Die volljährige Republik

Das vereinigte Deutschland wird in Kürze 18 Jahre alt - und es ist heute moderner und ostdeutscher, als viele glauben. Höchste Zeit, dass Ost und West gemeinsam ihre pubertäre Selbstbezogenheit ablegen

Am Ende ging alles ganz schnell. Im Herbst 1989 marschierten Zehntausende unter großer Gefahr in Leipzig über den Ring. Sie erfanden den Slogan „Wir sind das Volk“. Es folgte das Gefühl von Freiheit und Freude als die Mauer aufging und die Deutschen „das glücklichste Volk der Welt“ waren. Dann riefen die Menschen „Wir sind ein Volk“ und eröffneten den Weg zur deutschen Einheit. Der ersten Volkskammerwahl im März 1990 folgten Währungsunion, Einigungsvertrag und der 3. Oktober.

Das alles ist jetzt 18 Jahre her. Die vereinigte Bundesrepublik wird also erwachsen. Zum ersten Mal können junge Menschen wählen (oder sich wählen lassen), die die DDR überhaupt nicht mehr erlebt haben. Das neue Deutschland ist raus aus der Pubertät. Und mit ihr die erste Nachwendegeneration. Aber ist diese wirklich in einem „neuen“, einem anderen Deutschland aufgewachsen? Hat „ihr“ deutscher Herbst das ganze Land verändert oder doch nur den Osten umgekrempelt? Wie sieht es aus, dieses „erwachsene“ Deutschland? Ist die vereinigte Republik ostdeutscher geworden? Oder ist sie nur ein Abziehbild der alten Bonner Republik?

Ein bisschen unerwartet – und mancher Konservative erlebt es mit Schrecken – ist eine gesellschaftliche Modernisierung von Ostdeutschland in das vereinte Deutschland eingetröpfelt. Begonnen hat es 1992 mit einer Errungenschaft, die viele heute fast schon vergessen haben. Aufgrund der verschiedenen Rechtslagen in Ost und West brauchte das vereinigte Deutschland eine neue Regelung zum Schwangerschaftsabbruch. Nach einer kontroversen Debatte setzte sich am Ende eine Lösung durch, die die Fristenregelung der alten DDR mit bestimmten Indikationen verband.

Dieser Weg bedeutete für den alten Westen eine deutliche Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchgesetzes, wie sie ohne die Vereinigung nicht denkbar gewesen wäre. Anfang der neunziger Jahre noch heiß umkämpft, ist dieses Modell heute weitgehend anerkannt und unumstritten – und zwar in Ost und West. Es ist schlicht gesamtdeutsche Normalität geworden.

Etwas anders sieht es bei einem zweiten Thema aus, das derzeit die öffentliche Diskussion bewegt: dem Ausbau der Kinderbetreuung. Beim Blick auf den Versorgungsgrad mit Kita-Plätzen für die unter 3-Jährigen hat man immer dasselbe Bild. Bei den neuen Ländern wachsen die Balken in die Höhe von 30 oder 40 Prozent, für die alten Flächenländer verharren sie bei ein paar läppischen einstelligen Prozentpunkten. Und während die 3- bis 6-Jährigen im Osten größtenteils ganztägig in der Kita sind, werden ihre westdeutschen Altersgenossen meist mittags wieder abgeholt.

Was der Westen gerade erst lernt

Wer aus dem Westen nach Dresden, Döbeln oder Dessau gezogen ist, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Hier ist es vollkommen normal, wenn Mütter berufstätig sind. Und einen Kita-Platz zu bekommen, ist überhaupt kein Problem. Auf der anderen Seite wundern sich ostdeutsche „Abwanderer“ über die weithin fehlende Kinderbetreuung im Westen – und bisweilen auch über das leise geflüsterte Wort von der „Rabenmutter“.

Der Westen Deutschlands lernt gerade, dass er seinen jungen Frauen mehr anbieten muss als nur eine gute Ausbildung und einen ordentlichen Job. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf war in der Bonner Republik einfach geregelt: Der Mann war für den Beruf zuständig, die Frau für die Familie. Zwischen Ostsee und Thüringer Wald hat sich in die gesellschaftliche DNA ein anderes Modell eingegraben: Die berufstätige Mutter gehörte hier zum Normalfall, ein Kita-Platz war schlichte Selbstverständlichkeit. Das war vor der Wende so, und es ist auch heute noch normal. So erlebten alle ostdeutschen Landesregierungen in der Vergangenheit große Proteststürme bei dem Versuch, aufgrund zurückgehender Finanzen den sehr umfangreichen Rechtsanspruch auf Kita-Plätze auch nur maßvoll einzuschränken.

