Die Versöhnliche

Gesine Schwans emphatisches Bekenntnis zu einer neuen Kultur der Gemeinsamkeit verbindet Verantwortung und Solidarität

In ihrem Buch Allein ist nicht genug erneuert Gesine Schwan den klassischen Anspruch der Politik, ein „gemeinsames Gutes“ oder das „gute Leben“ anzustreben. Das Werk mit dem Untertitel „Für eine neue Kultur der Gemeinsamkeit“, das sie gemeinsam mit der Journalistin Susanne Gaschke verfasst hat, ist in erster Linie eine politische Grundsatzschrift, aber auch Gesellschaftsanalyse, sozialphilosophische Reflexion und persönliches Bekenntnis bis hin zu religiösen Fragen.

Die Botschaft der Kandidatin der SPD für das Bundespräsidentenamt lautet: Es gibt einen politischen Gestaltungsraum jenseits ökonomischer Zwänge. Eine Reformpolitik, die sich nicht aufs Sparen reduzieren lässt, ist möglich. Nun bedeutet dies noch nichts Originelles. Landauf, landab fordern Gewerkschaften, Sozialverbände und die Linkspartei das Primat des Politischen gegenüber der Ökonomie. Ansätze gibt es genug, die mit Verve die Ökonomisierung der Gesellschaft zurückweisen. Aber anders als sonst üblich ist Schwans Plädoyer frei von jeglichem Dogmatismus und Populismus. In ihrem Buch finden sich keine Verschwörungstheorien über gierige Manager und opportunistische Politiker, denen man nur das Handwerk legen müsse, um unbegrenzte Verteilungsspielräume zu gewinnen.

Ganz ohne Affekte und Kalkül

Im Gegenteil geht Gesine Schwan mit der linkspopulistischen Attitüde des „wir da unten“ gegen „die da oben“ hart ins Gericht. Überhaupt verzichtet sie auf jegliche Affekthascherei. Es ist erfrischend, wie wenig Kalkül in ihren Ausführungen zu spüren ist. Wäre der Begriff nicht so abgedroschen, man würde sie „authentisch“ nennen. Hier schreibt eine Frau, die die Kraft hat, ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile zu ihren Überzeugungen zu stehen. Wenn sie über ihre Kindheit schreibt, ahnt man, dass die Grundlage für diese Charaktereigenschaft ihr Elternhaus gelegt haben muss: Es war einerseits von starkem Leistungs- und Aufstiegswillen sowie von hohem Bildungsethos gekennzeichnet, andererseits von ausgeprägtem Verantwortungsgefühl und gelebtem sozialen Engagement.

Dass Gesine Schwan auch den härtesten Widerständen zu trotzen bereit ist, hat sie in den sozialdemokratischen Flügelkonflikten der siebziger und achtziger Jahre bewiesen. Als der linke Flügel der SPD nach 1983 zur Mehrheitsströmung avanciert war, gerieten die Akteure des Regierungsflügels, des Seeheimer Kreises, derart in die Defensive, dass sie in vielen Fragen fast völlig verstummten. Schwan gehörte zu den wenigen, die beharrlich ihre Meinung vertraten, obwohl ihr dies in der hoch ideologisierten Atmosphäre offene Feindschaft einbrachte. Dies galt nicht nur für ihren entschiedenen Antikommunismus, der in der SPD der achtziger Jahre nicht mehr en vogue war.

Liest man heute beispielsweise die Debatte in der SPD-Grundsatzkommission zum Leistungsprinzip, so erscheint Schwans Position im Rückblick als Fels pragmatischer Vernunft in der Brandung ideologischer Verklärung. Die Grundsatzkommission schickte sich an, sich vom „alten Arbeits- und Pflichtethos“ zu distanzieren, da „alle Leistungskriterien klassengeprägt“ seien. Gesine Schwan hielt dagegen, ein Verzicht auf den herkömmlichen Leistungsbegriff sei nicht möglich. Denn Leistung sei die „traditionelle Waffe im Kampf gegen ‚Macht und Geburt‘“.

