Die Renaissance der Gerechtigkeit

Nur wo es gerecht zugeht, können die Menschen aufrecht gehen. Aber wie lässt sich das organisieren? Die Suche nach Chancengerechtigkeit für die vielen Einzelnen mit ihren ganz verschiedenen Begabungen ist auch eine Frage des Menschenbildes, meint JÜRGEN RÜTTGERS

Am Anfang eines neuen Jahrhunderts, ein gutes Jahrzehnt nach dem Untergang des Sozialismus und mitten im Zeitalter der Globalisierung stellt sich plötzlich eine alte Frage neu: Was ist Gerechtigkeit? Das "Volk von Seattle" demonstriert gegen die großen Acht in Genua - weil der Kapitalismus im globalen Stil Arbeitsplätze, Umwelt und die Dritte Welt vernichte. Die sozialdemokratische Bundesregierung unter Gerhard Schröder muss sich des Vorwurfs erwehren, ihre Politik der Neuen Mitte sei ungerecht - vor allem gegenüber den jungen Menschen und den Familien. Und die CDU hat noch nicht geklärt, ob sie die letzte Bundestagswahl wegen eines Reformstaus oder einer Gerechtigkeitslücke verloren hat - was sie bei der Erarbeitung neuer Projekte behindert. Kurzum: Ein altes Thema erlebt unerwartet eine Renaissance.

Der Markt allein wird es schon richten?

Dabei schien doch alles klar. Die Menschen in Mittel- und Osteuropa hatten den Sozialismus doch 1989/90 zu Grabe getragen. Der Kapitalismus hatte sich als das erfolgreichere Konzept erwiesen. Das Projekt "Zivilgesellschaft" und die postmoderne Politik der Neuen Mitte sollten die SPD neu verorten und die CDU aus der Mitte vertreiben. Doch jeder hätte wissen können, dass die Frage nach der Gerechtigkeit nicht einfach von der Weltbühne verschwindet, auf die Philosophen und Politiker seit mehr als 2000 Jahren eine Antwort suchen. Zwar hat die soziale Marktwirtschaft die alte soziale Frage der Industriegesellschaft - zumindest in Europa - weitgehend beantwortet. Aber spätestens, seit die Globalisierung angeblich neue Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen erfordert, ist klar, dass sich die Frage nach der Gerechtigkeit neu stellt.

Linke hatten die Frage immer schon diskutiert. Aber auch die Neue Mitte stellt nach dem Ende der Wachstumseuphorien am Neuen Markt die Frage nach der sozialen Sicherheit neu. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Clement hat dies anlässlich eines Grundwertekongresses so zugespitzt: "Wir stehen hier programmatisch an einem Punkt, der vielleicht einmal tatsächlich mit Godesberg verglichen werden könnte." Und er schlägt als Lösung vor, Gerechtigkeit nicht mehr wie früher vor allem als mehr Verteilungs- und Ergebnisgleichheit zu verstehen. Nach mehr als 100 Jahren nimmt die SPD also Abschied von ihrem Ziel, durch Politik mehr Gleichheit zu schaffen.

Weil die Erwirtschaftung des Wohlstands vor seiner Verteilung komme, heiße Gerechtigkeit im neuen Sinne "in erster Linie Gleichheit der Chancen, aber nicht Gleichheit der Ergebnisse, die die Einzelnen erzielen, wenn sie ihre Chancen nutzen". In Zukunft geht es nach dieser Sicht nicht mehr um die Gleichheit am Ende, sondern am Anfang. Und wenn der Mensch aus den Chancen nichts macht, ist er leider selber schuld. Nun mag diese neue Erkenntnis für Sozialdemokraten ein Godesberg sein. Für Christdemokraten war schon immer klar, dass der Staat nie Gleichheit unter Menschen schaffen kann. Aber richtiger ist die neue These von der Gleichheit am Anfang auch nicht.

Zur conditio humana gehört, dass Menschen unterschiedlich sind. Und deshalb werden Menschen auch immer unterschiedliche Startchancen haben. Behinderte und Nichtbehinderte, Menschen, die auf dem Land oder in der Großstadt geboren sind, Kinder, die in bürgerlichen oder in Arbeiter-Haushalten aufwachsen, Migranten und Einheimische - jeder hat seine ganz persönlichen Startbedingungen, und keine Politik der Welt wird das ändern. Aber heißt das, wie die Neoliberalen meinen, alle Bemühungen für mehr Gerechtigkeit seien vergeblich? Der Markt allein werde es schon richten? Jeder politische Eingriff führe zu einem Verlust an Effizienz und zu verfälschten Ergebnissen? Nein. Wenn Politik sich nicht selbst aufgeben will, muss ihr Ziel die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit sein. Politik muss dafür sorgen, dass es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht.

