Die Ukraine am Rande Europas

Die Osterweiterung der EU ist beschlossen, und auch die Türkei darf sich Hoffnungen machen. Die Ukraine spielt bei diesen Vorhaben kaum eine Rolle. Doch Deutschland sollte den größten Flächenstaat Europas nicht im Abseits stehen lassen

Welche Volkswirtschaft in Europa hatte in den vergangenen drei Jahren die höchsten Wachstumsraten? Einer der rekordverdächtigen Kandidaten ist die Ukraine. Neun Prozent Wirtschaftswachstum hat die Ukraine 2001 verzeichnet. 2002 dürfte sich das Tempo zwar abgeschwächt haben. Doch wer das Land über die Jahre besucht hat, bemerkt deutliche Veränderungen - am sichtbarsten ablesbar an der schnellen Eröffnung von Cafés und Restaurants in Kiew. Zumindest die Menschen in der Hauptstadt bekommen den Aufschwung zu spüren. Im neuen Café Lyon in der Innenstadt sitzt Andrij Fialko, vor kurzem noch Diplomat in Brüssel, heute Berater von Staatspräsident Kutschma. Er nippt an einem Glas Mohrrübensaft und seufzt: "Die EU hat vor uns eine Mauer aufgebaut. In der Politik der Gemeinschaft ist zu viel Egoismus und zu wenig Vision."


Die Angst der Ukraine, deren Name übersetzt etwa "Grenzland" bedeutet, in Europa im Abseits zu stehen, ist groß. Im vorigen Jahr hat das Land nach langem Hin und Her endlich entschieden, die Vollmitgliedschaft in Nato und EU anzustreben. Dass die Europäische Union, wie im Dezember in Kopenhagen entschieden, an die Ostgrenze Polens, der Slowakei und Ungarns vorrückt - und damit jeweils an die Westgrenze der Ukraine - ist für Kiew keineswegs beruhigend. Kurz- und mittelfristig ist es sogar mit Einschränkungen und Risiken verbunden: Zum 1. Juli dieses Jahres wird Polen auf Forderung Brüssels die Visapflicht einführen. Einen großen Teil der 6,5 Millionen einreisenden Ukrainer, für die Polen im Jahr 2001 "der Westen" war, wird das vor unüberwindliche Hindernisse stellen, vielen auch die einzige Gelegenheit zur (Schwarz-)Arbeit nehmen.


So wiederholt der beliebte Wirtschaftsreformer und Ex-Premier der Ukraine, Viktor Juschtschenko, immer wieder sein Credo: "Der geografische Mittelpunkt Europas liegt in der Ukraine. Die Annäherung an die EU wäre für uns eine große Chance." Juschtschenko räumt selbstkritisch ein: "Natürlich hängt ihr Tempo vor allem von uns selbst ab." Oder etwa doch nicht? Der populärste Politiker des Landes warnt: "Wir dürfen nicht das Gefühl bekommen, dass der europäische Markt an der Westgrenze der Ukraine endet. Diese Frage hat die EU noch nicht hinreichend durchdacht."

Mehr als Tschernobyl und die Klitschkos

Dabei geht es bei diesem Land, mit dem viele allenfalls Tschernobyl und die Box-Brüder Klitschko verbinden, um den größten europäischen Flächenstaat mit 50 Millionen Bürgern. Das Land zwischen Don und Donau ist seit Jahren einer der acht größten Rüstungsexporteure der Welt, außerdem Transitland für Erdgas und Erdöl mit vier Atomkraftwerken. Aus deutscher Sicht ist gut zu wissen, dass die Ukraine, da vollständig besetzt, im Krieg weit schlimmer gelitten hat als Russland. Acht Millionen Opfer haben Krieg und Besatzungsterror gefordert, wobei Ukrainer auf beiden Seiten der Front standen. "Bis zu drei Millionen Ukrainer haben an der Seite der Wehrmacht gekämpft", schätzt der deutsche Osteuropa-Historiker Frank Golczewski.


Deutschland zeigt am Osten Europas gewiss mehr Interesse als andere EU-Staaten. Aber für die Ukraine? Man glaubte bisher, im Osten vor allem auf die Empfindsamkeit Moskaus Rücksicht nehmen zu müssen. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, mussten sieben Jahre vergehen, bis ihr ein Bundespräsident einen Besuch abstattete. Auf die Frage, warum es so lange gedauert habe, antwortete Roman Herzog damals in Kiew, das habe mit der Rücksichtnahme auf den kranken Boris Jelzin zu tun - "aber bitte zitieren Sie mich nicht!" Selten haben medizinische Argumente die deutsche Politik so stark beeinflusst.