Wenn sie heute über diese Konflikte berichtet, die mit ihrer Abwahl aus der Grundsatzkommission endeten, begleitet von schmerzhaften öffentlichen Kränkungen, dann tut sie das ohne Häme, aber mit der verständlichen Zufriedenheit derjenigen, die nicht nur Recht gehabt, sondern schließlich auch Recht bekommen hat. Gerhard Schröder hat es einst auf die Formel gebracht, Gesine Schwan habe sich weniger ändern müssen als er.

Erst Kommunist und jetzt Kaninchenzüchter

Dass es in Deutschland zuweilen an dem Vermögen fehlt, sich bei allen ideologischen Veränderungen treu zu bleiben und Rechenschaft abzulegen, wird in dem Buch treffend analysiert. Aufgrund der vielen Regimewechsel hätten viele Deutsche gleich mehrfache ideologisch-biografische Brüche erlebt, die sie in ihrer Selbstfindung gelegentlich überforderten, meint Gesine Schwan: „Man war in Weimar Demokrat, im Dritten Reich Nationalsozialist, danach wieder Demokrat; man war Kommunist und ist heute Kaninchenzüchter; man war RAF-Sympathisant und ist heute Unternehmensberater.“ Diese ideologischen Leichen im Keller der eigenen Vergangenheit erleichtern es nicht gerade, sich mit unserem demokratischen Staat zu identifizieren. Sie fördern Angst, Misstrauen und Zynismus auf der einen und Rechthaberei auf der anderen Seite. Sie bereiten den Boden für die „Indifferenz und den Zynismus“, so Gesine Schwan, mit dem viele heute unserem politischen System entgegentreten.

Der Geschmack von Freiheit und Aufklärung

Schwan stellte sich damals dem Mainstream der Achtundsechziger-Ideologie entgegen und widersetzt sich heute der Vorherrschaft des ökonomischen Prinzips. Sie kritisiert die weit verbreitete Marktgläubigkeit. Dies tut sie jedoch, ohne die Notwendigkeit einer Konsolidierung der Haushalte und die Herausforderung des globalen Wettbewerbs zu ignorieren. Aber sie ist überzeugt, dass Politik sich nicht darauf reduzieren lässt, die Finanzen in Ordnung zu bringen. Gesine Schwan postuliert eine Alternative zwischen resignativer Unterwerfung unter den Kostendruck der Globalisierung und dem ignoranten Antikapitalismus im linkspopulistischen Spektrum.

So wie sie die Verantwortungslosigkeit linker Entlastungsideologien ablehnt, so ruft sie auch praktisch jeden Einzelnen zur Verantwortung. Gesine Schwan will durchaus begeistern, aber nicht entlasten. Ihre Alternative zur populistischen Schuldzuweisung: Selbstverantwortung und Verantwortung für andere. Sie bekennt sich dabei ausdrücklich dazu, im Gegenüber zunächst das Gute zu sehen. Wie schon in ihrem Politikverständnis ist auch in ihrem Menschenbild ein Voluntarismus zu erkennen, ein Empfinden von Freiheit und Gestaltbarkeit, das in der vorherrschenden Stimmungslage des ökonomischen Fatalismus eine echte kulturelle Alternative darstellt. Gesine Schwan ist der Überzeugung, dass schon ein gutes Stück geschafft ist, wenn man dem anderen wohlwollend und verständnisvoll begegnet. Aufforderungen zur „solidarischen Versöhnlichkeit“, zur „empathischen Gemeinsamkeit“, zur „verantwortlichen Zuständigkeit“ finden sich zahlreich in ihrem Buch. Sie steht mit ihrem Menschenbild in der optimistischen Traditionslinie der Aufklärung, die im freien und guten Willen das Movens der Geschichte sieht.