Gerechtigkeit bewirkt nämlich etwas ganz Einfaches und doch Fundamentales. Sie bewirkt, dass Menschen aufrecht gehen können. Wer sich gerecht behandelt weiß, hat ein hohes Selbstwertgefühl. Er muss nicht gekrümmt durchs Leben gehen. Gerechtigkeit erst ermöglicht, dass der Einzelne sich mit seinen Möglichkeiten optimal zu entfalten vermag und dass der Einzelne seine Pflichten dem Gemeinwohl gegenüber wahrnimmt. Insofern ist Gerechtigkeit keine individuelle Veranstaltung, sondern der Kitt unserer Gesellschaft. Wenn es die Aufgabe von Politik ist, gerade in Zeiten der Individualisierung und Pluralisierung, dafür zu sorgen, dass unsere Gesellschaft zusammenhält, dann ist Gerechtigkeit unentbehrlich.

Ist der Mensch mehr als ein Rad im System?

Gerechtigkeit umschließt alles, was die weitere Existenz des Menschen ausmacht, den ganzen Menschen und alle Menschen. Wichtig für eine Gesellschaft sind nicht nur die Schnellen, die Intelligenten, die Starken, die Gesunden, die Reichen und die Schönen. Jeder und jede ist wichtig. Das heißt Gerechtigkeit. Genau deshalb reicht es nicht, wenn der Staat den Menschen einmal gleiche Chancen am Anfang zur Verfügung stellt und sie im Übrigen sich selbst überlässt. Deshalb ist es auch falsch, die Realität der Weltwirtschaft zum Maßstab für Gerechtigkeit zu erklären. Wer den Wert des Menschen ökonomisch definiert, gleich ob am Anfang oder am Ende, gleich ob vom Ergebnis oder von den Chancen her, wird ihm nicht gerecht.

Gerechtigkeit, auch soziale Gerechtigkeit, leitet sich nicht vom Wirtschaftssystem ab, sondern vom Menschenbild, das dahinter steht. Die Wirtschaft ist ein wichtiger und entscheidender Motor in der Menschheitsgeschichte, aber nicht der einzige. Natürlich entwickelt auch der Markt eine Gerechtigkeit. Aber es ist eine Gerechtigkeit der Starken - oder zumindest eine Gerechtigkeit der Gleichen. Gerechtigkeit aber muss auch die Schwachen umfassen, sonst missrät sie. Geholfen wird dann demjenigen, der am lautesten schreit und sich am besten vordrängeln kann.

Gerechtigkeit, auch die soziale, leitet sich nicht aus Wirtschaftssystemen ab, sondern aus dem Menschenbild: Ist der Mensch ein Rad im Wirtschaftssystem oder eben Geschöpf Gottes? Die christlich-demokratische Partei muss eine Gerechtigkeit, die Vielfalt gestaltet und Entfaltung ermöglicht, nicht neu erfinden, sondern zeitlos gültige und erfolgreiche Entdeckungen entstauben. Die soziale Marktwirtschaft ist das erfolgreichste Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in der deutschen Geschichte. Im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft braucht Deutschland keine neue Wirtschaftstheorie, sondern eine Rückbesinnung auf die ordnungspolitischen Grundlagen der Politik von Ludwig Erhard. Die soziale Marktwirtschaft muss nicht neu erfunden werden, sondern nur von der Patina der wechselnden Geistesströmungen der vergangenen fünfzig Jahre gereinigt werden.

Das Soziale darf nicht bloß Beiwerk sein

Aus verschiedenen Gründen ist die soziale Marktwirtschaft heute unter Druck geraten: Zum einen liegen die Zuständigkeiten für das Wirtschaftliche und das Soziale nicht mehr in denselben Händen. Das eine folgt heute den Marktgesetzen, das andere wird national oder europäisch geregelt. Zum anderen werden die Sozialkosten auf den Märkten für Güter und Dienstleistungen unmittelbar preiswirksam. Die gesellschaftlichen Umstände haben sich seit dem Zeitpunkt der Einführung sozialer Marktwirtschaft tiefgreifend geändert. Wer jedoch daraus den Schluss zieht, der Sozialstaat müsse aufgelöst und das Soziale müssen den Marktgesetzen unterworfen werden, entzieht der sozialen Marktwirtschaft die Grundlage. In der sozialen Marktwirtschaft ist das Soziale nicht Beiwerk des Marktkapitalismus, sondern integraler Bestandteil der Marktwirtschaft. Deshalb dürfen die notwendigen Wandlungsprozesse - vor allem Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung der Märkte - nicht zu einem Kampf gegen den Sozialstaat missbraucht werden.

