Die unsittliche Gegenwart

Axel Honneths Gerechtigkeitstheorie gerät unbeabsichtigt zum Plädoyer für den Rückzug ins Private

Die praktische und politische Philosophie Immanuel Kants hat in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach prominente Aktualisierungen erfahren: John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, Otfried Höffes Demokratie im Zeitalter der Globalisierung und natürlich die Schriften Jürgen Habermas’ zur Diskursethik. Nun verhilft der Sozialphilosoph Axel Honneth einem weiteren deutschen Klassiker zu seinem Recht: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Allerdings anders als erwartet.

Schon nach den ersten Sätzen des Vorwortes in Honneths Das Recht der Freiheit hält man unweigerlich inne. Dem Vorbild der Hegelschen Rechtsphilosophie folgend will Honneth seine Gerechtigkeitstheorie entwickeln. Wohlgemerkt: Nicht die Dialektik (obschon die fast durchgängige Dreiteilung von Kapiteln und Unterkapiteln eine entsprechende Argumentationsweise vermuten lässt) oder die Teleologie noch den Weltgeist übernimmt der Frankfurter Denker von Hegel. Nein, übernommen wird ausgerechnet jene hegelianische Auffassung, derzufolge nur dasjenige gerecht sein kann, was sich in den gesellschaftlichen Institutionen, sozialen Praktiken und Routinen niedergeschlagen hat. Honneth will sich also ausschließlich an dem orientieren, was ist, um zu dem zu gelangen, was sein soll. Eine solche Grundlegung einer Gerechtigkeitstheorie klingt nicht unbedingt konservativ, aber doch seltsam unkritisch gegenüber dem gesellschaftlichen Status quo. Dies vom jüngsten unter den prominenten Vertretern der Kritischen Theorie zu lesen, überrascht zumindest. Damit das kritische Geschäft nicht vollends ausbleibt, sollen nur diejenigen gesellschaftlichen Erscheinungen als legitime Verkörperungen der Gerechtigkeit zugelassen werden, die für den gesellschaftlichen Fortbestand wichtig sind.

Drei Formen der Freiheit

Im Zentrum der folgenden Untersuchung steht die Freiheit, denn sie ist in ihren unterschiedlichen Facetten laut Axel Honneth derjenige Wert, um den in modernen liberal-demokratischen Gesellschaften alles kreist. Im Zuge einer historisch-ideengeschichtlichen Rekonstruktion des Freiheitsbegriffs legt Honneth drei Formen der Freiheit offen: die rechtliche, die moralische und schließlich die soziale Freiheit, von der die anderen Freiheiten letztlich bloße Derivate seien.

Nachdem er dies im ersten Teil des Buches ebenso überzeugend wie (noch) folgenlos darlegt, macht sich Honneth im zweiten Teil daran, mit beeindruckender Klarheit und Leichtigkeit die Möglichkeiten, Grenzen und Pathologien der ersten beiden Freiheitsbegriffe aufzuzeigen. Philosophie und Gesellschaftsanalyse gehen auf faszinierende Art und Weise Hand in Hand.

Die ihrerseits defizitären Konzepte der rechtlichen und moralischen Freiheit müssen jedoch bald beiseite geräumt werden, um sich im dritten und letzten Teil des Buchs ausführlich dem Zustand der sozialen Freiheit in den drei gesellschaftlichen Sphären des Persönlich-Privaten, des Ökonomischen und des Politischen zu widmen. Die Gegenwart soll hinsichtlich ihrer „Sittlichkeit“ überprüft werden. Mit dem für heutige Ohren altertümlichen, auf Hegel und Aristoteles verweisenden Begriff der Sittlichkeit beschreibt Honneth die Prüfung der gesellschaftlichen Institutionen in Bezug auf die Hervorbringung sozialer Freiheit. Eine historisch-soziologische Gesellschaftsanalyse soll ausgehend vom 19. Jahrhundert Aufschluss darüber geben, inwieweit die Regeln und Institutionen die Bürger zu gleichberechtigten, selbstbestimmten und vor allem einander als solche anerkennenden Mitgliedern der Gesellschaft machen: zu freien Bürgern im Honnethschen Sinn.

