischen Verlockung anschließen und selbst versuchen, durch populistische Avancen ein paar Prozentpunkte mehr einzuheimsen. Nirgends sind die Tretminen gegenwärtig breiter gestreut als auf dem Gebiet der Einwanderungs- und Integrationspolitik. Darum sind politische Tugenden und Standhaftigkeit hier ganz besonders gefragt.

Dieser Text beruht in Teilen auf dem Buch „Die Zerreißprobe: Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht“, das die Autorin soeben im Rowohlt-Verlag veröffentlicht hat. Es umfasst 240 Seiten und kostet 16,99 Euro.

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