Die Politik muss wieder lernen, zwischen Markt und Wettbewerb zu unterscheiden. Wettbewerb als Organisationsmodell ist in der Regel erfolgreicher als andere Steuerungsmodelle. Aber nicht alles kann dem Wettbewerb unterworfen werden, schon gar nicht den Mechanismen des Marktes. So kann etwa vieles im Bildungssystem, bei der Kultur, im Sozialen den Regeln des Wettbewerbs unterliegen. Es darf dennoch nicht dem Markt überantwortet, also nur nach Angebot und Nachfrage organisiert und damit ökonomisiert werden. Marktwirtschaftliche Orientierung bedeutet nicht, einer Geldkultur das Wort zu reden.

Wahr ist, dass der Staat als letzte Entscheidungsinstanz der Wirtschaft ausgedient hat. Aber der Staat setzt weiter Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, auch im Zeitalter der Globalisierung. Der Markt beruht auf Verträgen, Regeln und Ent-scheidungen - kurz: auf Selbstbeschränkung. Doch ein System, das Profit und das Streben nach dem eigenen Nutzen zu seinem Leitstern macht, kann die Sehnsucht der Menschen nach Glauben und höheren Werten jenseits des bloß Materiellen nicht befriedigen. Im Mittelpunkt jeder gerechten Politik muss deshalb der Mensch stehen, so wie er ist in seiner Einzigartigkeit und damit Verschiedenheit, der Mensch mit seinen unterschiedlichen Begabungen, Talenten und Erfahrungen.

Das Soziale kann im Staat nicht aufgehen

Wenn sich aber der Mittelpunkt einer gerechten Politik durch Vielfalt auszeichnet, kann auch die Politik nicht einfältig sein. Gerechte Politik darf deshalb nicht den Versuch machen, jedem das Gleiche zu versprechen, weder am Ende noch am Anfang, sondern jedem ein Eigenes. Maßstab einer gerechten Politik ist deshalb Chancengerechtigkeit statt Chancengleichheit. Wer in diesem Sinne Gerechtigkeit als Eröffnung von Vielfalt und Möglichkeiten versteht, kann den Inhalt nicht ein für allemal definieren und auf Parteitagen abschließend zum Beschluss erheben.

Chancengerechtigkeit hat dann auch einen zutiefst sozialen Charakter, weil sie die Menschen aufeinander verweist. Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist eben nicht nur eine staatliche Aufgabe. Wenn Gerechtigkeit das Attribut "sozial" trägt, dann darf sie erst recht nicht von der Gesellschaft abgelöst und allein dem Staat anvertraut werden. Das führt sonst in deutscher Gründlichkeit zu unendlich vielen Regeln. Unübersehbar viele kleine soziale Gerechtigkeitsregeln produzieren im Ergebnis Ungerechtigkeit.

Politische Gerechtigkeit ist erst der Anfang

Gerechtigkeit ist also auch Aufgabe gesellschaftlicher Institutionen und vor allem jedes einzelnen Menschen. Otfried Höffe hat Recht: "Ohne politische Gerechtigkeit lässt sich kein guter Staat machen. Mit ihr alleine aber auch nicht. Personale Gerechtigkeit muss hinzukommen, ebenso wie die Freundschaft in ihren mannigfaltigen Varianten." Gerechtigkeit in diesem Sinne lässt sich deshalb nur begrenzt wirklich delegieren oder administrieren. Man kann sie nicht verstaatlichen. Sie gehört mitten hinein ins Leben des Einzelnen. Sie gehört mitten in das Leben der Gesellschaft. Schon gar nicht Gerechtigkeit lässt sich auf einen geschäftsmäßigen Verwaltungsakt reduzieren. Gerechtigkeit wird so auf eine rein technische Frage reduziert und würde den Einzelnen von der Pflicht entbinden, sich selbst zu engagieren und selbst alles zu tun, damit Gerechtigkeit herrscht. Damit anderen Vielfalt und Möglichkeiten eröffnet werden. Damit andere aufrecht gehen können. Damit Chancengerechtigkeit und so Menschlichkeit Bestand haben. Das ist Solidarität.