Kita-Plätze als Standortvorteil

Ganztägige Kita-Plätze sind heute ein zentrales Markenzeichen des Ostens. Vor nicht allzu langer Zeit wurde immer wieder auf die Kitas verwiesen, wenn diskutiert wurde, dass der Osten die Aufbau-Ost-Mittel nicht richtig verwende. Diesen Vorwurf macht heute keiner mehr. Regionen und Unternehmen nehmen die Angebote für die Kleinsten und ihre Eltern als das, was sie sind: ein Standortvorteil im Wettbewerb um Fachkräfte.

Mittlerweile hat sich die gesellschaftliche Debatte in Deutschland deutlich gewandelt. Die neuen Länder gelten nicht mehr als „Geldverbrenner“, sondern als Vorbilder, was ihre Krippen und Kindergärten angeht. Und dass Frauen sich nach Studium oder Ausbildung einen Job suchen, und nicht zuerst an Kinder, Küche und Garten denken, ist inzwischen auch im Westen normal. Vielleicht hätte diese gesellschaftliche Modernisierung ohnehin stattgefunden, zweifellos jedoch hat die ostdeutsche Lebenswelt diese Entwicklung beschleunigt und befördert. Mögen die letzten verbliebenen Dickschädel immer noch von „Herdprämien“ oder „Wickelvolontariat“ schwadronieren – das vereinigte Deutschland führt heute eine gänzlich andere Debatte als die Bundesrepublik vor 20 Jahren.

Auch die sehr emotional geführte Diskussion um das neue Elterngeld fand vor allem im Westen statt. In der DDR hatte es eine ähnliche Regelung schon einmal gegeben. Sie war mit der Vereinigung untergegangen. Renate Schmidt und Ursula von der Leyen haben der (west-)deutschen Gesellschaft mit ihrer modernen Familienpolitik einen kulturellen Schub gegeben und das Ende der Bonner Republik endgültig besiegelt – die Vorbilder aus dem Osten der Republik halfen dabei zweifellos. So erklären heute 80 Prozent der Frauen im Osten und im Westen, sie sähen keinerlei Grund, sich wieder mehr auf die Rolle der Mutter und Ehefrau zu besinnen. Allein bei den Männern bemerkt man noch den Unterschied: Im Osten wird diese Position ebenfalls von 80 Prozent geteilt, im Westen nur von 59 Prozent.

Und ein drittes Thema hat die Bundespolitik zuerst über Ostdeutschland erreicht: der demografische Wandel. Zwar hätte spätestens in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch im Westen klar sein können, wie sehr Geburtenrückgang und zunehmende Alterung an den Sozialsystemen rütteln würden. Geschehen ist jedoch nichts, die Diskussion blieb abwehrend und akademisch. Unvergessen ist der Arbeitsminister, der auf Leitern stieg und plakatierte, wie sicher die Rente sei. In den Jahre des Kohlschen Stillstands wurde der demografische Wandel einfach ausgesessen, als würde er vorbeigehen wie eine Kinderkrankheit.

Ruhrgebiet und Saarland sind als Nächste dran

Doch dann passierte 1990 im Osten etwas Unvorhergesehenes: Nach der Wende „weigerten“ sich die Ostdeutschen, Kinder zu bekommen. Die Geburtenrate sank auf ein Drittel des Vorwende-Niveaus. Weltweit wurden nur noch im Vatikan weniger Babys geboren. Zudem zogen hundertausende junge Leute vom Osten in den Westen. Mancher Ort in den neuen Ländern hat seit 1989 fast die Hälfte seiner Einwohner verloren – und der Schwund geht weiter. Sachsen-Anhalt hatte 1990 noch fast 3 Millionen Einwohner, 2020 wird es ein ganzes Drittel weniger sein. Die demografischen Turbulenzen im Osten wurden so groß, dass man sie nicht mehr beiseite schieben konnte.

