Fata Morgana Polen, ganz nah und doch so fern

Was könnte man aus dieser Nachbarschaft machen! Fast riecht man Polen vom Berliner Tiergarten aus. Doch die Chancen der Nähe bleiben ungenutzt - Polens Weg nach Europa führt heute nicht mehr allein über Deutschland

Steigt die Generation Berlin gelegentlich auf "ihren" Fernsehturm? Blickt sie von dort auch nach Osten? Unschwer zu erraten, was sie bei guter Fernsicht dann zu sehen bekäme: Das Land der Störche und der Autodiebe, das Heimatland Chopins und Papst Johannes Pauls II., die "polnische Wirtschaft", von der Georg Forster erstmals vor 200 Jahren schrieb, oder, wahlweise, die "Boomregion", von der Joschka Fischer heute spricht. Vom Berliner Fernsehturm sieht man weiter als vom Langen Eugen am Rhein. Auch das ist ein Unterschied zwischen Bonn und Berlin: Aus der Kleinteiligkeit der Mittelgebirgslandschaft wurden Herz und Hirn der Republik in die Weiten des europäischen Ostens verpflanzt. Bei Transplantationen gibt es oft Abstoßungsreaktionen gegenüber der neuen Umgebung. Jetzt lebt die Generation Berlin also in jener Großregion, in der im frühen Mittelalter der Stamm der Polanen (Feldbewohner) zu Hause war, von dem unsere Nachbarn ihren Namen haben. Im Tiergarten könne man Polen riechen, schrieb der Schriftsteller und Emigrant Witold Gombrowicz, nachdem er, von Paris kommend, kurz nach dem Mauerbau in West-Berlin eingetroffen war. Polen liegt am Horizont. Aber kennen wir unsere Nachbarn? Können wir auf Anhieb die Namen von drei polnischen Politikern nennen? Von drei Schriftstellern oder von drei Sportlern?

Was könnte man aus dieser Nachbarschaft machen! Sie ist nun wirklich eng wie nur wenige in Europa. Bereits wenige Zahlen sprechen Bände: Aus Polen sind seit Anfang der siebziger Jahre etwa zwei Millionen Menschen in die Bundesrepublik gekommen, Aussiedler, politische Flüchtlinge, von der wirtschaftlichen Misere getriebene Zuwanderer. Polen ist auch heute, bereits vor dem EU-Beitritt, für Deutschland das wichtigste Migrationsland, mit deutlichem Abstand vor der Türkei: Jährlich registriert das Statistische Bundesamt etwa 90.000 Zuzüge nach Deutschland und 70.000 bis 80.000 Fortzüge nach Polen. Wie eng Deutsche und Polen verbunden sind, belegt auf andere Weise die Statistik der Eheschließungen. Zwar ist die Zahl der deutsch-polnischen Ehen seit 1989 etwas zurückgegangen, doch noch immer liegt sie weit vor allen anderen gemischtnationalen Ehen in Deutschland; seit Mitte der achtziger Jahre wurden 100.000 deutsch-polnische Eheschließungen verzeichnet. Die Wirtschaft freut sich über die Exporte nach Polen, die inzwischen mehr als doppelt so hoch sind wie die nach Russland. Besonders stark verzahnt sind die zwei Gesellschaften auch auf einem Gebiet, das manche für eine Nebensache halten mögen: Fast die Hälfte der polnischen Nationalelf spielt "werktags" in deutschen Vereinen. Wenn in der Bundesliga Tore geschossen werden, jubeln (oder trauern) zwei europäische Länder im gleichen Takt.

Siamesische Zwillinge, Rücken an Rücken

Die zwei Völker sind durch einen ständigen Blutaustausch auf eine Weise verflochten, die an das Zusammenleben siamesischer Zwillinge denken lässt. Nur: der eine Zwillingsbruder scheint nicht wahrzunehmen, dass er an Oder und Neiße, gleichsam Rücken an Rücken, mit jemand anderem verwachsen ist. Die elektronischen Medien in Deutschland, vor allem viele Fernsehsender, sind auf dem östlichen Auge blind. Mancher deutsche Industriekapitän träumt immer noch vom russischen Markt, wo er mit Hilfe von Hermes-Bürgschaften Maschinen loszuwerden hofft, die sonst keiner haben will. Deutsche Journalisten haben ganze Badewannen voll Tinte über die Türken in Deutschland vergossen, aber über die Polen in Deutschland, die zweitgrößte Ausländergruppe, liest man so gut wie nichts.

Man kann natürlich versuchen, das zu erklären. Dass die Türken in Deutschland eine solche Aufmerksamkeit genießen, hat sicher auch damit zu tun, dass in der Begegnung der Deutschen mit dieser ethnischen Gruppe Motive aus Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen anklingen. Da geht es um Kopftücher, Kleidung, auch um Religionsunterricht und Kreuze an den Wänden. Um ein solches Interesse zu provozieren, dazu sind uns die Polen viel zu ähnlich. Ihre kulturelle Nähe lässt vergleichbaren Konfliktstoff gar nicht erst entstehen.

