Die Renaissance der Gemeinwohlwerte



Wie wertvoll sind Unternehmen oder öffentliche Einrichtungen wirklich für die Gesellschaft? So lautet die Kernfrage der Debatte um die Verbindung eines gesellschaftlichen Grundauftrags mit legitimen wirtschaftlichen Interessen. Die Konsolidierungsphase der letzten Jahre mit ihrer starken Betonung von Mitteleinsparungen und Kostenreduktion trägt nun Früchte. Sie war notwendig und sollte fortgesetzt werden. Aber sie muss ergänzt werden um das Leitbild einer neuen gesellschaftlichen Wertschöpfung: um „Public Value“.

Laut einer Allensbach-Umfrage von Ende 2006 sind nur noch 24 Prozent der Deutschen überzeugt, dass die Bundesrepublik ein System der sozialen Marktwirtschaft besitzt. Knapp zwei Drittel haben den Eindruck, die soziale Ausrichtung des Landes sei aufgegeben worden. Des Weiteren glauben bloße 27 Prozent, eine starke Wirtschaft nütze der Bevölkerung. Und 72 Prozent befürchten, selbst bei prosperierenden Unternehmen seien die Arbeitsplätze nicht mehr sicher.

Wirtschaftliches Handeln hat immer auch eine soziale Dimension: Man kann gar nicht nicht gesellschaftlich handeln! Diese Binsenweisheit spielt auch in den aktuellen Debatten über die gesellschaftliche Verantwortung privater Unternehmen eine Rolle, sowie in den Diskussionen über Legitimation und Aufgaben des öffentlichen Sektors. Kaum eine Führungskraft muss sich heute nicht Fragen nach der gesellschaftlichen Wertschöpfung, aber auch -zerstörung stellen.

Gemeinwohlüberlegungen erscheinen dabei nur auf den ersten Blick abstrakt oder ideologisch eingefärbt. In Wirklichkeit bieten sie einen praktischen Handlungsrahmen und können erhitzte Debatten wieder versachlichen. Führungskräfte wissen, was es bedeutet, in unklaren Situationen eigenes Handeln begründen zu müssen. Gerade im Außenverhältnis zeigt sich: Wenn es nicht gelingt, die Leistung der eigenen Organisation für die Gesellschaft glaubwürdig zu verdeutlichen, manövrieren sich die Führungskräfte in die Defensive.

Gemeinwohldenken dient dabei für uns als Komplexitätsreduktion – also nicht als Rückzug auf eine diffuse Idee oder leere Vokabel, sondern als Kompass. Unabhängig von ideologischen Argumenten gilt: Je unübersichtlicher die Lage, desto attraktiver wird der gesellschaftliche Nutzen als Entscheidungskriterium für das eigene Handeln. Hingegen ist die Fixierung auf individuellen Nutzen – ohne Beachtung gesellschaftlicher Kriterien – keine realistische Option. Führungskräfte handeln eben immer gesellschaftlich, da jedes Handeln einer Organisation auf deren Umfeld ausstrahlt.

Beispielsweise kann es im Eigeninteresse von Unternehmen liegen, das eigene Ansehen durch gesellschaftliche Wertschöpfung zu steigern – „Verstöße“ werden entsprechend negativ sanktioniert. Doch diese Erklärung greift zu kurz, ebenso wie eine subtile Mittel-zum-Zweck-Betrachtung. Vielmehr stehen der individuelle und der gesellschaftliche Nutzen in gegenseitiger Abhängigkeit, so dass man zwischen beidem gar nicht wählen kann. Mehr noch: Der vermeintliche Gegensatz zwischen Eigen- und Gemeinwohlinteresse wird selbst zum Hindernis, will man die heutigen Herausforderungen begreifen. Deshalb muss neu bestimmt werden, was Gemeinwohlwerte überhaupt sind.

In den neunziger Jahren hat der Verwaltungswissenschaftler Mark Moore den Begriff „Public Value“ geprägt, zunächst für öffentliche Einrichtungen. Moore wirbt für unternehmerisch-kreatives Handeln in öffentlichen Institutionen vor dem Hintergrund eines übergeordneten Ziels – „Public Value“ eben. Dies bedeutet, die Frage nach einem gesellschaftlichen Nutzen zur Richtschnur eigenen Handelns zu machen.

Das Konzept betont die Rolle des Public Managers als einem unternehmerisch eigenständig denkenden Akteur, der im Sinne des Gemeinwohls und innerhalb des definierten gesetzlichen Rahmens aktiv gestaltet („public entrepreneurship“). Des Weiteren betont Moore das Ko-Produzentenverhältnis von Verwaltung und Bürgern, bei dem die Anbieter öffentlicher Leistungen eng mit ihren Kunden beziehungsweise Klienten zusammenarbeiten müssen, um deren Bedürfnisse möglichst gut befriedigen zu können.

