Die unterschätzten neuen Eliten

Der Aufstiegswille von Einwanderern und ihren Kindern ist ein enormer Reichtum für unsere Gesellschaft. Doch Deutschland weiß mit diesen sozialen Energien zu wenig anzufangen. Das Fehlen einer Kultur der Anerkennung schafft neuen Verdruss

Sprachschwierigkeiten, mangelnde kulturelle Anpassungsbereitschaft, fehlende Grundgesetztreue – die Liste vermeintlicher Mängel, die Einwanderern und ihren Kindern hierzulande zugeschrieben wird, ist lang und das Misstrauen hinsichtlich ihrer Integrationsbereitschaft groß. Vor allem erfolgreiche Einwanderer haben ein feines Gespür für die Skepsis, die ihnen trotz aller Anstrengungen und Leistungen entgegengebracht wird: Wie sehr man sich auch bemüht dazuzugehören, den Makel des Neulings, des kulturell Anderen und Fremden wird man nur schwer los.

Im Grunde geht es dabei um das alte Verhältnis zwischen eingesessenen Etablierten und hinzugekommenen Außenseitern, von dem der großen Soziologen Norbert Elias vor 30 Jahren sagte, es sei ein Grundmuster menschlicher Gesellschaften. Weil sie ihre hergebrachten Positionen durch die Ansprüche der Neulinge bedroht sehen, behaupten die Etablierten, ein angestammtes Recht auf ihre Privilegien zu besitzen. Zur Untermauerung des eigenen Machtanspruchs werden aus den angeblichen kollektiven Eigenschaften der Neulinge die schlechtesten ausgewählt und zu einem Gruppenstigma geformt. Diese Abwertung dient vor allem dazu, die eigene überlegene Position zu legitimieren. Die Neulinge, ökonomisch meist abhängig von der Gunst der Etablierten, neigen dazu, die kollektive Stigmatisierung zu verinnerlichen und sich als Selbstbild anzueignen. Der innere Rückzug aus der Gesellschaft oder das plötzliche gewaltsame Aufbegehren gegen den sozialen Ausschluss sind wahrscheinliche Folgen dieser ungleichen Beziehung.

Sicher, dieses Verhältnis ist idealtypisch und die soziale Wirklichkeit weit vielschichtiger. Als Strukturmuster, vor dessen Hintergrund das Phänomen der Einwanderereliten und ihr komplexes Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden kann, ist es aber durchaus aufschlussreich. Dabei werden hier unter Einwanderereliten nicht Gruppen verstanden, die als Erwachsene mit hohen Qualifikationen nach Deutschland kommen, sich hier meist nur temporär aufhalten und im Übrigen an vielen Orten zugleich ansässig sind. Gemeint sind vielmehr die sozial aufgestiegenen Nachkommen jener Arbeitsmigranten, die in den sechziger und siebziger Jahren nach Deutschland kamen. Ihre Eltern besaßen meist keine höhere Schulbildung und stammten aus ökonomisch relativ armen Verhältnissen.

Warum der Makel des Außenseiters bleibt

Erfolgreichen Einwanderern scheint der Makel des Außenseiters ganz besonders anzuhaften. Sie stammen nicht nur aus so genannten bildungsfernen Milieus, sondern haben auch andere Umgangsformen und andere kulturelle Vorlieben als die etablierten Eliten. Hinzu kommt, was am schwersten wiegt: Nicht selten sind sie Muslime. Vielleicht sind dies die Gründe, warum aufstrebende Einwanderer in der Öffentlichkeit nach wie vor kaum wahrgenommen werden. Offenbar ist kaum vorstellbar, dass Menschen Erfolg haben können, die mit so vielen „Mängeln“ behaftet sind. Vorherrschend und medial gern reproduziert ist bislang noch die Vorstellung der türkischen Frau mit Kopftuch, die kaum Deutsch spricht und unter der Herrschaft der Männer leidet. Dass aber Kinder von Einwanderern an der Berliner Charité als Oberärztinnen arbeiten, dass sie Rechtsanwälte und Richter, Kuratoren und erfolgreiche Filmemacher sind, will nicht so recht in dieses Bild passen.