Eintritt nur mit Vereinskrawatte

Aber zugleich werden Polen und seine Bürger, so paradox es klingt, als äußerst fremd empfunden, kaum in dem Sinne als Nachbarn begriffen wie die Holländer oder die (nicht einmal unmittelbar angrenzenden) Italiener. Woran liegt das nun wieder? Ist es die Geschichte der letzten Jahrzehnte, die zwischen der westdeutsch geprägten Wohlstands- und Spaßgesellschaft und der postsozialistischen Übergangsgesellschaft trotz engster Verflechtung Sprachlosigkeit entstehen lässt? Sind es die unheilvollen Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte, die auf beiden Seiten Komplexe haben wachsen lassen?

Das allein kann es nicht sein. Ich fürchte, der Sprachlosigkeit liegt auch eine besondere Variante der deutschen Vereinsmeierei zugrunde. Die Polen spielen zwar in unseren Fußballvereinen, aber sie gehören nicht zu unserem politischen Club. Sie sind nicht in der EU, und damit ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben in diesem Land für uns von minderer Relevanz, weniger bedeutsam und auch weniger verständlich als vergleichbare Erscheinungen in der Republik Irland. Polen, eine Fata Morgana: so nah und doch so fern.

Wenn nun eines schönen Tages (der, wie man in Warschau lästert, bisher ähnlich greifbar erscheint wie die Luftspiegelung in der Wüste) der Eintritt in den Club erfolgt, dann müsste sich das alles schlagartig ändern. So wäre jedenfalls zu hoffen. Und in der Tat: Allein das Defilee führender CSU-Vertreter (von Stoiber abwärts) in Warschau in den letzten Monaten, aber auch die sich häufenden Polen-Besuche von Spitzenpolitikern der SPD, die Warschauer Auftritte der IG Bauen und des Deutschen Industrie- und Handelstages geben Anlass zur Hoffnung. Nichts bewegt die Deutschen so wie die Aussicht, dass die Nachbarn aus demselben Treppenhaus ihrem Verein beitreten wollen. Merkwürdig, dass ein Land, das sich weltoffen nennt, einen Nachbarn erst dann als solchen zur Kenntnis nimmt, wenn er einen Clubausweis beantragt hat.

Die Polen haben die Deutschen nie mit solcher Nichtachtung gestraft. David konnte es sich nicht leisten, Goliath zu ignorieren, ganz gleich, mit welcher Clubkarte dieser durch die Gegend marschierte. Jetzt also wollen die Polen der EU beitreten. "Polens Weg nach Europa führt über Deutschland", sagte dazu der inzwischen verstorbene Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zu Beginn der neunziger Jahre. "Was die Franzosen für uns im Westen sind, seid ihr für uns im Osten", erscholl alsbald das Echo aus Deutschland.

Nüchterne Stimmung, vorsichtig gesagt

Aber diese feierlichen Bekenntnisse sind seltener, die Stimmung ist auf beiden Seiten nüchterner geworden - sehr vorsichtig ausgedrückt. Was sagen die Polen heute zu dem von ihren Politikern angestrebten Beitritt zum Club? Das ist keine akademische Frage, denn die maßgeblichen politischen Kräfte im Land haben versprochen, den Beitritt in einem Referendum vom Volk besiegeln zu lassen. Waren es einst 80 Prozent der Polen, die in der derart gestellten Sonntagsfrage mit "Ja" antworteten, so liegt die Zustimmung seit zwei Jahren nur mehr bei 50 Prozent (in den meisten Umfragen etwas darüber). Die Zahl der Gegner ist gewachsen und liegt zumeist bei etwa 30 Prozent.

Immerhin, nicht nur die Solidarnos′c′-Kräfte, auch die postkommunistische Allianz der Demokratischen Linken (SLD) ist klar für den EU-Beitritt, wie sie auch für den Nato-Beitritt war. Ihr Vorsitzender Leszek Miller, mit einiger Sicherheit der Sieger bei der Parlamentswahl dieses Herbstes, spricht mit Vorliebe davon, es gelte, eine "Integration zu günstigen Bedingungen" (korzystna integracja) zu erreichen. Eine Haltung, die auch die auf eine kleine, aber stabile Wählerschaft gestützte Polnische Bauernpartei teilt. Sie ist nicht grundsätzlich gegen den EU-Beitritt, aber sie will genau hinsehen, ob er sich für ihre Klientel "rechnet".

Tief sitzt die Fixierung auf das Abendland

In großen Teilen der Eliten, auch unter den Intellektuellen, gehört es immer noch zum guten Ton, EU-freundlich zu sein. Teils mag da ein nationaler Wagenburgreflex eine Rolle spielen, der es nicht geraten erscheinen lässt, Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel in dieser Frage an die Öffentlichkeit oder gar ins Ausland zu tragen. Teils ist es schlicht die tief in der politischen Kultur Polens verwurzelte Fixierung auf Europa, das Abendland, die Freiheit des Individuums, westliche Werte (einschließlich der Marktwirtschaft). Teils ist es die resigniert vorgetragene Überzeugung, es gebe aus dem Hier und Jetzt eben keinen anderen Ausweg als den westlichen Way of life.

