Die Stunde des Charismatikers?

Zwischen Potsdam und Hannover, Leipzig und Saarbrücken: Einige ganz und gar unrealpolitische Assoziationen zum Führungsproblem in der deutschen Gesellschaft- und in der Sozialdemokratie

Gesucht wird der deutsche Churchill für das Jahr 2003. So jedenfalls tönt es seit nun fast einem halben Jahr immer wieder bei den Leitartiklern dieser Republik. Das Hauptobjekt ihrer Kritik und Häme in diesen Monaten ist der Kanzler, über dessen Wendigkeit und Schnoddrigkeit sie zuvor lange so begeistert gejuchzt und freudig gefeixt hatten. Jetzt aber vermissen sie - und bekanntermaßen nicht nur sie allein - bei Schröder Richtung und Ziel, Begründung und Ethos; im Jargon des Pressekommentars: die "Kraft zur Reform", den "Mut zur Grausamkeit", die "Energie für den großen Befreiungsschlag". Eine lange Ära zunächst basisdemokratischer Nonchalance, dann provokativ-spaßgesellschaftlicher Albernheit in der deutschen Gesellschaft geht damit ganz offenkundig zu Ende. Die Republik weiß, dass es bitter ernst ist. Das Volk möchte nicht mehr unterhalten werden. Es will, dass seine politischen Anführer wirklich führen - statt bloß zu inszenieren, zu moderieren, zu repräsentieren.


Deutschland im Jahr 2003. Das ist im Grunde ein Land mit geradezu klassischen, gleichsam idealtypischen Voraussetzungen für die charismatische Versuchung. Große politische Charismatiker brauchen bekanntlich ihre Zeit und ihren Ort. Nationen, die mit sich und ihrer politisch-ökonomischen Entwicklung im zufriedenen Einklang leben, deren Institutionen intakt und hinreichend wandlungsfähig sind, benötigen keine Charismatiker, bringen sie auch nicht hervor. Die Stunde der Charismatiker schlägt allein in der großen physischen oder psychischen Not, in Zeiten der Depression, der Verzweiflung, der Paralyse, der Ratlosigkeit, des lähmenden gesellschaftlichen Stillstands. Das ist die Bühne für die kühnen politischen Propheten und Missionare mit ihren prätentiösen Heilsversprechen, ihren weitreichenden Alternativen und groß angelegten Projekten.

Wenn die inspirationslosen Manager des Klein-Klein ratlos auf der Stelle treten, wenn Bürokratien und Administratoren nur noch blockieren, dann wird der Raum frei für die Magier, Visionäre und wortmächtigen Tribune der Politik, die die alten Mythen und Erzählungen aktivieren, die neue Geschichten und eigene Legenden schaffen. Sie brechen dann nicht selten mit ihrem Zukunftsoptimismus die depressive Stimmung und bleierne Apathie auf. Sie entfachen dadurch Leidenschaften, regen die kollektive Phantasie an, legen unterdrückte Energien frei. Charismatiker fühlen sich von einer großen Mission getrieben. Das ist die spezifische Quelle ihrer außergewöhnlichen Kraft. Sie setzen langfristige Ziele. Sie übertragen ihre politischen Vorstellungen in imaginative Bilder, Metaphern, Symbole. Damit vitalisieren sie die gestanzten, verdorrten politischen Sprachformeln. So begeistern sie ihre Anhänger. Dadurch bringen sie, kurzum, die erstarrten politischen Verhältnisse zum Tanzen.

Ein bisschen Tumult könnte nicht schaden

Ein wenig von diesem charismatischen Antidepressivum, ein bisschen Tanz und Tumult könnte die deutsche Gesellschaft gegenwärtig in der Tat ganz gut gebrauchen. Das Land ist in Not. Und doch ist nirgendwo der neue politische Prophet, der visionäre Erwecker, der große Charismatiker in Sicht. Gewiss: Man kann darüber aus vielen guten Gründen erleichtert sein. Denn schließlich ist dem Land dadurch bislang der populistische Rattenfänger von rechts erspart geblieben. Die Erfahrung aus den Jahren 1933 ff. haben das Heldenverlangen, den Kult des Heroischen bei den Deutschen - besonders Konrad Adenauer sei da Dank - gehörig abgedämpft. So mag man das Ausbleiben des großen Charismatikers - nochmals: mit guten Gründen - als Folge der mittlerweile erreichten zivilisatorischen und republikanischen Reife der deutschen Republik betrachten. Denn besonders aufgeklärt geht es zwischen Charismatikern und ihrem Volk in etlichen Fällen eher nicht zu. Oft genug wirkt und agiert der Charismatiker wie ein säkularisierter Heiland. Seine Anhänger bilden eine Art hingebungsbereite Glaubensgemeinschaft, die dem visionären Verkünder beim Aufbruch in das gelobte Land der neuen Freiheit folgsam hinterher schreitet. Insofern erzeugen Charismatiker oft mehr Stimmungen des semireligiösen Pathos, der metaphysischen Ekstase und dionysischen Trunkenheit als solche der besonnenen und rationalen Politik.