Tatsächlich sind erfolgreiche Migranten bislang eher eine Ausnahme. In Deutschland studieren derzeit nur rund 60.000 Einwandererkinder, die das deutsche Schulsystem durchlaufen und hier ihr Abitur gemacht haben. Die überwiegende Mehrheit von ihnen kommt aus so genannten bildungsfernen Familien. Bei mehr als einer Million Studierender in Deutschland ist diese Zahl bescheiden. Hinzu kommt, dass gerade in dieser Gruppe die Abbrecherquote besonders hoch ist.

Allerdings sind Studierende aus nichtakademischen Milieus an deutschen Universitäten ohnehin rar. Lediglich 13 Prozent aller Studierenden kommen aus Elternhäusern mit niedrigem sozioökonomischen Status, während fast 50 Prozent aus wohlhabenden Familien stammen. Trotz der Bildungsreformen der siebziger Jahre sind deutsche Universitäten nach wie vor sozial relativ homogene Orte. Von der sozialen Auslese im Bildungssystem sind Einwandererkinder besonders betroffen. Als Kinder von Neulingen haben sie einen besonders weiten Weg in etablierte Positionen zurückzulegen.

Das deutsche System schützt die Arrivierten

Die Besitzstandswahrung der etablierten Schichten findet ihren nachhaltigen institutionellen Ausdruck in der Struktur des deutschen Bildungssystems. Nach wie vor fußt das Selbstverständnis zumindest der staatlichen deutschen Bildungsanstalten auf der Idee der Chancengleichheit – dem Versprechen also, dass es weit bringt, wer viel leistet. Die Ergebnisse der Pisa-Studien aus den Jahren 2003 und 2007 zeigen jedoch , dass dieses Versprechen nicht eingelöst wird: Bei gleichen Leistungen haben Kinder aus Akademikerfamilien eine dreimal höhere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als Kinder aus nichtakademischen Einwandererfamilien.

Offenbar setzt bereits in einer sehr frühen Phase der schulischen Karriere ein sozialer und kultureller Selektionsmechanismus ein, der es Kindern aus armen und zugewanderten Familien deutlich erschwert, Abitur zu machen. Das Abitur aber, die Berechtigung zum Studium, ist gerade in Wissensgesellschaften die Grundvoraussetzungen für den Zutritt zu gesellschaftlich einflussreichen Positionen. Zugespitzt formuliert: Das deutsche Bildungssystem ist darauf angelegt, die Privilegien einer akademisch gebildeten Elite vor den Bildungsansprüchen bildungsferner und eingewanderter Schichten zu schützen.

Dabei sind die Kriterien, nach denen ausgewählt wird, alles anderes als transparent. Leistung spielt bei den Empfehlungen, die Lehrer am Ende der Grundschule aussprechen, gewiss eine Rolle. Entscheidender und in seinen Auswirkungen weit subtiler ist aber das durch die Familie weitergegebene kulturelle Kapital – das Wissen darüber, wie man sich in der Schule und gegenüber Lehrern richtig verhält. Man muss den richtigen Verhaltenskodex kennen, um in der Schule erfolgreich zu sein, das ist die – unangenehme – implizite Botschaft der Pisa-Studien. Schüler aus anderen sozialen und kulturellen Milieus als ihre Lehrer haben es oft schwer, diesen Kodex zu entziffern. In den Augen der Lehrer verhalten sie sich oft „daneben“, wirken je nach Situation ungehobelt oder anbiedernd, frech oder schüchtern. Kurz: Sie treffen nicht den richtigen Ton.

Fremdheit und fehlendes Ausdrucksvermögen

Ähnlich geht es den Eltern dieser Kinder, die sich häufig nicht darüber im Klaren sind, wie wichtig der enge und regelmäßige Umgang mit Lehrern ist. Falls doch, hindert sie nicht selten eine Mischung aus sozialer Fremdheit, intellektueller Unterlegenheit und mangelndem Ausdrucksvermögen, den Kontakt offensiv und in einer für die Kinder vorteilhaften Art und Weise zu suchen. Es sind nicht zuletzt diese nach Ansicht des Bildungssoziologen Klaus Kraemer so eminent wichtigen „Sekundärtugenden“, die den Unterschied in der Bildungslaufbahn ausmachen.