Polnische Begegnungen verlaufen oft anders, als man erwartet. Selbst ein Schriftsteller wie Wieslaw Mysliwski, Jahrgang 1935, der führende Vertreter der polnischen Dorfprosa, dessen große Themen die Entwurzelung und Überfremdung traditioneller Lebensformen sind, ist, wie ich anlässlich der Warschauer Frühjahrsbuchmesse mit Verblüffung feststellen konnte, klar für den EU-Beitritt. Ganz anders ist mir dagegen der in Deutschland gefeierte Andrzej Stasiuk, Jahrgang 1960, begegnet. Der als "Aussteiger" mit seiner Familie im Gebirgsvorland lebende Dichter, der in seinen Werken den Geist der Karpaten einzufangen versucht, hat sich als erster unter den bekannten Schriftstellern als Euroskeptiker geoutet. In seinem Essay "Europa? Nein Danke" (in der Welt vom 17. Februar 2001) hat Stasiuk ein Unbehagen über das Näherrücken der EU herausgeschrien, das er zweifellos mit etlichen seiner polnischen Landsleute teilt, deren Stimmen uns nie zu Gehör kommen werden:

"Der Gedanke, ein universales Geld, eine universale Wirtschaft und der vereinheitlichte Geschmack der Lebensmittel könnten die Grundlage einer Gemeinschaft sein, ist eine furchtbare Karikatur. Die Vereinigung (Europas) bedeutet nichts weiter als den sicheren Konsum in einem geschlossenen und gut bewachten geografischen Raum. (...) Ich verspüre also keine Euphorie. Ich verspüre eine vernünftige Melancholie. Auch spüre ich eine Art Ekel, wenn ich in meinem Land die Zeitungen lese, denn fast täglich finde ich darin Ratings und Punktwertungen, die meinem Land und seinen östlichen und südlichen Nachbarn ausgestellt werden. Natürlich bin ich kein Idiot. Ich weiß, wer die Bedingungen diktiert, und dennoch verspüre ich Ekel, weil diese ganze Prozedur an einen Sklavenmarkt erinnert."

Wer zuletzt kommt, geht immer leer aus

Auch Andrzej Stasiuk kommt zu dem Schluss, Polen bleibe kein anderer "Ausweg" als der Beitritt zur wenig geliebten EU. Man muss Stasiuk nicht in allen Punkten folgen, aber man sollte auf ihn hören. Klingen seine Worte nicht wie ein Kommentar zu den Bestrebungen der EU-Altmitglieder, den polnischen Bauern geringere Beihilfen zu gewähren als ihren eigenen Landwirten? Stasiuk schreibt über die Bewohner seiner Region:

"Diese einfachen Menschen spüren instinktiv, dass die versprochene Welt des Wohlstands und der Freiheit eine Welt für einige Auserwählte sein wird. Der Reichtum reicht nie für alle, und die, die als letzte kommen, bekommen in der Regel gar nichts. Diese Wahrheit versteht jeder Bauer in meiner Gegend, auch wenn er kaum lesen und schreiben kann."

Dass Andrzej Stasiuk Vorbote eines allgemeinen Stimmungsumschwungs in Ostmitteleuropa ist, wage ich (noch) zu bezweifeln. Zu fest verwurzelt sind die westwärts gerichteten Hoffnungen, groß genug auch die bereits aus dem Westen gekommenen Enttäuschungen, als dass für die Zukunft noch mit großen Überraschungen (aus dem Westen) und Stimmungsänderungen (im Osten) zu rechnen wäre. Aber - wer weiß?

Würden Sie diesem Club beitreten wollen?

Machen wir uns nichts vor: Nach und nach zeichnet sich für unsere östlichen Nachbarn eben doch eine EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse ab. Immer deutlicher bekennen sich dazu auch westeuropäische - darunter deutsche - Politiker. Die Schlagbäume an der Oder und im Bayerischen Wald werden mit dem Beitritt nicht verschwinden, heißt es, während sie an Bug und Theiß auf Brüssels Wunsch heruntergehen sollen. Die finanziellen Hilfen für die neuen EU-Länder werden dürftiger ausfallen als die bisherigen Mittel für die alten. Die Freizügigkeit für Arbeitnehmer wird um Jahre aufgeschoben. Keine offenen Grenzen, keine Freizügigkeit, kein Geld - und selbst die noch verbleibenden Segnungen kommen später als angekündigt! Würden Sie diesem Club beitreten wollen?

Sicher ist nur eines: Für Polen führen inzwischen viele Wege nach Brüssel. Einer führt über London, andere über Stockholm und Kopenhagen, ein Umweg verläuft über Washington. Bezüglich der Zukunft der EU, ihrer "Finalität", halten es die Polen lieber mit den Briten und Franzosen als mit Joschka Fischer. Der Weg Polens nach Europa, das erkennt man in Warschau immer deutlicher, führt nicht mehr allein über Deutschland.

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