Freilich sind die konstruktiven Kräfte des Menschen nicht voraussetzungslos. Gesine Schwan hebt vor allem das Selbstbewusstsein des Bürgers als zentralen Faktor für seine Verantwortungsbereitschaft hervor. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass im Zeitalter des Hyperwettbewerbs die Zahl derer steigt, die nicht mehr mitkommen. Wer sich als Verlierer oder Versager fühlt, wird aber kaum bereit sein, sich für die Zivilgesellschaft zu engagieren. Ein verletztes Selbstwertgefühl hemmt die Fähigkeit zur Verantwortung für sich selbst und für andere. Wenig hält Schwan daher auch von der „Angstmacherei“, die mit Verweis auf den globalen Wettbewerb die Rationalisierungen in Wirtschaft und Politik begleitet. Verängstigte und verzagte Menschen seien keine Bürger, „die sich mit ihrem Gemeinwesen identifizieren, sich aktiv gegen Fehlentwicklungen stellen und bereit sind, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen“.

Gesine Schwan möchte, dass sich die Menschen stark, stolz und leistungsfähig fühlen. Sie will ein Wirtschafts- und Bildungssystem, das ihnen Selbstbewusstsein gibt. Folgerichtig wendet sie sich gegen ein Leistungsverständnis, das eher einschüchtert als motiviert. In Deutschland setze man zu sehr auf „Druck, Demütigung und den Ehrgeiz des Einzelnen, im Wettbewerb die anderen zu übertrumpfen“. So beklagt sie in ihren Ausführungen zur Hochschulpolitik „die unkritische Anbetung eines wettbewerbsfixierten Elitemodells“, das soziale Absonderung, blasierte Überheblichkeit und letztlich gesellschaftliche Desintegration fördere. Besonders die so genannte Exzellenzinitiative habe nicht zu einem Leistungs-, sondern zu einem „Reputationswettbewerb“ geführt, der einem sehr oberflächlichen Verständnis von Wissenschaft Vorschub leiste. Der ökonomischen Verwertbarkeit von Wissenschaft setzt Schwan die soziale Verantwortlichkeit von Bildung entgegen. Die skandinavische und amerikanische Kultur des empowerment, der Ermutigung und der Begeisterungsfähigkeit nicht nur für die eigenen, sondern auch für die gemeinsamen Stärken, hält sie für weit effektiver als das in Deutschland verbreitete Nullsummendenken im Leistungsverständnis.

Das Prinzip Inklusion gilt auch für den Osten

Nicht zuletzt für das Zusammenwachsen von Ost und West spielt das Selbstwertgefühl eine wichtige Rolle. Die Haltung vieler Ostdeutscher gegenüber unserem Staat ist symptomatisch dafür, was sich in den modernen arbeitsteiligen Gesellschaften vielerorts beobachten lässt: Obwohl es alle bürgerlichen Freiheiten garantiert, verweigern sie dem politischen System ihre Zustimmung, weil es ihnen die soziale Anerkennung verwehrt, und weil sie sich ausgestoßen, überflüssig und zurückgelassen fühlen.

Ohne dass dies in ihrem Buch eigens thematisiert wird, lässt sich aus ihren jüngsten Äußerungen schließen, dass Gesine Schwans Anliegen sozialer Inklusion auch für ihr Verhältnis zur Linkspartei und zu deren Wählern eine entscheidende Rolle spielt. Die Westberlinerin mit einschlägiger Osterfahrung weiß, dass bei vielen Ostdeutschen das Gefühl weit verbreitet ist, zu den Verlierern der Gesellschaft zu gehören. Sie will ihnen entgegenkommen – nicht um historisches Unrecht zu relativieren, sondern um ihnen ein Gefühl der Anerkennung zu vermitteln und ihnen die Identifikation mit der Gesellschaft zu erleichtern, in der sie leben.