Kann es da verwundern, wenn die Eliten in Kiew - und erst recht im einst habsburgisch, dann polnisch geprägten galizischen Lwiw, dem früheren Lemberg, ein Gefühl des Verlassenseins plagt? Immerhin: Zwei Staaten wollen die Westbindung der Ukraine vorantreiben. Eine schwierige Aufgabe, zumal gelegentlich der Eindruck entstand, die Ukraine wolle sich nicht helfen lassen oder wisse selbst nicht recht, wohin. Ein polnischer Diplomat in Kiew bringt es auf den Punkt: "Wenn Sie über die Ukraine nachdenken, denken Sie bitte in den Kategorien eines Landes von der Größe, der Langsamkeit und der Trägheit Russlands."


Das erste Land, das die Ukraine stützt, sind die Vereinigten Staaten. Vordenker ihrer Außenpolitik wie Kissinger, Albright, Brzezinski und Rice sind ausgemachte Freunde Kiews. Wenn sie Osteuropa sicher machen wollten für die Demokratie, dann (so dachten sie sich zumeist unausgesprochen hinzu) müsse sich diese Politik zwangsläufig gegen mögliche neoimperialistische Bestrebungen Moskaus richten - eine Sichtweise, die in Berlin kaum verstanden, geschweige denn geteilt wurde. Imperialismus und Demokratisierung vertragen sich nicht, das eine wirkt gegen das andere, das hatte schon die Zarenzeit gezeigt; und die Ukraine war das Kronjuwel im Sowjetimperium. Schon Lenin wusste: "Wenn wir die Ukraine verlieren, verlieren wir alles."


So nutzte Präsident George W. Bush während seiner ersten Reise auf den alten Kontinent seine Europa-Rede in Warschau, um die Ukraine als Wunschpartner hervorzuheben und stets vor Russland zu erwähnen: Ihre "künftige Integration mit den westlichen Institutionen" sei Washington ein Herzensanliegen. Seit Jahren ist das Land weltweit einer der größten Empfänger amerikanischer Hilfsgelder, die für Reformen, Infrastruktur und jährlich 2000 Stipendien aufgewendet wurden. Allein 2001 kostete das nach Angaben der US-Botschaft in Kiew etwa 230 Millionen Dollar.

Kutschmas problematische Manöver

Die Ergebnisse? Berater Fialko erinnert: "Wir haben Tschernobyl geschlossen, wir haben die Todesstrafe abgeschafft." Doch zu bemängeln waren die Verzögerung notwendiger Reformen, Korruption, Einschränkungen der Medienfreiheit. Vieles davon geht auf das Konto Präsident Kutschmas, der lange Zeit immerhin als halbherziger Reformpolitiker gelten konnte. Doch in seiner zweiten (und verfassungsgemäß letzten) Amtszeit hat er das Land in eine extrem schwierige Lage manövriert.


Der in den Vereinigten Staaten immer schwerer wiegende Verdacht, Kiew könne seine technisch hervorragenden "Koltschuga"-Radare an den Irak geliefert haben, sorgte für Verstimmung. Die Ermordung von Georgij Gongadse und weiteren ukrainischen Journalisten sorgte für Unruhe, erst recht, als im Mordfall Gongadse der Präsident als Anstifter beschuldigt wurde. In der Koltschuga-Affäre wie in der Gongadse-Affäre waren die Gesprächsmitschnitte, die der frühere Leibwächter Melnytschenko in den Diensträumen Kutschmas anfertigte, das ebenso dubiose wie schwer zu widerlegende "Beweismaterial" - immerhin musste Kutschma zumindest einräumen, dass es tatsächlich seine Stimme war, die auf den Tonbändern festgehalten wurde.


Dann kam der 11. September, Amerika suchte neue Verbündete. Auf dem Weg zur Nato-Integration war plötzlich Russland auf der Überholspur. Wieder war die Ukraine im Abseits. Auf dem Nato-Erweiterungsgipfel in Prag erschien Kutschma als ungebetener Gast, obwohl ihm die Nato öffentlich vom Kommen abgeraten hatte, und nahm in Kauf, dass man seinetwegen die alphabetische Sitzordnung änderte - damit die Staatsoberhäupter von "USA" und "Ukraine" nicht nebeneinander sitzen mussten.

Über Warschau nach Europa?

Das zweite Land neben den Vereinigten Staaten, das die Ukraine stützt, ist Polen. In Warschau denkt man über Demokratisierung und Entimperialisierung ähnlich wie in Washington. Wirtschaftskontakte und eine polnisch-ukrainische Universität, Städtepartnerschaften, Euroregionen und polnische Stiftungen sollen Marktwirtschaft und Rechtsstaat nach Osten tragen. "Warschau ist unser Anwalt in Europa", sagt der Lemberger Journalist Jurij Durkot, "und das, obwohl Grenzverschiebungen, Partisanenkämpfe und millionenfache Vertreibung Hass auf beiden Seiten gesät haben". Die Außenpolitiker Polens hoffen, auch mit dem Nachbarn im Osten ein Wunder der Versöhnung in die Wege leiten zu können.