Seit geraumer Zeit beschäftigen die ostdeutschen Landesregierungen nun Demografieexperten. Es werden Wege gesucht, wie mit weniger, aber älteren Menschen in dünn besiedelten Gegenden öffentliche Infrastruktur erhalten werden kann. Brandenburg hat nur noch die Hälfte der Schüler und schloss binnen weniger Jahre ein Viertel seiner Grundschulen. Bürger- und Rufbusse ersetzen öffentliche Buslinien; Ärzte werden mit Wohnungen aufs Land gelockt; Gemeindeschwestern sichern in manchen Regionen die medizinische Grundversorgung; jahrgangsübergreifender Unterricht ist wieder gang und gäbe; und weil es zu viele Wohnungen für zu wenige Menschen gibt, werden ganze Wohnviertel abgerissen.

Auch in den alten Ländern, insbesondere im Ruhrgebiet, im Saarland oder in Nordhessen, gibt es Regionen, die seit einiger Zeit deutlich an Einwohnern verlieren und weiter verlieren werden – nur hat dies bis vor kurzem kaum jemand wirklich zur Kenntnis genommen. Erst mit den dramatischen Veränderungen in den neuen Ländern rückte der demografische Wandel in die Mitte der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik. Und die ganze Republik profitiert davon. Der Osten verfügt heute über Erfahrungen im Umgang mit dem demografischen Wandel, die manche Kommune, manche Region und manches Land noch dankbar aufnehmen werden – nicht nur im Westen der Republik, sondern in vielen Teilen Europas. Weil so manche Wohnungsgesellschaft im Osten aufgrund des Bevölkerungsrückgangs Gefahr lief, Pleite zu gehen, wurde das „Stadtumbauprogramm Ost“ erfunden. Mit dem Programm wurden Wohnungen abgerissen, vor allem aber wurden ganze Stadtviertel aufgewertet und stabilisiert. Mittlerweile gibt es ein solches Programm auch für „schwierige Fälle“ in den alten Ländern. Damit hat die Bundesrepublik nun auch einen Schritt zur Normalität getan: Regionen, die gleiche Probleme haben, sollen gleich behandelt werden – ganz egal, ob sie im Norden oder Süden, im Osten oder Westen liegen.

Der Wendeherbst 1989 hat nicht nur Beschleunigung gebracht. Die Bewältigung der ökonomischen und sozialen Krise in Ostdeutschland hat auch viele Kräfte gebunden. Wie sehr unser Land mit sich selbst beschäftigt war, zeigt ein Blick auf unsere östlichen Nachbarn. Wer heute in Ungarn oder Rumänien unterwegs ist, sieht an jeder Ecke österreichische Banken und Geschäfte, und Frankreich hat beim Aufbau der polnischen Verwaltung geholfen. Die deutsche Binnenfixierung der neunziger Jahre hat dazu geführt, dass manche Chance im aufstrebenden Mittel- und Osteuropa ungenutzt blieb und mancher Markt dort bereits aufgeteilt ist.

Das verlorene Jahrzehnt wirkt weiter nach

Vor allem aber wurden die neunziger Jahre für Deutschland zu einem verlorenen Jahrzehnt, weil die Republik mental den Anschluss an die Globalisierung verlor. Zwar expandierten deutsche Unternehmen fleißig, noch immer sind wir Exportweltmeister. Made in Germany ist mehr denn je ein Markenzeichen. Doch im Inneren des Landes herrschte Stillstand: keine Debatte über die kreative Weiterentwicklung des Sozialstaates; keine Bemühungen, das Bildungssystem zu modernisieren, das Ausländerrecht anzupassen, die Gesellschaft zu öffnen und zu lüften, um die Chancen der Internationalisierung wahrnehmen zu können; statt vorwärts gerichteter Diskussionen nur Klagen über wegbrechende Industriearbeitsplätze in Ost und West. Zu sehr war das Land mit sich selbst beschäftigt – und hatte 1990 die Weichen einfach falsch gestellt. Die Devise hieß: Wir dehnen den rheinischen Kapitalismus auf den Osten aus. So wurden die Sozialversicherungen überstrapaziert und enorme Schuldenberge aufgetürmt. Dass die alten Rezepte nicht mehr so funktionierten wie in den siebziger und achtziger Jahren, bemerkte die Republik viel zu spät.

