Die Strategie der Einbürgerung

Warum Menschen volle Staatsbürgerrechte in demjenigen Land genießen sollten, in dem sie ihr Leben leben und dessen Gesetzen sie unterworfen sind

In Kalifornien und in der Schweiz haben etwa 20 Prozent der erwachsenen, dauerhaft ansässigen Bevölkerung kein Wahlrecht, in Deutschland sind es immerhin 8 bis 9 Prozent. Abgesehen von Minderjährigen stellen so genannte „resident aliens“ – „Ausländer mit festem Wohnsitz“ beziehungsweise „Wohnbürger ohne Staatsbürgerschaft“ – in liberalen Rechtsstaaten die größte Gruppe der vom politischen Prozess Ausgeschlossenen dar. Das betrifft vor allem das Wahlrecht, vielfach aber auch weitere politische Grundrechte. In welcher Hinsicht ergibt sich daraus ein demokratietheoretisches Problem?

Zuerst muss an die fundamentale Ambiguität von Staatsbürgerschaft erinnert werden. Staatsbürgerschaft ist nämlich ein wesentlich „geteilter Begriff“ (Linda Bosniak). Zum einen ist er durch eine interne Inklusivität gekennzeichnet: Allen Bürgern werden der gleiche Status und die gleichen Rechte zugesprochen. Zum anderen umfasst er eine externe Exklusivität, nämlich den Ausschluss aller Nicht-Staatsbürger von diesem Status und diesen Rechten. Das mag ein gerechtigkeitstheoretisches Problem darstellen im Hinblick auf Ausländer, die auf dem staatlichen Territorium nicht ansässig sind. Schließlich sind die massiven distributiven Implikationen der Zuteilung von Staatsbürgerschaft aufgrund von zufälligen und moralisch eigentlich irrelevanten Faktoren wie Geburtsort und Abstammung eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung der sowieso schon Privilegierten. Ein
demokratietheoretisches Problem ergibt sich aber erst aus einem anderen Aspekt dieser ausschließenden Seite von Staatsbürgerschaft, nämlich aus der „internen Exklusion“ dauerhaft ansässiger Nicht-Staatsbürger.

Die Frage lautet, ob die Präsenz dieser Gruppe in einem Staat dessen demokratische Legitimität infrage stellt. Die Antwort hängt davon ab, wie man die Idee der demokratischen Legitimität versteht. Nun bedeutet Demokratie bekanntlich Herrschaft des Volkes. Der Begriff verweist damit auf die politische Selbstbestimmung des demos, also der politischen Gemeinschaft der Bürger. Dementsprechend wird Demokratie meistens primär als eine Frage demokratischer Prozeduren verstanden, also der institutionellen Verwirklichung von Ideen der politischen Selbstbestimmung in konkreten Verfahren: Wie wird entschieden? Aber darin geht die Idee der Demokratie nicht auf. Ebenso wichtig ist die Frage des Zugangs zu diesen Prozeduren, also der Zusammensetzung der Gruppe, die zur Partizipation berechtigt ist: Wer entscheidet?

Vollbürger, Protobürger und Quasibürger

Für den Fall eines bereits etablierten Systems von territorial begrenzten politischen Einheiten, wie es faktisch existiert, lässt sich argumentieren, dass dem Prinzip der Demokratie gemäß alle diejenigen, die der Autorität des Staates dauerhaft und umfassend (also in wesentlichen Lebensbereichen) unterworfen sind, ein Recht auf Partizipation haben – der Slogan „no taxation without representation“ drückt diese Grundidee dieses all subjected principle gut aus. Daraus folgt, dass der demos eben nicht das Recht hat, seine eigene Zusammensetzung zu bestimmen, wie das bei einem Verein der Fall sein mag. Aus diesem Grund kann die Zusammensetzung des demos (eventuell im Unterschied zur Regulierung des Zugangs zum Territorium) nicht selbst wieder Gegenstand demokratischer Entscheidung sein. Auch im Fall des Frauenwahlrechts hatte der demos in seiner bisherigen – rein männlichen – Zusammensetzung ja nicht das Recht, selbst zu entscheiden und Frauen das Wahlrecht einfach weiterhin vorzuenthalten.

Nicht alle, die „subjected“ sind, sind auch Bürger – wie soll auf dieses demokratietheoretische Problem der Unterinklusivität reagiert werden? Es bieten sich zwei Möglichkeiten an, die als Strategie der Disaggregation und als Strategie der Einbürgerung bezeichnet werden können. Die Strategie der Disaggregation beziehungsweise des Enfranchising, also der Verleihung des Wahlrechts unabhängig von der Staats-bürgerschaft, zielt auf die Entkopplung von Rechten und der Staatsbürgerschaft als Status. Das Grundproblem dieser Strategie ist eine Art Re-Feudalisierung des Bürgerstatus durch die Einführung einer Unterscheidung von Bürgern erster und zweiter Klasse. Dieser Status kann in der Praxis sehr schnell relevant werden, wenn man nur an den Schutz vor Ausweisung und das Recht auf diplomatischen Beistand denkt („Bremer Taliban“).