Die Politik schafft Rahmenbedingungen oder Strukturen, damit es sozial und gerecht und menschlich zugehen kann. Sie schafft also "nur" strukturelle Gerechtigkeit, die dazu führt, dass jeder gerecht behandelt wird. Und gerecht ist bei jedem etwas anderes. Deshalb verwirklicht sich strukturelle Gerechtigkeit in unterschiedlichen Formen:

Gerecht ist es, wenn alle die gleichen Menschen- und Bürgerrechte haben. Hier geht es nicht um die gerechte Zuteilung von Menschen- und Bürgerrechten, sondern um die gleichen. Nun ist sicher, dass unser Grundgesetz in historischer Perspektive die beste Verfassung ist, die es in Deutschland je gegeben hat. Aber gleiche Rechte für alle gibt es bei uns wohl eher in einem formalen Sinn, was nicht wenig ist. Aber bekommt beim Zustand unserer Justiz wirklich jeder sein gleiches Recht oder hängt das teilweise nicht doch davon ab, ob man sich einen guten Anwalt leisten kann?

Mehr gleiche Rechte lassen sich durch den Ausbau bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, also von mehr plebiszitären Elementen in unserer Ver-fassung schaffen. Und in einem ganz anderen Sinne: Die Debatte über den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens hat etwas mit der Zuerkennung gleicher Rechte zu tun, weil diese in einem gerechten Staat unabhängig vom Grad individueller Fähigkeiten oder Entwicklungsstadien zuerkannt werden müssen, also nicht unterschiedlich für Ungeborene, Geborene und Sterbende sein dürfen.

Kinder dürfen kein Grund für Armut sein

Es ist ungerecht, wenn es Menschen bei uns gibt, die in Armut leben müssen. Der Staat kann zwar niemandem ein glückliches Leben garantieren. Aber er muss sicherstellen, dass niemand in materieller Not leben muss. Eine soziale Grundsicherung für jeden, der in Not gerät, ist daher notwendig und gerecht. Deshalb ist es falsch, im Zusammenhang mit dem Lohnabstandsgebot die pauschale Senkung der Sozialhilfe zu fordern. Natürlich ist es ungerecht der Allgemeinheit gegenüber, wenn sich jemand in der sozialen Hängematte einrichtet. Hier bringt Chancengerechtigkeit die Verantwortung mit sich, dass man solche Menschen nicht allein mit Geld versorgt, sondern sie darin unterstützt, die eigene Initiative zu ergreifen. Wer aber etwa als alleinerziehende Mutter Sozialhilfe bezieht, bekommt nicht zu viel, sondern wird ungerecht behandelt. Kinder dürfen nicht der Grund für Armut sein.

Ohne Arbeit kein aufrechter Gang

Bildung ist die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Wer heute ohne Ausbildung bleibt, ist morgen arbeitslos. Das Bildungssystem in Deutschland ist in einem schlechten Zustand. Wir müssen unsere Schulsysteme neu überdenken, um den Begabungen der einzelnen Kinder und Jugendlichen wirklich gerecht zu werden. Wir brauchen ein Schulsystem, das den praktischen und auch künstlerischen Begabungen junger Menschen mehr Rechnung trägt als bisher. Es geht nicht allein um die Frage nach dem Grad der Begabung, sondern um die Art und Richtung der Begabung. Zur Zeit bekommen wir die Spätfolgen einer verfehlten Schulpolitik der Gleichmacherei zu spüren, die Chancengerechtigkeit mit Gleichheit im Ergebnis verwechselt hat und ignorierte, dass Menschen in der Tat unterschiedliche Begabungen haben.

Auf dem Arbeitsmarkt werden für die meisten Bürger Einkommen, Status und Prestige verteilt. Hier entscheidet sich ihre tatsächliche Zugehörigkeit zur Gesellschaft. In diesem Sinne ist Arbeitslosigkeit nicht primär ein ökonomisches Problem, das allein durch großzügige Transferzahlungen zu lösen wäre. Vor allem Langzeitarbeitslosigkeit führt zu einer Verletzung des Selbstwertgefühls und zu nicht mehr auszugleichenden Nachteilen bei der Wahrnehmung von Lebenschancen - eine Blockade in den Entfaltungsmöglichkeiten.