Der Prophet erschlafft, der Zauber verfliegt

Zudem: Weit kommt man mit der charismatischen Attitüde besonders auf dem Terrain komplexer Verhandlungsdemokratien sowieso nicht. Der angekündigte Befreiungsschlag bleibt in der Regel aus, verheddert sich im dichten Flechtwerk unzähliger Vetomächte. Die historische Sendung des neuen Erlösers findet kaum ihren erfolgreichen Schlussakt. Das politische Pfingsten geht jäh in den prosaischen Alltag über. Die Aura des Charismatiker schwindet dann, die Ausstrahlung verblasst rasch, zerfällt schließlich - "versandet", wie es bei Max Weber heißt. Der Zauber währt nur eine kurze Zeit. Es will partout nicht gelingen, dem charismatischen Flair Kontinuität und Dauer zu geben. Zurück bleibt Ernüchterung. Der Prophet und seine Jünger erschlaffen. Und es beginnt erneut das unspektakuläre Tagewerk der grundsoliden politischen Manager und Administratoren, die immer dann zur Stelle sein müssen, wenn die Stars und Matadore des wortmächtigen Pathos kläglich die Kanzel verlassen.

Neue Wähler, neue Mehrheiten

Aber zuvor können Charismatiker doch einen tollen Tanz veranstaltet haben. Charismatiker sind jedenfalls die Helden politischer Feste, sind die Artisten des Ausnahmezustandes, der kraftvollen Entgrenzung. Und vermutlich sind in der Tat nur Charismatiker mit Sendungsbewusstsein und visionärer Perspektive in der Lage, wenigstens für einen historischen Abschnitt Leidenschaften zu entfesseln und Spannungen zu erzeugen, um Routinen des Alltags zu entweichen, Konventionalitäten zu verlassen, Versäulungen überlieferter Macht und überkommener Interessen aufzulösen, um schon resignierte oder kraftlos gewordene Menschengruppen oder ganze Gesellschaften aus Erschlaffung und dumpfer Trägheit zu reißen. Charismatiker sind Aktivierer. Ihr Drang richtet sich nach "draußen". Ihnen genügt nicht die Enge des abgeschotteten Milieus, der separierten Peer-Group, des verschlossenen Ortsvereins, des bürokratisch betreuten Sozialstaats. Sie sind nicht binnenzentriert und politisch autistisch, sondern nach außen gewandt und eben missionarisch oder, moderner und politischer formuliert: immer auf der Suche nach neuen Anhängern, neuen Wählern, neuen Mehrheiten, neuen Bewegungen für ein neues strategisches Ziel. Allein den ideengetriebenen, überzeugungsgeleiteten Charismatikern gelingt es zeitweilig, Politik mit Leben, Emotionen und Sinn zu füllen. Charismatiker hinterlassen infolgedessen, wenn sie von Bühne abtreten, lang anhaltende Prägungen, konstante Bindungen, bleibende Orientierungen. Sie hinterlassen politische Loyalitäten und feste Gesinnungen, lassen zumindest keine launisch in der politischen Landschaft herumzappenden Wechselwähler zurück. Und charismatische Propheten produzieren eine neue, besonders einsatz- und initiativfreudige Apostelschar. Erneut etwas moderner und parteipolitisch angemessener ausgedrückt: Durch den charismatischen Impuls und Weckruf vollzieht sich ein Wechsel, eine grundlegende Erneuerung in der Funktionärsschicht einer politischen Organisation. Die Alten, Verzagten und Müden treten ab und machen frischen, noch enthusiastischen, kreativen Kräften Platz.

Wer ist in zwanzig Jahren noch Schröderist?

Politiker wie Ludwig Erhard oder Willy Brandt trugen eine Zeit lang gemäßigt charismatische Züge. Als Realpolitiker an der Spitze der Bundesregierungen scheiterten sie letztlich ziemlich ruhmlos, wie fast alle Charismatiker in modernen Demokratien. Doch hatten sie zuvor mit großen Orientierungen, mit klaren Grundsätzen, ehrgeizigen Plänen, konzisen Visionen viel riskiert, dadurch den politischen Spielraum weit über den Normalzustand hinaus geöffnet und am Ende für langfristig wirkende politische Einstellungsmuster bei ihren politischen Bataillonen und Anhängerschaften gesorgt. Mit Grundbegriffen aus der politischen Semantik und Überzeugungswelt von Brandt und Erhard können Sozialdemokraten und Christdemokraten noch heute die Wurzeln und Zielperspektiven ihres politischen Engagements erklären. Man muss kein Prophet sein, um die Prognose zu formulieren: Nicht so sehr viele Menschen werden in zwanzig Jahren ihre politischen Handlungsmotivationen und Leitziele auf die heutigen Chefs der Großparteien zurückführen.