Ein Loblied auf die moderne Familie

Auf den folgenden, an empirischen Fakten reich gesättigten, knapp vierhundert Seiten warten eine Überraschung und eine Enttäuschung auf den Leser. Die Überraschung findet sich dort, wo innerhalb der Sphäre des Persönlich-Privaten ein Loblied auf die moderne Familie gesungen wird. Trotz mancher Idealisierung ist dem Frankfurter Philosophen die Einbeziehung des Privaten (dazu zählt er neben der Familie auch Freundschaften und Paarbeziehungen) in die Gerechtigkeitstheorie in überzeugender und großartig zu lesender Art und Weise gelungen.

Die Behandlung der beiden anderen Sphären, der Ökonomie und Politik, bietet weniger Überraschungen und – angesichts des immensen Vorhabens wohl unvermeidlich – auch einige Oberflächlichkeiten. So werden die Chancen und Risiken des Internets und Mobilfunks für die demokratische Willensbildung nur kursorisch und auf wenigen Seiten gestreift. Innerhalb der ökonomischen Sphäre wäre man neugierig gewesen auf eine Interpretation des Finanzkapitalismus als Höhepunkt des kapitalistischen Abstraktions- und Entfremdungsprozesses. Vor allem aber stört bei der Diskussion im dritten Teil des Buchs, dass Institutionen im Mittelpunkt stehen, Organisationen aber keine besondere oder gar systematische Beachtung erfahren. Zum Beispiel wird nur kurz vom Niedergang der Gewerkschaften berichtet; die Parteien seien ohnehin schon seit Dekaden „verstaatlicht“ und hätten längst den Kontakt zur Lebenswelt der Bürger verloren; wildwuchernder Lobbyismus, Europäisierung und Globalisierung würden die nationalen Parlamente ihrer ursprünglichen Aufgaben berauben.

Keine Hoffnung auf baldige Besserung

Der Befund des dritten Teils ist dementsprechend eindeutig: Die materielle Ungleichheit in der Konsumsphäre und der individualistische Kampf um Arbeit lassen in den gegenwärtigen ökonomischen Zuständen keine Sittlichkeit erkennen. Um das Politische ist es nicht besser bestellt: Angesichts der Apathie fragt Honneth selbst, woher die moralischen Ressourcen stammen sollen, mit denen sich eine solidarische demokratische Bürgerschaft den zahlreichen Fehlentwicklungen entgegenstemmen könnte. Im knapp gehaltenen Ausblick verweist Honneth noch einmal auf die sozialen Kämpfe und Siege der Vergangenheit. Dazu bräuchte es seiner Meinung nach heute eine transnationale, engagierte Öffentlichkeit. Doch selbst wenn mit dieser Internationalisierungsstrategie Erfolge verbucht werden könnten: Honneth glaubt höchstens an die teilweise Rückgewinnung in der Vergangenheit längst gewonnenen Geländes. Wer die Träger einer solchen Öffentlichkeit und eines solchen Kampfes für sittliche Zustände in der Welt sein könnten, erfährt man ohnehin nicht. So endet das Buch – und das ist die Enttäuschung – zugleich mit einer bitteren Gegenwartsdiagnose und ohne Hoffnung auf absehbare Besserung.

Keine Zukunftsperspektive in Sicht

Honneth wirft zu Beginn seines Buches den Gerechtigkeitstheorien Kantscher Prägung ihren mangelnden Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vor. Am Schluss des Buches hat man den Eindruck, dass die Honnethsche Orientierung an dem gegenwärtigen Sein so belastend war, dass darüber für den Blick auf das, was sein sollte – und könnte! –, keine Kraft mehr blieb. Die Kritische Theorie hat offenkundig ihren Frieden mit der Familie geschlossen. Zur Zukunft der Ökonomie und der Demokratie hat sie jedoch jenseits eines vagen Verweises auf eine europäische und internationale Ebene nichts zu sagen. Somit lässt sich Das Recht der Freiheit tatsächlich wie ein unbeabsichtigtes Plädoyer für den Rückzug ins Private lesen. In einer Zeit, in der konservativ-liberale Gesellschaftsbilder zunehmend von ehemals glühenden Anhängern angezweifelt werden, hätte man sich von der Kritischen Theorie etwas mehr Zukunftsperspektive gewünscht. Sie ist in beängstigender Weise nicht in Sicht. «

Axel Honneth, Das Recht der Freiheit:Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp 2011, 628 Seiten, 34,90 Euro

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