Die Suche nach dem »geordneten Übergang«

Erstmals seit dem Ende des Ostblocks haben sich Kubas sozialistische Machthaber auf einen vorsichtigen Reformkurs begeben. Doch (noch) fehlt es der Führung an Mut und an Vertrauen zum Volk

In Kuba läuft manches anders. Das zeigte der Besuch von Papst Benedikt XVI. auf der Insel Ende März 2012 erneut eindrucksvoll. Die westlichen Medien versuchten, ein Treffen des „Heiligen Vaters“ mit kubanischen Dissidenten herbei zu schreiben und den Papst darauf festzulegen, den Castro-Brüdern wegen ihrer Menschenrechtspolitik die Leviten zu lesen. Der Papst tat nichts davon, sondern hörte auf den Rat seiner kubanischen Bischöfe, die Kooperation gepredigt hatten. Die katholische Kirche weiß, dass die kleine Gruppe von Regime-Gegnern keinen Machtfaktor darstellt und deshalb kein Träger eines Wandels sein kann.

Wandel gibt es in Kuba heute auf allen Ebenen: ökonomisch, politisch und sozial. Aber er kommt eher aus der Mitte der Gesellschaft, befeuert durch die ökonomische Dauermisere und in jüngster Zeit beflügelt von Spekulationen über den Gesundheitszustand des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Denn von dessen Subventionen hängt das gegenwärtige Wirtschaftsmodell auf der Insel weitgehend ab. Der kubanische Sozialismus ist keine Kopie Osteuropas. Kuba ist nicht halb so katholisch wie Polen. Die kubanischen Gewerkschaften sind nach wie vor der intakte Transmissionsriemen der Partei in den Betrieben, aber keine patriotische Massenbewegung mit eigenen Ideen wie die „Solidarnos´ c´ “ in den achtziger Jahren. In Havanna ist weder ein charismatischer Arbeiterführer vom Schlage Lech Wałsas in Sicht, noch ein Anwalt der Bürgerrechte vom Format eines Václav Havel.

Der Papst beschränkte sich auf eine wolkige Kritik am Marxismus und sprach das Thema Menschenrechte nur in abgewogenen Worten über christliche Nächstenliebe an. Zudem kritisierte der Vatikan vor der Weltöffentlichkeit das inzwischen ein halbes Jahrhundert andauernde amerikanische Embargo als inhuman und segnete die neue Linie der Zusammenarbeit von katholischer Kirche und kubanischem Staat im komplexen Prozess des Wandels ab. Die Grundlage dieses Bündnisses ist die Tatsache, dass die Kirche heute die Legitimität des Sozialismus in Kuba nicht mehr in Frage stellt. Wie der Kardinal von Havanna, Jaime Ortega, in zahlreichen Gesprächen mit westlichen Politikern immer wieder betont, gilt der kubanische Sozialismus auch für die katholische Kirche als das Ergebnis eines vom Volk getragenen Kampfes um nationale Unabhängigkeit und somit als identitätsstiftend – anders als in Mittel- und Osteuropa, wo er im Jahr 1945 auf den Panzern der Roten Armee anrollte.

Dennoch, Kubas Mythos verblasst. Die sozialen Dienstleistungen, einst der Stolz der Revolution, sind nicht mehr bezahlbar und werden zusehends schlechter. Dennoch hält die Regierung an der ambitionierten Sozialpolitik der Revolution fest: In den vergangen Jahren ist der Anteil der Sektoren Bildung, Gesundheit und Soziale Sicherheit am Bruttoinlandsprodukt weiter gestiegen. Angesichts der niedrigen Wirtschaftsleistung reichen aber selbst diese Prioritäten nicht aus, um die Standards zu halten.