Die Vernachlässigung von Kindern aus Einwandererfamilien – von den meisten Lehrern gar nicht bewusst gewollt – wird durch die Institution Halbtagsschule noch verstärkt . Ihr liegt das antiquierte Ideal der bürgerlichen Familie mit arbeitendem Vater und nicht erwerbstätiger Mutter zugrunde. Während der Vater das Geld verdient, hat die Mutter Zeit, für die schulische Förderung der Kinder zu sorgen und die Kontakte zu den Lehrern zu pflegen. Der im Jahr 2007 vorgelegte Familienbericht des Mikrozensus belegt, wie weit die soziale Realität von diesem Familienmodell entfernt ist. Besonders in den deutschen Städten sind zunehmend alleinerziehende Eltern oder Patchworkfamilien Normalität. In Einwandererfamilien fehlt es den Eltern zudem häufig an der nötigen akademischen Bildung, um die Kinder den Anforderungen entsprechend zu fördern. Das Festhalten an der Halbtagsschule verfestigt daher die ohnehin bestehenden Benachteiligungen.

Erfolgreiche Kinder von Einwanderern schaffen den Aufstieg, wenn sie und ihre Familien den Willen und das nötige Geschick aufbringen, um diese hohen sozialen und kulturellen Grenzen und institutionellen Hürden zu überwinden. Unterstützung erfahren sie dabei punktuell von Lehrern, befreundeten Familien oder in jüngerer Zeit vermehrt durch eine gezielte Stipendienförderung. Der eigentliche Antrieb zum Erfolg resultiert jedoch aus der Einwanderungserfahrung der Familie: Viele Einwandererkinder sehen in der Migration eine besondere Verpflichtung zum Erfolg. Als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, träumten bereits ihre Eltern vom sozialen Aufstieg. Der Wunsch nach dem anderen, besseren Leben war für viele das Hauptmotiv für die Auswanderung aus dem Heimatland. Er wirkt auch auf die Kinder wie ein Antriebsmotor.

Die sozialen Energien der Einwanderung

Es ist jener unbedingte Glaube an den eigenen Erfolg, der erfolgreiche Einwanderer die beträchtlichen Aufstiegshürden in Schule und auf dem Arbeitsmarkt überwinden lässt. Für klassische Einwanderungsländer wie die Vereinigten Staaten oder Kanada ist dieser Aufbruchs- und Pioniergeist ein gängiges Motiv, er hat das kulturelle Selbstverständnis dieser Gesellschaften tief geprägt. In Deutschland beginnt man erst jetzt zu ahnen, welche sozialen Energien die Erfahrung der Einwanderung und die mit ihr verbundenen Erwartungen freisetzen. Diese Energien sind ein enormer gesellschaftlicher Reichtum, der bislang noch viel zu wenig genutzt wird.

Schon heute haben mehr als 40 Prozent aller Jugendlichen und Kinder unter 18 Jahren in Deutschland einen Einwanderungshintergrund. Diese dritte und vierte Einwanderergeneration erwartet mehr vom Leben als die dauerhafte Abhängigkeit von Sozialhilfe. In deutschen Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Köln bilden sich bereits jetzt Mittelschichten der zweiten Einwanderergeneration heraus. Das bedeutet, in die bisher relativ homogenen bürgerlichen Mittel- und Oberschichten dringen Gruppen vor, deren Erfahrungen und Einstellungen, Werthaltungen und auch Erwartungen an das eigene Leben stark durch die familiäre Einwanderungserfahrung geprägt sind. Bereits jetzt ist ihr Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum hoch. Man kann sicher sein, dass diese Ansprüche in Zukunft noch steigen werden.

Bislang haben wir für die Leistungen erfolgreicher Einwanderer keine „Kultur der Anerkennung“ entwickelt. Der ausbleibende Respekt macht viele von ihnen skeptisch und führt nicht selten zu emotionaler Entfremdung und zum Rückzug auf die eigene Herkunftsgemeinschaft. Eine solche Kultur der Anerkennung muss in den Kerninstitutionen der Gesellschaft verankert werden. Wirkliche Chancengerechtigkeit hieße dann, dass der Wille zur Veränderung der eigenen Lebensumstände und der Wunsch nach sozialem Aufstieg ernst genommen und gezielt gefördert werden. Ohne die Bereitschaft der etablierten (Bildungs-) Schichten, auf angestammte Privilegien zu verzichten, wird dieser Prozess der gesellschaftlichen und kulturellen Öffnung allerdings kaum vonstatten gehen können. Unter den derzeitigen Bedingungen bleiben Einwanderereliten eine – allerdings bemerkenswerte – Ausnahme.

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