Details sind dem Charismatiker eher egal

Natürlich: die Fest- und Aktionstage der Charismatiker sind zeitlich eng limitiert. Sie dürfen sich auch nicht zu häufig wiederholen. Die Ausstrahlung der Charismatiker lebt davon, dass man ihnen nur selten begegnet, dass sie nur in Ausnahmefällen aus dem Hintergrund der Gesellschaft und oft genug verkorkster Biographien in den Mittelpunkt der Politik treten. Charismatiker in Permanenz würden Nationen auch gar nicht verkraften können. Denn Charismatiker sind keine ordentlichen Handwerker der Politik. Die großen Interpretations- und Deutungssysteme strukturieren sie zwar neu; das ist ihre originäre, oft unverzichtbare (Ordnungs-) Leistung. Aber in den Details der praktischen Politik richten sie häufig Unordnung an, ein ziemliches Durcheinander, zuweilen Chaos. Auf den kurzen Frühling der Charismatiker folgt daher stets der lange Herbst der pedantischen Organisatoren. Auf Willy Brandt etwa folgten daher Helmut Schmidt im Kanzleramt und Hans-Jochen Vogel in der Partei. Und das musste so sein. Denn zweifellos: der politische Manager des je Gegenwärtigen ist der Normaltypus, repräsentiert den Normalzustand repräsentativer, komplexer und nüchterner moderner Demokratien.


Aber in regelmäßigen Abständen leiden Demokratien doch an Inspirationsdefiziten, an Vakuen von Sinn und Zielen, an Alternativlosigkeit, Verkeilung und Verharzung. Dann helfen keine Pragmatiker und Administratoren. Dann helfen nur die im Alltag ungenauen politischen Männer oder Frauen mit dem Mut, der Magie und dem Missionsschwung zur Zukunft. Allein sie können den elementaren, vielleicht sogar genuinen Kern des Politischen freilegen; jenen Drang, jenseits von institutionellen Zwängen, strukturellen Verpflichtungen, bürokratischen Einhegungen eigene und ganz unorthodoxe, zuweilen gar gefährliche Wege zu gehen. Nochmals: Zu viel von diesem Drang können komplexe Demokratien nicht vertragen. Doch haben sie davon zu wenig, was gerade in ergrauenden Gesellschaften natürlicherweise der Fall ist, fehlt ihnen also der charismatische Weitblick und die charismatische Kühnheit - dann werden sie starr, veränderungsunfähig, immobil.

Die SPD vor ihrem Generationenloch

Indes: Im deutschen Parteiensystem ist niemand mit einem solchen charismatischen Potential zu erkennen. Aber gerade das mag das charismatische Bedürfnis demnächst noch weiter erhöhen. So war es im Übrigen schon häufig in der Geschichte: Die Charismatiker kamen immer dann, wenn keiner mit ihren rechnete, wenn niemand sie zuvor erkannte. Ausschließen also kann man nicht - so wenig dafür gegenwärtig gewiss auch sprechen mag -, dass irgendwo bei den Jüngeren in der SPD, die in ihrer politischen Pausbäckigkeit und frühen (mitunter wirklich befremdenden) Saturiertheit so ganz und gar uncharismatisch wirken, der Prophet einer neuen Sinnperspektive, das Kampf- und Trüffelschwein für neue Ideen, der kraftvoll aufrüttelnde Volksredner lauern mag. Eigentlich erwarten die meisten professionellen Beobachter im riesigen Generationenloch der SPD nach Schröder zwar nur das hoffnungslose Mittelmaß, die uninspirierte Leidenschaftslosigkeit und demzufolge eine lange und tiefe Depressionszeit der Partei. Doch eben das ist die Grundkonstellation für den Erfolg des Außenseiters, der unter normalen, krisenfreien Umständen in einer intakten, durchrationalisierten, funktionsfähigen Partei ohne jede Chance wäre, vielleicht verborgene charismatische Talente zu entfalten.


Warten wir es also ab. Indes, die Lösung des sozialdemokratischen Problems wäre auch der einsame Charismatiker nicht. Natürlich nicht. Denn schließlich stößt der Charismatiker in der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie allzu schnell und brutal an Grenzen. Gerade die Bundesrepublik Deutschland ist schon institutionell kein gutes Land für charismatische Politikertypen. Und so bündelte die Sozialdemokratie in ihren besten Jahren - als bezeichnenderweise nicht nur einer allein ganz vorne stand, sondern mindestes eine Troika - immer gleich mehrere Talente, Begabungen, Lebensgeschichten an ihrer Spitze: zum einen eben den Charismatiker, der seiner Partei Identität und Ziel gab, zum zweiten den straffen und harten Administrator, der die Schlagkraft und Präsenz der Organisation sicherte und zum dritten, dabei keineswegs zuletzt, den verhandlungsversierten Kooperationspolitiker, der der SPD in der deutschen Koalitions- und Kooperationsdemokratie durch das geschickte Management des Kompromisses die Regierungsfähigkeit ermöglichte oder erhielt. Auf diese drei Führungsqualitäten kommt es an. Diese drei Führungsprofile muss die SPD nach Schröder noch finden - irgendwo wohl zwischen Potsdam und Hannover, Leipzig und Saarbrücken.

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