Russland dagegen zog das Land in die andere Richtung. Erst plump, nach der Art Boris Jelzins; jetzt nach Putinscher Manier, raffiniert und pragmatisch. Die meisten russischen Politiker haben wohl eingesehen, dass die Ukraine - trotz ihrer Abhängigkeit von russischen Energieträgern - politisch unabhängig bleiben wird, weil ihre Eliten es so wollen. Das Land ist zwar Mitglied der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, doch nicht des GUS-Verteidigungspakts von Taschkent. 1997 begann Kiew sogar, mit Georgien, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldowa eine eigene Gemeinschaft aufzubauen, die GUUAM - mit mäßigem Erfolg. Usbekistan ist inzwischen, wohl aufgrund der neuen Lage in Zentralasien, ausgetreten.


Dafür kommen von Putin Schalmeienklänge: Jetzt ist von zwei "brüderlichen", aber gleichberechtigten Staaten die Rede. Alte Konflikte werden bilateral gelöst, gemeinsame Projekte in Angriff genommen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für verstärkte Kooperation mit Russland oder der GUS. Doch die Verbrüderung Putins und Kutschmas hat ihren Preis: Russische Konzerne kaufen sich in Schlüsselbereiche der ukrainischen Wirtschaft ein, und russische Politiker mischen sich frech in die Politik ein - zugunsten der "russlandfreundlichen" Kräfte, auch der Kommunisten, und gegen die Reformer.

Einst gab Brüssel der Ukraine eine Perspektive

Und was tut Brüssel? Es ist sicher kein Zufall, dass die Informationskampagne über Für und Wider eines EU-Beitritts, die das Kiewer Institut für Euroatlantische Zusammenarbeit begonnen hat, von Washington finanziert wird. Zwar will EU-Erweiterungskommissar Verheugen sich nicht festlegen, ob die Ukraine eines Tages der EU beitreten könne. Doch die Töne aus Brüssel sind in dieser Frage immer skeptischer geworden.


Einst hatte Westeuropa mit den Kopenhagener Kriterien im Osten eine Offensive eingeleitet: Wir geben euch eine Perspektive der Zusammenarbeit, hieß es, wenn ihr euch - im Inneren wie nach außen - als gute Partner erweist. Die Völker hörten die Signale: Reihenweise wurden Grenzverträge geschlossen, Minderheitenkonflikte entschärft, Versöhnungserklärungen zwischen "Erbfeinden" unterzeichnet. Reformen wurden vorangetrieben. Der Preis: Erst die "Partnerschaft für den Frieden" - dann die Nato-Mitgliedschaft. Erst die EU-Partnerschaftsabkommen, dann die EU-Assoziierung - und eines Tages der EU-Beitritt. Die Staffelung der Integration, teils aus Improvisation, teils aus Weitsicht geboren, wirkte wie ein Magnet.


Auch die Ukraine geriet in seinen Bannkreis. Ihre Außenpolitik der guten Nachbarschaft und ihre Nationalitätenpolitik waren europäischer als das Verhalten mancher Balkan-Staaten, die sich jetzt, kaum dass die Waffen schweigen, auf die euroatlantische Integration freuen dürfen. Dabei hatte noch vor wenigen Jahren eine US-Geheimdienststudie gewarnt, die Ukraine drohe in zwei Teile auseinanderzubrechen - ein Balkankonflikt im Großformat.

Eine Nation nur in territorialer Hinsicht

Elf Millionen Russen leben im Land, vor allem im Osten und Süden. Auf der Halbinsel Krim siedeln, in wild-romantischer Landschaft, doch vielfach bettelarm, eine Viertelmillion muslimischer Tataren; die meisten sind aus Mittelasien zurückgekehrt, wohin Stalin sie deportiert hatte. Im Westen leben Hunderttausende Polen und Rumänen. Auch Juden, Ungarn und einige Zehntausend Deutsche bevölkern die Ukraine. Multikulturelles Zusammenleben: Ein Viertel aller Ehen sind Mischehen.