Die ineffiziente Wirtschaft hat Volk und Regierung voneinander entfremdet. Die Generation, die die Revolution miterlebt und von ihr profitiert hat, stirbt langsam aus. Der jungen Generation bietet die unproduktive Planwirtschaft weder eine Arbeits- noch eine Konsumperspektive. Eine relativ homogene und egalitäre Gesellschaft, die sich durch die Überwindung von sozialen Ungerechtigkeiten und Rassenschranken auszeichnet – das war einmal. Unterhalb der Oberfläche machtpolitischer -Stabilität differenziert sich die kubanische Gesellschaft aus. Fidel Castro hatte den Marx’schen Satz zur Maxime erhoben „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Dieses Versprechen hat seine Glaubwürdigkeit verloren. In Kuba gibt es wieder sichtbare soziale Exklusion. Wer keinen Zugang zum an den Dollar gekoppelten „peso convertible“ hat, rutscht leicht in die Armut ab. Betroffen sind vor allem die wachsende Gruppe alleinstehender alter Menschen und die Afrokubaner. Gleichzeitig wird die individuelle Herkunft für den Bildungserfolg zunehmend wichtiger.

Dieser Erkenntnis verschließt sich auch die Regierung von Staatspräsident Raúl Castro nicht mehr. Erstmals seit dem Ende des Ostblocks beschreitet Kuba einen Reformweg und versucht, die zentral gelenkte Staatsverwaltungswirtschaft zu modernisieren. Anfang der neunziger Jahre hatte man die durch den Niedergang des realen Sozialismus ausgelöste Wirtschaftskrise noch als von außen induziert interpretiert. Dagegen gilt die gegenwärtige Krise als Folge der Mängel des eigenen Wirtschaftsmodells. Keiner drückte dies drastischer aus als Raúl Castro selbst, als er vor der kubanischen Nationalversammlung im Dezember 2010 sagte: „Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter.“ Man räumt eigene Fehler ein und konzentriert sich darauf, diese abzustellen. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen kubanische Offizielle jedes Problem auf der Insel mit dem amerikanischen Embargo begründeten.

Chávez hielt die marode Wirtschaft am Leben

Allein, die ökonomische Ausgangslage für die Reform des Modells ist inzwischen denkbar schlecht. Auch ein halbes Jahrhundert nach der Revolution ist es Kuba nicht gelungen, seine Planwirtschaft zum Laufen zu bringen. Im Rahmen der Arbeitsteilung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe war man darauf festgelegt, Zucker sowie andere Nahrungsmittel und Rohstoffe zu liefern. Als die östliche Wirtschaftsgemeinschaft wegbrach und die sowjetischen Subventionen wegfielen, musste Kuba seine Ökonomie vollständig umbauen. Diese Aufgabe übertrug Fidel Castro seinem Bruder und damaligen Verteidigungsminister Raúl und dessen „Forcas Armadas Revolutionarias“ (FAR). Die erfolgreiche Erledigung dieser Mission markiert den Einstieg der kubanischen Militärs in die modernen exportorientierten Sektoren der Wirtschaft. Seitdem haben sie ihren Einfluss auf die Ökonomie ausgeweitet und sind heute die treibende pragmatische Kraft hinter den Reformen. Auf diese Weise gelang es seinerzeit zwar, den Zusammenbruch abzuwenden. Jedoch konnten die seither aufgebauten Wirtschaftssektoren Tourismus, Nickelexport sowie – in gewissem Umfang – Gesundheitsdienstleistungen und Biotechnologie nicht so weit entwickelt werden, dass sie den Devisenbedarf des Landes decken. Seit Jahren lebt Kuba mit einem strukturellen Außenhandelsdefizit, mit hohen Auslandsschulden und – -dadurch bedingt – mit einer Liquiditätsklemme des Staates. Als Hugo Chávez in Venezuela die Macht übernahm, gelang es Ende der neunziger Jahre, neue Subventionen zu akquirieren. Diese hielten die marode alte Planwirtschaft am Leben und verhinderten nötige Strukturreformen, was sich heute als schwere Hypothek erweist.