Die Nachfrage nach gering qualifizierten Personen auf dem Arbeitsmarkt sinkt kontinuierlich. Sind sie zusätzlich noch in fortgeschrittenem Alter, haben sie kaum Möglichkeiten, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dazu haben auch die Rahmenbedingungen unseres Sozialstaates beigetragen: Hohe soziale Grundsicherung einerseits und hohe Belastung der Arbeitsaufnahme mit Steuern andererseits. Im Zweifelsfall bekommt ein verheirateter Sozialhilfeempfänger mit drei Kindern mehr Geld als ein vergleichbarer fest angestellter Arbeiter. Unter diesen Bedingungen wird die Aufnahme von Erwerbsarbeit geradezu behindert - das ist unfair und ungerecht. Wichtig ist deshalb, die Entwicklung neuer Beschäftigungsformen zu fördern und Erwerbsbiographien zu ermöglichen, die gesellschaftlich und individuell befriedigen - mit anderen Worten, dem Einzelnen das Selbstwertgefühl zurückzugeben und damit den "aufrechten Gang" zu ermöglichen. Das ist Chancengerechtigkeit.

Der Faktor Arbeit muss entlastet werden

Der passive Sozialversicherungsstaat des 19. und 20. Jahrhunderts muss zu einem aktivierenden Sozialinvestitionsstaat des 21. Jahrhunderts umgebaut werden. Es sollte uns sehr nachdenklich stimmen, dass Deutschland bei den sozialkonsumtiven Ausgaben führend ist, bei den sozialinvestiven Ausgaben aber innerhalb der OECD-Länder einen der hinteren Plätze belegt. Das bedeutet für die christlich-demokratische Partei: Es geht nicht nur um Verteilungs-, sondern auch um Leistungsgerechtigkeit. Der Faktor Arbeit muss noch weiter von Steuern und Abgaben entlastet werden. Steuern und Abgaben dürfen weder die private Initiative noch die Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmern lähmen. Deshalb brauchen wir eine stärkere Umschichtung zugunsten der Bildung. Auf der anderen Seite soll mit der Aktivierung des Sozialstaats eine Verschärfung der Pflichten verbunden sein, die Anreize zur Wiederaufnahme der Arbeit bieten.

Die meisten dieser Überlegungen sind zunächst auf eine Realisierung im bundesdeutschen Horizont ausgerichtet. Immer wieder stellt sich aber auch die Frage, wie sich strukturelle Gerechtigkeit weltweit verwirklichen lassen kann. Das Wort der Globalisierung scheint dann schon eher mit struktureller Ungerechtigkeit identisch zu sein als etwas mit Gerechtigkeit zu tun zu haben. Doch wer so denkt, der hat schon kapituliert. Kein Zweifel, die weltweite Verflechtung wirtschaftlicher Abläufe bedeutet eine unerhörte Herausforderung, auch für unsere soziale Marktwirtschaft. Doch in einem geeinten Europa wird es leichter fallen, strukturelle Gerechtigkeit in einem größeren Rahmen Wirklichkeit werden zu lassen. Das wäre ein erster wichtiger Schritt. Die Politik wird hier viele kleine Schritte machen müssen.

Den Menschen so sehen, wie er ist

Wahre Gerechtigkeit ist nicht Gleichheit am Ziel, auch nicht Gleichheit am Start. Wahre Gerechtigkeit akzeptiert und berücksichtigt Ungleichheiten. Sie sorgt aber dafür, dass Menschen sich in all ihrer Verschiedenheit entfalten können. Dann kann eine tragfähige Gesellschaft entstehen, die einerseits die Schwachen auffängt und andererseits das Gemeinwohl sichert. Gerecht geht es dann zu, wenn sich die Ungleichen gegenseitig mit Respekt behandeln - wenn sie jedem das Recht des aufrechten Ganges zugestehen. Das heißt beispielsweise, dass die so genannten Gewinner in den negativen sozialen Folgen der Ungleichheit eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität sehen und sich aus diesem Grund um das Gemeinwohl kümmern. Wir müssen Unterschiede zulassen, um dem einzelnen Menschen gerecht zu werden. Wichtig dabei ist, dass wir den Menschen so sehen, wie er ist - mit seinen Ecken und Kanten, mit seinen Begabungen und Stärken. Wichtig ist, ihm mit Respekt und Achtung begegnen. "Man muss die Menschen eben nehmen wie sie sind", sagte Adenauer, "es gibt keine anderen".

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