Es waren die immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen, vor allem im Osten, die deutlich machten, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Und es war die Regierung Schröder, die eine Kehrtwende in der deutschen Politik einleitete. Die dramatischen Reformen ab 2003 kamen spät, aber sie wurden die Grundlage dafür, dass Deutschland insgesamt heute besser dasteht. Zwar riefen gerade die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung die stärksten Proteste und Ängste in Magdeburg, Chemnitz und Senftenberg hervor. Doch mittlerweile zeigt sich auch, dass das Prinzip „Fördern und Fordern“ gerade da funktioniert, wo Probleme zuvor einfach nur mit Geld zugeschüttet worden waren. Von den Reformen der vergangenen Jahre profitieren die neuen Länder am stärksten. Die Arbeitslosigkeit geht im Osten so schnell zurück wie nirgends sonst. In Thüringen, Sachsen und Brandenburg ist sie mittlerweile auf einem Niveau wie zuletzt vor zwölf Jahren, in manchen Regionen liegt sie heute unter dem Niveau der alten Länder.

Viele Ostdeutsche haben in den vergangenen Jahren beklagt, dass die neuen Länder auf der bundesdeutschen Agenda weit unten firmieren. Bei Lichte betrachtet gibt es viel Grund zu Selbstbewusstsein. An vielen Stellen war der Osten ein Labor, ein Ort, an dem manche Probleme wie unter einem Brennglas schärfer und intensiver auftraten – und wo flexible und pragmatische Lösungen gefunden werden mussten. Dabei ist so manches entstanden, wovon heute das ganze Land profitiert. Der Osten hat dabei von einer „Umbruchkompetenz“ profitiert: dem Wissen, dass es auch ganz anders kommen kann, dem Willen, flexibel nach neuen Lösungen zu suchen und dem Vermögen, aus unerwarteten Situationen das Beste zu machen.

Jede Gesellschaft gibt ihre Erfahrungen und Gewohnheiten weiter. Wer die Debatten der vergangenen Jahre über die Modernisierung unseres Landes verfolgte, konnte sehen, dass die Ostdeutschen mit der Erneuerung aufmerksam, aber auch deutlich pragmatischer umgegangen sind. Sie profitieren davon, dass ihr Rucksack voll alter Gewohnheiten im Wendeherbst von 1989 ein bisschen leichter wurde. Die Ossis haben es in den vergangenen Jahren einfacher gehabt, weil der Blick in die vermeintlich „goldenen siebziger Jahre“ bei ihnen etwas nüchterner ausfällt als bei manchem Sozialstaatskonservativen aus dem alten Westen.

Auch in den kommenden Jahren wird es nicht an Themen mangeln, die besondes scharf im Osten auftreten – und dann langsam aber sicher die bundesdeutsche Agenda bestimmen. Ein Beispiel ist die Lage von Menschen, die sich nicht nur abgehängt fühlen, sondern es objektiv auch sind – sozial, ökonomisch und kulturell. 25 Prozent der Ostdeutschen gehören zum „abgehängten Prekariat“, hat unlängst eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgefunden, im Westen sind es nur 4 Prozent. Altersarmut aufgrund langjähriger Arbeitslosigkeit und unterbrochener Erwerbsphasen nach der Wende wird in den kommenden Jahren in Ostdeutschland zu einem der beherrschenden Themen werden, aber nicht nur dort. Der stark zunehmende Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften macht es gerade in den neuen Ländern notwendig, alle Anstrengungen darauf zu richten, dass jedes – und zwar wirklich jedes – Kind einen vernünftigen und zeitgemäßen Schulabschluss erreicht. Denn die aufgrund der eingebrochenen Geburtenzahlen „kleinen“ Jahrgänge der Nachwendezeit erreichen nun mit 18 Jahren das Berufsleben. Und mancher Unternehmer merkt, wie ihm langsam der Nachwuchs ausgeht.

Die Pubertät liegt jetzt hinter uns

Das vereinigte Deutschland zeichnete sich in seinen ersten 18 Jahren durch große Selbstbezogenheit aus. Das ist eine Haltung, die man jungen Menschen in der Pubertät ebenfalls nachsagt. Es ist zu hoffen, dass das Land mit seiner „Volljährigkeit“ endlich verstärkt und neugieriger über den Tellerrand hinausschaut. Die Ängstlichkeit der Deutschen vor wirtschaftlicher Globalisierung und gesellschaftlicher Modernisierung ist unangebracht. Deutschland ist nicht nur größer, sondern auch stärker geworden – sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Und die Ostdeutschen mit ihrer „Wendeerfahrung“ und „Umbruchkompetenz“, mit ihrer Flexibilität und Experimentierfreude haben erheblich dazu beigetragen.

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