Mittlerweile hat die Insel eine Wirtschaftsstruktur, in der die „produktiven“ Sektoren nur noch knapp ein Viertel der Wertschöpfung ausmachen, der Dienstleistungssektor hingegen mehr als drei Viertel. Kubanische Ökonomen sprechen von einer „dysfunktionalen Tertiarisierung“, die eine gesunde Entwicklung der Ökonomie bedrohe. Seit Anfang der neunziger Jahre ist die kubanische Wirtschaft nicht in der Lage, die notwendige Kapitalerneuerung, die Grundlage ihrer eigenen Existenz, zu gewährleisten. Die Bruttoanlageinvestitionen gingen zwischen 1989 und 2007 um 47 Prozent zurück. Sie machten 2006 nur noch 13,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und haben sich seitdem etwa auf diesem Niveau eingependelt. Dies entspricht der Hälfte des Wertes von 1989 und etwa der Hälfte dessen, was als notwendig angesehen wird für ein nachhaltiges Wachstum. Damit liegt Kuba auch weit unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt von etwa 20 Prozent. Das Land ist de-industrialisiert, es gibt kaum noch intakte Wertschöpfungsketten. Vom Verfall der Infrastruktur ganz zu schweigen.

Die auf die Dollarisierung Anfang der neunziger Jahre gefolgte duale Währung hat für Kubas Lohnempfänger bis heute gravierende Folgen. Sie wurde zum wesentlichen Ausgangspunkte sozialer Differenzierung. Die Gehälter werden in kubanischem Peso gezahlt, der eine niedrige Kaufkraft hat. Aber ein Großteil der Güter des täglichen Bedarfs wird in der konvertiblen Währung CUC gehandelt. Aus diesem Grund geht es Kubanern, die Zugang zu Devisen haben, weit besser als den übrigen Landsleuten. Man kommt an die Hartwährung entweder über Zahlungen von im Ausland lebenden Kubanern, über den Tourismus oder über den Außenhandel. In der Regel übersteigen heute die Zusatzeinkünfte aus Remittenden und Einnahmen aus Schwarzmarkaktivitäten oder privatwirtschaftlicher Tätigkeit das reguläre Einkommen erheblich. Damit wird bezahlte Lohnarbeit zunehmend unbedeutender. Das System setzt also völlig falsche Anreize. Die Tatsache, dass eine Kellnerin, ein -Taxifahrer oder die Reinigungskraft in einem Touristenlokal das Vielfache eines Arztes oder einer Lehrerin verdient, führt zur Umkehrung der kubanischen Sozialpyramide. Viele Jugendliche fragen sich, ob sich eine gute Ausbildung überhaupt noch lohnt. Und immer mehr hochqualifizierte Fachkräfte wandern in Bereiche ab, in denen auch ohne Qualifikation gute Verdienste locken.

Vor diesem Hintergrund leitete die Regierung seit dem Sommer 2010 wirtschaftliche Reformmaßnahmen ein, die mit der Verabschiedung der „Leitlinien zur Wirtschafts- und Sozialpolitik“ auf dem sechsten Parteitag der Kommunistischen Partei im April 2011 offizielle Politik wurden. Die Leitlinien stellen eine Art roadmap für die Suche nach einem neuen nachhaltigen Entwicklungsmodell dar. Zur Debatte steht eine neue Balance zwischen Staats-, Genossenschafts- und Privatsektor. Dabei wird kein Zweifel daran gelassen, dass die Reformen den Sozialismus retten und ihn nicht etwa schwächen oder abschaffen sollen. Die Wende bringen sollen Privatisierungen in den Bereichen Handwerk und Kleingewerbe sowie die private Produktion und Vermarktung von Nahrungsmitteln auf langfristig vom Staat verpachtetem Land. Außerdem wird die Dezentralisierung von Entscheidungen und Budgetkomponenten an Provinzen und Gemeinden diskutiert. Die Landverteilung läuft bereits seit etwa zwei Jahren. Flankierend stärkt Kuba den Genossenschaftssektor und baut die weit verbreiteten sozialen Subventionen ab, zum Beispiel Lebensmittelkarten oder Kantinen in Staatsbetrieben.