Zudem werden die im Kontext der Disaggregation gewährten Rechte häufig nicht gleich gewährt, so dass diese Strategie in der Praxis oft zu einem System stratifizierter, konzedierter und reversibler (und zunehmend auch restringierter) Rechte führt. Dass es eine privilegierte Gruppe von Vollbürgern gibt und daneben oder darunter eine von Proto- oder Quasi-Bürgern, ist mit der Idee der Demokratie als Selbstbestimmung der Gleichen und Freien unvereinbar.

Die mit dieser Strategie einhergehende citizenship light und die Etablierung verschiedener Klassen von Rechtsadressaten, von denen nur manche Vollbürger sind, bedeutet in mindestens zweifacher Hinsicht einen nicht akzeptablen Rückfall hinter den
erkämpften Stand der Rechtsentwicklung. Nehmen wir an, politische Rechte würden ohne die übrigen mit der Staatsbürgerschaft einhergehenden Rechte und Sicherheiten verliehen: Wird jemand seine politischen Rechte wirklich im vollen Umfang nutzen oder nutzen können, der nicht sicher sein kann, ob er nicht doch wieder herausgeworfen wird, wenn er missliebige politische Positionen vertritt, weil das unbedingte Bleiberecht ein Privileg der Staatsbürger ist? Auch wenn in die politische Freiheit der Betroffenen faktisch gar nicht eingegriffen wird, ist ihre Freiheit doch schon aufgrund ihres Status (und der damit eventuell einhergehenden Formen der Selbstbeschränkung) kompromittiert.

Ähnlich könnte man gegen die Entkopplung von politischen und sozialen Rechten einwenden, es sei eine Errungenschaft, die nicht so einfach aufs Spiel gesetzt werden sollte, dass die Ausübung politischer Rechte (auch des Wahlrechts) Voraussetzungen hat, die durch andere Arten von Rechten (etwa durch soziale und ökonomische Rechte) garantiert werden müssen, sollen die Rechtsträger wirklich dazu in der Lage sein, ihre Rechte effektiv zu nutzen und damit den fairen Wert der formal gleichen Rechte zu realisieren. Die in der Staatsbürgerschaft miteinander verkoppelten Rechte lassen sich nicht einfach disaggregieren, sondern stehen in einem internen Zusammenhang.

Auf die Unterworfenheit kommt es an

Die Alternative zur Strategie der Disaggregation besteht in der Strategie der Einbürgerung, also in der Öffnung des Staatsbürgerstatus im Einklang mit dem all subjected principle. Diese zweite Strategie zielt auf die Erleichterung der Einbürgerung beziehungsweise Naturalisierung, also auf die Erweiterung des (weiterhin als Gesamtheit der (Staats-)Bürger bestimmten) demos. Sie ist politisch progressiv, weil sie Staatsbürgerschaft als rein politischen und nach normativ relevanten Kriterien zuzuschreibenden Status versteht und so zu dessen De-Ethnisierung und De-Naturalisierung beiträgt. In diesem Kontext stehen das von Rainer Bauböck vorgeschlagene Modell der stakeholder citizenship und das von Ayelet Shachar vorgeschlagene ius nexi. Letzterem zufolge begründet die (normativ relevante) soziale Tatsache faktischer Mitgliedschaft, die Ausdruck von „choice and consent“ ist, den Anspruch auf Staatsbürgerschaft, nicht zufällige (und moralisch irrelevante) Tatsachen der Geburt (wie Geburtsort und Abstammung).

Diese beiden Modelle werfen jedoch die Frage der Voraussetzungen beziehungsweise Bedingungen auf: Wann liegen die faktische Mitgliedschaft und ein permanentes Interesse vor, das den Anspruch auf Einbürgerung zu begründen vermag? Ist die Aufenthaltsdauer dafür ein guter (oder vielleicht der einzige) Indikator? Wie steht es um Integration(swilligkeit), Sprachfähigkeiten, kulturelle Kompetenzen? Aus der Perspektive des all subjected principle sind dies alles normativ gesehen nicht haltbare oder zumindest problematische Bedingungen: Worauf es ankommt, ist allein, ob das Kriterium der dauerhaften und umfassenden Unterworfenheit erfüllt ist.

Daraus folgt nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dass alle, die diese Bedingung erfüllen, den gleichen Anspruch auf den gleichen politischen Status haben. Solange politischer Status primär über Staatsbürgerschaft organisiert wird, heißt das: Es besteht ein gleicher Anspruch auf eben diesen Status und die damit einhergehenden Rechte, für den die ursprüngliche Nationalität und ähnliche Faktoren irrelevant sind. Diese Begründung von Ansprüchen auf Partizipationsrechte über das all subjected principle hat zudem den Vorteil, sich nicht auf eine Graduierung politischer Rechte je nach „stake“ oder „nexus“ einlassen zu müssen.

Die Strategie der Einbürgerung scheint sehr viel besser geeignet, der Grundidee der demokratischen Inklusion Rechnung zu tragen. Worauf es ankommt, ist nicht so sehr, dass man den Status und die Rechte, die mit Staatsbürgerschaft verbunden sind, in irgendeinem Land besitzt (etwa in dem Land, in dem man geboren wurde), sondern dass man sie in dem Land hat, in dem man sein Leben lebt und dessen Gesetzen man unterworfen ist. Gleiche Bürgerschaft ist eben kein von staatlicher Seite verliehenes Privileg, sondern ein grundlegender Anspruch. «

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