Sogar die ethnischen Ukrainer sind noch einmal geteilt: in Galizien sind sie klar nach Westen orientiert, worauf die gerade eröffnete Lemberger Katholische Universität hinweist. Im Rest des Landes sind sie orthodox, aber teils dem Moskauer, teils dem Kiewer Patriarchen unterstellt. Das Land gleicht einer Matrjoschka-Puppe, wie sie an der Kiewer Touristenmeile entlang der barocken Andreaskirche feilgeboten wird: Jede Puppe lässt sich unendlich oft zerlegen. Doch die lingua franca ist immer noch russisch, auch wenn Kiew versucht, das Russische vorsichtig zugunsten des Ukrainischen zurückzudrängen. Beide Sprachen sind etwa so eng verwandt wie das Holländische mit dem Deutschen.


Was dieses Land zusammenhalten könnte, wäre ein nicht ethnisch, sondern territorial verstandener Nationsbegriff. Und erst recht der gemeinsame Erfolg. Nach einem Jahrzehnt wirtschaftlicher Schrumpfung hatte die Ukraine, einst die Kornkammer Europas, 2000 erstmals Wachstum zu verzeichnen, das sich 2001 mit hohen Steigerungsraten in der Industrie- und Agrarproduktion und im Export noch verstärkte. Ein Teil des Erfolgs ist dem bis 2001 amtierenden liberalen Premier Juschtschenko zuzuschreiben. Er lenkte die fetten Gewinne der "Oligarchen" in die Staatskasse, damit Millionen Staatsbedienstete ihre Löhne pünktlich bekamen und nicht wie bisher mit halbjähriger Verspätung.

Die Tücken der Magnetstrategie

Das brachte dem (nach verbreiteter Auffassung) unbestechlichen Politiker im März 2002 den Sieg in den Parlamentswahlen. 24 Prozent stimmten für seinen Reformblock Unsere Ukraine. Höchste Zeit für die EU, diesem Land eine Perspektive zu geben und es nicht, wonach es zuletzt gelegentlich aussah, wie Weißrussland zu behandeln. Doch kurz nach dieser Wahl dämpfte der deutsche Chef eines EU-Planungsstabes auf einer Tagung - wieder einmal - die Hoffnungen Kiews: "Wir wollen zwar nicht den Anlass bieten, dass sich die Ukraine unter einen russischen Schirm begibt, aber langfristig wird man darum kaum herumkommen."


Wie kann man im Sinne der Magnetstrategie eine Perspektive bieten, ohne zu schnell zu viel zu versprechen? Bundeskanzler Schröder war es, der in Kiew kürzlich sagte, er halte eine EU-Assoziierung der Ukraine für unterstützenswert. In dieser Form, die den Abbau der Handelsschranken vorsieht, sind die Beitrittsländer, selbst die Türkei, seit mindestens einem Jahrzehnt mit der EU verbunden. Doch hinter den Kulissen war danach zu hören, Schröders Worte entsprächen nicht der Linie der Gemeinschaft, denn die Assoziierung werde immer mehr als Vorstufe des Beitritts verstanden. Das Dilemma bleibt: "Was die Formen der Zusammenarbeit unterhalb der Schwelle des Beitritts angeht, hat die EU ein klares Defizit", sagt ein Diplomat im Auswärtigen Amt.

Keine Angst vor der Schengen-Grenze am Bug

Bei der Annäherung an die Nato wurde die Ukraine somit von Russland, bei der EU-Integration von der Türkei überholt. Doch der 11. September hat dem Land auch Chancen eröffnet. Anfang 2002 verkündete Jewhen Martschuk, der Chef des Sicherheitsrats, Kiew beginne jetzt einen Prozess der Vorbereitungen mit dem Endziel des Nato-Beitritts. Sofort die Aufnahme beantragen will man nicht: "Der Westen hat uns gebeten, das noch zu vertagen", sagt vorwurfsvoll ein Diplomat in Kiew. Doch auch die Bevölkerung wäre nicht dafür: Nur 14 Prozent sind für einen baldigen Nato-Beitritt, 30 Prozent strikt dagegen.


Dagegen befürwortet in allen Regionen die Mehrheit einen EU-Beitritt, im Durchschnitt 58 Prozent, während 16 Prozent dagegen sind. Anatolij Gryzenko, der Chef des Kiewer Rasumkow-Zentrums, das dies ermittelt hat, weiß aber auch, dass viele Bürger mit der EU eine Hiobsbotschaft verbinden: Polens EU-Beitritt bedeutet das Ende des visafreien Reiseverkehrs und Kleinhandels. Aber Gryzenko hat sich einen robusten Optimismus bewahrt. "Wenn wir mit dem Auto nach Holland fahren", erzählt er, "muss ich an der ukrainisch-polnischen Grenze 30 bis 50 Dollar Schmiergeld zahlen, wenn ich nicht stundenlang Schlange stehen will. An der polnisch-deutschen Grenze gibt es das nicht mehr. Glauben Sie mir, vor der Schengen-Grenze am Bug habe ich wirklich keine Angst!"

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