Aber der überwiegende Teil der Ökonomie wird auch in Zukunft planwirtschaftlich organisiert, die wichtigsten Produktionsmittel bleiben staatlich. Das Leitmotiv der Reformen ist der Abschied von einem paternalistischen Staat. Das Ziel dieser Agenda: Die im Staatssektor freigesetzten Arbeitskräfte sollen die Lohnkosten senken, die extrem niedrige Arbeitsproduktivität in den Staatsbetrieben soll gesteigert werde. Der neu zu schaffende Privatsektor und die Kooperativen sollen die -Arbeitskräfte aufnehmen und das Dienstleistungs- und Warenangebot verbessern. Durch ihre Steuerzahlungen sollen die neuen Selbständigen zur Verbesserung der Staatsfinanzen beitragen. In der Landwirtschaft sollen die Maßnahmen zu einer schnellen Erhöhung der Produktion führen, um die Importe landwirtschaftlicher Produkte (Kubas Importquote bei Lebensmittel liegt bei etwa 80 Prozent) zu substituieren und dem Staat finanzielle Spielräume zu verschaffen.

Wo sollen die Arbeitsuchenden unterkommen?

Der Arbeitsmarkt zeichnet sich durch massive Unterbe-schäftigung und niedrige Produktivität aus. Bis April 2011 -sollten 500.000 Staatsbedienstete „freigesetzt“ werden, bis 2015 soll die Zahl auf 1,3 Millionen steigen. Angesichts einer Erwerbsbevölkerung von 4,9 Millionen handelt es sich um ehrgeizige Ziele. Doch dieser Reformschritt blieb bereits in den Ansätzen stecken. Selbst kubanischen Experten war unklar, wo das Heer der Arbeitsuchenden unterkommen sollte. Die Liste der für die Selbständigkeit freigegebenen Berufe erweckte zunächst den Eindruck, als stamme sie aus dem 19. und nicht aus dem 21. Jahrhundert. Sie wird nun langsam um moderne Berufe erweitert. Dennoch geht der Reformprozess am Arbeitsmarkt weiter, allerdings wesentlich langsamer als geplant. Nach Angaben der Gewerkschaften waren 2011 rund 800.000 Beschäftigte von Umsetzungs- beziehungsweise Umstrukturierungsprozessen betroffen.

Erfolgreicher verläuft der Ausbau von Handwerk und Kleingewerbe. Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der „cuenta propistas“, der „Beschäftigten auf eigene Rechnung“, von rund 145.000 im Jahr 2008 auf etwa 360.000 Ende 2011 gestiegen. Bei einem Teil dürfte es sich allerdings um die Legalisierung bisheriger Schwarzmarktgeschäfte handeln, außerdem kehren Rentner auf den Arbeitsmarkt zurück. Bis 2015 soll der Sektor etwa 35 Prozent der Beschäftigten und einen ähnlich großen Anteil am BIP des Landes umfassen.

Die Hindernisse für einen Erfolg dieses Reformschritts liegen im Kleingedruckten, bei der Verwirklichung begleitender beziehungsweise vorbereitender Maßnahmen, die ein Funktionieren der neuen Mikro- und Kleinunternehmen überhaupt erst ermöglichen. Dazu zählen der Aufbau von Kreditlinien, Regelungen zu Steuern und Sozialabgaben, Import- und Exportbestimmungen, eine Strukturreform im Bankensystem und so weiter. Dieser Prozess kommt bisher nur schleppend voran. Abzuwarten bleibt ferner, ob die bisherigen Anreize ausreichen, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, ihre knappen Ressourcen und ihr auf dem Schwarzmarkt bewiesenes Organisations- und Improvisationsvermögen auch unter legalen Bedingungen einzusetzen. Ebenso gut könnten bürokratische Verantwortungslosigkeit und der Primat politischer Kontrolle Risikobereitschaft und Initiative abwürgen.