Der Wert der Arbeit für den Bürger

Für die Politikwissenschaftlerin Schwan gehört zum selbstsicheren und verantwortungsbewussten Bürger auch die Verankerung in der Arbeitswelt. Arbeit hat sowohl in ihrem persönlichen Selbstverständnis als auch in ihrem Menschenbild einen zentralen Platz. So ist sie heute froh und dankbar, dass sie nach Abschluss ihrer Dissertation dem Rat ihres ersten Ehemannes Alexander Schwan gefolgt ist, trotz Mutterschaft weiter an ihrem beruflichen Fortkommen zu arbeiten und sich zu habilitieren. Sie schildert Momente des Glücks in ihrem Leben und ihrem familiären Umfeld als Szenen der Entspannung, der Belohnung nach vollbrachter Arbeit. „Die Muße ist attraktiv, weil die Arbeit vorhanden ist und einen spannungsreich-anregenden Kontrast zu ihr bietet.“ Das Leben in Arbeitszusammenhängen bewahre den Menschen vor Resignation und Unsicherheit und sei damit die entscheidende Voraussetzung für eine aktive Bürgergesellschaft. Gesine Schwan fordert dazu auf, die „Nützlichkeit von Arbeit über die Markthonorierung hinaus“ anzuerkennen und mit entsprechend innovativen Arbeitszeitmodellen zu reagieren. Dies könne auch dazu dienen, die Gleichzeitigkeit von familiärer und beruflicher Spitzenbelastung zu entzerren.

Schwans Konzept politischer Erneuerung setzt an der Basis an. Es geht ihr um Demokratie „als Lebensform“, um die Verantwortung „für die Straße, in der ich wohne; für den Kindergarten oder die Schule, in die ich meine Kinder schicke; für die Kultureinrichtungen, die mir wichtig sind“. Wo anonyme staatliche Institutionen heute nicht mehr greifen, soll den Einzelnen eine neue „Kultur der Gemeinsamkeit“ auffangen. An dieser Stelle zeigt sich eine Nähe zum Kommunitarismus, dessen Vertreter dem Liberalismus vorwerfen, die Notwendigkeit der sozialen Einbettung des Individuums zu unterschätzen.

Gesine Schwan entwickelt ein Modell einer linken Bewegung, die nicht die phantasielosen Forderungen nach mehr Staat und mehr Geld wiederholt, sondern bei der Verantwortung des Einzelnen ansetzt. Eine solche unideologische Synthese von Verantwortung und Solidarität brauchen wir, braucht nicht zuletzt die Sozialdemokratie, um sich von der Marktgläubigkeit des bürgerlichen Lagers abzugrenzen, ohne dabei ihrerseits in Staatsgläubigkeit zu verfallen.

Bei aller Sympathie bleiben allerdings Zweifel, ob dieses Modell der Zivilgesellschaft nicht von Anforderungen an Verantwortungsbereitschaft und Selbstlosigkeit ausgeht, die unrealistisch sind. Dass es dem Bürger viel abverlangt, räumt die Autorin selbst ein. Andererseits haben wir – vielleicht als Reflex auf den Utopismus der Achtundsechziger – möglicherweise allzu lange darauf verzichtet, dem Sein ein Sollen, der Wirklichkeit ein Ideal gegenüberzustellen. Es gibt durchaus Zeichen dafür, dass mit dem Verschwinden des Ideals auch die Anstrengungen für eine bessere Gesellschaft nachgelassen haben.

Die Härten, die Unternehmen heutzutage ihren Mitarbeitern zumuten, sind beispielhaft dafür, wie schnell vermeintlicher Realismus ein Einfallstor für Verantwortungslosigkeit und Ausbeutung werden kann, und wie die sozialen Standards sinken, wenn die normative Messlatte niedriger hängt: Die Renditeerwartung und der Rationalisierungsdruck der jüngsten Zeit wären im linken Meinungsklima der siebziger Jahre kaum vorstellbar gewesen. Gesine Schwans Konzept einer „neuen Kultur der Gemeinsamkeit“ wäre jedenfalls geeignet, den normativen Druck wieder herzustellen und uns einen Maßstab dafür in die Hand zu geben, wie Gesellschaft sein soll.

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