Aber selbst wenn die Reformen ein durchschlagender Erfolg würden, blieben die Effekte weitgehend auf den Binnenmarkt und den Arbeitsmarkt beschränkt. Für Kuba wäre es schon ein großer Gewinn, wenn sich die Versorgungslage tatsächlich verbessern und dauerhaft Raum für private Initiative und Verantwortung geschaffen würde. Aber auch den führenden kubanischen Ökonomen ist klar, dass dies lediglich ein Schritt wäre auf dem langen Weg zu einem nachhaltigeren Entwicklungsmodell. Die Agenda weiterer Strukturreformen ist lang: Es braucht eine neue Politik im Hinblick auf ausländische Direktinvestitionen, eine betriebliche und gesamtwirtschaftliche Innovationspolitik, eine Neuausrichtung der Außenwirtschaftspolitik, den Aufbau eines funktionsfähigen Steuersystems, eine Zusammenführung der beiden Währungen und eine Wachstumsstrategie, die dem Staat endlich einen gewissen finanziellen Handlungsspielraum beschert.

Zieht man eine Zwischenbilanz, erscheint der Aktualisierungsprozess zwar als langsam und zu kontrolliert, aber auch als kontinuierlich – „ohne Hast, aber ohne Pause“ (Raúl Castro). Allerdings folgt er eher einem Muster von trial and error als einem Masterplan. In gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten schlugen sich die Maßnahmen bis 2011 noch nicht nennenswert nieder; sie lagen in den vergangenen Jahren zwischen 2,5 und 3 Prozent. Dennoch ist klar: Sollte die roadmap verwirklicht werden, wird sie den kubanischen Sozialismus von Grund auf verändern.

Während die Wirtschaftsreformen auf den Weg gebracht werden, gestaltet sich der von vielen erwartete Wandel im politischen System bedeutend langsamer. Der Regierung sind die Schwierigkeiten wohl bewusst, und der Präsident hält keine Rede, in der er nicht auf den notwendigen „Mentalitätswandel“ hinweist – allerdings mit begrenzter Wirkung. Denn nicht zuletzt die zahlreichen mittleren Kader aus der Partei haben durch mehr Transparenz, durch die Teilprivatisierung von Wirtschaftssektoren und durch die Dezentralisierung jede Menge Macht und Privilegien zu verlieren. Raúl Castro sprach die Widerstände wiederholt an und forderte die Skeptiker in der Partei und in der politischen Führung auf, einen Mentalitätswandel zu vollziehen oder zurückzutreten. Viel deutet darauf hin, dass Kuba auf dem Weg in eine Politik der zwei Geschwindigkeiten ist: Ökonomisch werden die Reformansätze des -Parteitages verwirklicht. Politisch verweigern Teile der Partei und der Staatsbürokratie die Verjüngung und eine Anpassung der Strukturen an die neue Realität.

Ob sich die Parteibürokratie mit einer längerfristigen -Blockadehaltung einen Gefallen tut, darf bezweifelt werden. Denn die Wirtschaftsreformen entfalten schon jetzt ihre -eigene Dynamik. Dabei werden die ökonomischen Veränderungen nicht nur von anderen Gruppen in der Führung gesteuert, die ideologisch weniger festgelegt erscheinen. Auch wird die Politik in den einzelnen Reformfeldern mit Experten von außerhalb der Regierung diskutiert – ein Novum in Kuba, das den -politischen Prozess für die Gesellschaft um einiges transparenter macht.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten verfolgen den kubanischen Reformprozess mit Interesse, ohne dass es gelingt, eine einheitliche Haltung zu entwickeln. Stattdessen blockiert man sich selbst. Die offizielle Politik folgt weiter dem von der konservativen spanischen Regierung José María Aznar 1996 inspirierten „Gemeinsamen Standpunkt“. Sie versucht, eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen an Fortschritte bei den Menschenrechten zu binden. Diese Politik hat ihre Ziele nicht erreicht und gilt daher seit geraumer Zeit als gescheitert. Inzwischen wird sie von vielen EU-Mitgliedsländern unterlaufen, die bilaterale Kooperationsabkommen mit der Insel geschlossen haben.

Soll Europa auf Wandel durch Annäherung setzen?

Bis heute stellt die Lage der Menschenrechte einen der neuralgischen Punkte im Verhältnis zur Europäischen Union dar, auch Amnesty International weist in seinen Berichten weiterhin Verstöße aus. Allerdings gibt es durchaus Anlass zur Hoffnung. Im Frühjahr 2011 wurden mit Vermittlung der katholischen Kirche nicht nur alle politischen Gefangen entlassen, die im Jahre 2003 nach dem Konflikt mit der EU verurteilt worden waren. Es wurden auch Dutzende weitere Fälle geklärt. „Die Europäische Union, die die Inhaftierung von 75 Regimegegnern 2003 zur zentralen Causa in den bilateralen Beziehungen gemacht hatte, muss deren Freilassung positiv anerkennen, will sie nicht an Glaubwürdigkeit verlieren“, schreibt dazu Bert Hoffmann vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. Angesichts der erwiesenen Wirkungslosigkeit des „Gemeinsamen Standpunkts“ stellt sich für die europäische Politik langsam die Frage, ob man sich nicht von der Flankierung der -amerikanischen Embargo-Politik emanzipieren und lieber auf ein bewährtes Modell europäischer Politik zurückgreifen sollte: „Wandel durch Annäherung“.

Der begonnene Reformprozess nimmt Ausmaße an, die vergleichbar sind mit den Anfängen der Reformen in China oder Vietnam. Wie die asiatischen Referenzmodelle begibt sich Kuba auf diesen Weg unter Führung der Partei. Allerdings hat man die Wirtschaft bislang bei weitem nicht in dem Umfang geöffnet, wie dies in Asien seit Mitte der achtziger Jahre geschah. Beim heutigen Stand der Globalisierung dürfte Kuba der klassische Weg einer nachholenden Industrialisierung verstellt sein. Chancen könnte der Aufbau einer Cluster-Ökonomie bieten, die sich entsprechende Nischen auf dem Weltmarkt erschließt – wie es erfolgreich auf dem Sektor der Biotechnologie gelang. Der dafür notwendige Produktionsfaktor ist der einzige, über den Kuba im Überfluss verfügt: eine gut ausgebildete Bevölkerung.

Man setzt in Havanna auf eine „transición ordenada“, einen geregelten Übergang. Nur so glaubt die Regierung, die Revolution retten zu können. Es soll kein Modell kopiert werden, sondern man sucht seine eigene Strategie zur Bewältigung der Krise. Ob der von Raúl Castro propagierte pragmatische Pfad konsequent beschritten wird, ist weiter offen. Selbst wenn die eingeleiteten Reformschritte gelingen, bleiben weitere strukturelle Herausforderungen bestehen. Dennoch: Auf der Basis des guten Bildungsniveaus und mit einer Mischung aus kubanischer Gelassenheit und dem in harten Zeiten erworbenen Improvisationsvermögen könnten die Reformen einen Ausweg aus der ökonomischen Agonie weisen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in Kuba selbst. Ganz ohne Risiko und vollständig unter Kontrolle wird der Wandel aber kaum vonstattengehen. Vielleicht braucht die Führung mehr Mut und Vertrauen in die eigene Bevölkerung – aber waren dies nicht auch die Voraussetzungen für die Revolution 1959?

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