Die Grundidee, das eigene Handeln wieder stärker am Kalkül des gesellschaftlichen Nutzens auszurichten, gilt jedoch für jede Organisation. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob dieser Nutzen inhaltlich präzise bestimmt werden kann. Diesen abzuschätzen ist auch nicht ohne Weiteres möglich, weil in der Regel nicht alle von den Auswirkungen einer Entscheidung Betroffenen bekannt und entsprechend nicht alle Neben- und Folgewirkungen abschätzbar sind.

Es ist paradox: Je weniger eine eindeutig „richtige“ Lösung für ein Problem vorliegt beziehungsweise je unsicherer eine Entwicklung erscheint, desto eher bietet es sich an, allgemeinere Leitlinien des Handelns zur Orientierung heranzuziehen. Mit anderen Worten ist in komplexen und komplizierten Situationen diffuse Unterstützung hilfreicher als konkrete. Dies lehren uns etwa auch die moderne Psychologie des Entscheidungsverhaltens und neuere Erkenntnisse zur Rolle von Intuition im menschlichen Handeln. Moderne Komplexitäts- und Chaostheorien erklären diesen Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und menschlichem Entscheidungsverhalten („Werten und Normen“) sehr anschaulich.

Die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen, dem Public Value, ist dann eben eine heuristisch wertvolle Orientierungshilfe, um mit der wahrgenommenen Komplexität umzugehen. Wir halten diesen Kompass für besonders attraktiv, weil er ohne ideologische Prämissen auskommt und sich besonders auch vor dem Hintergrund eines „gesunden Menschenverstandes“ bewährt.

So rät der Eid des Hippokrates den Ärzten, sich zunächst auf das zu besinnen, was vermutlich keinen Schaden anrichtet. Sicher kann man dieses primum non nocere („zuerst einmal nicht schaden“) enger oder weiter auslegen. Für den Umgang mit gesellschaftlicher Komplexität heißt dies, mit dem gesunden Menschenverstand die Wirksamkeit eigenen Handelns im Lichte eines diffus-abstrakten gesellschaftlichen Umfeldes zu prüfen. Denn was wären etwa „Nachhaltigkeit“ oder „Vernunft“, wenn nicht Orientierungspunkte für nur ungefähr Bestimmbares? Für jeden, der öffentliche Verantwortung übernimmt, gilt bei unklarer Entscheidungslage und fehlender Gesamtübersicht als Daumenregel: Handle stets so, dass Schaden abgewendet und gesellschaftlicher Nutzen erhöht wird.

Immer geht es um die soziale Verantwortung von Unternehmen

Jean-Jacques Rousseau hat einst formuliert, dass „unter dem Druck der Verhältnisse“ in einem „Akt der Gemeinschaftsbildung“ ein Gesellschaftsvertrag entsteht, ohne den ein Zusammenleben schwer vorstellbar ist. Eine solche Beachtung von Gemeinwohlaspekten gewinnt heute für Unternehmen wieder an Bedeutung, damit sie sich nicht über negative Rückwirkungen selbst schaden. Der Maßstab für gesellschaftliche Wertschöpfung ist der in den Augen einer demokratischen Öffentlichkeit gestiftete Public Value.

Zum Beispiel hat ein Auto nicht nur einen sachlich-inhaltlichen Gebrauchswert, sondern der Autohersteller beeinflusst mit seinen Produkten auch soziale Werte (das Auto als Symbol für Statuspositionen), moralisch-ethische Werte (zum Beispiel Förderung von Individualität versus Gemeinschaft), hedonistisch-ästhetische Werte (etwa Freude am Fahren). Nicht zuletzt wird ein finanziell-materieller Nutzen gestiftet.

Quer durch die einzelnen Sektoren der Gesellschaft rücken ganz unterschiedliche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt. Aber immer wieder geht es um die soziale Verantwortung von Unternehmen und um Fragen der gesellschaftlichen Wertschöpfung. Inwieweit dabei aus einer Managementperspektive eine Rückbesinnung auf den gesellschaftlichen Nutzen orientierungsstiftend und handlungsleitend sein kann, möchten wir im Folgenden aufzeigen.

Reduziert man den gesellschaftlichen Nutzen nicht auf ein rhetorisches Kampfmittel, lässt sich unter Umständen aus verfestigten Denkmustern ausbrechen. Uns geht es nicht um die Gegensätzlichkeit zwischen „privat“ und „öffentlich“, „Eigennutz“ und „öffentlichem Interesse“, sondern um jene Allianzen, bei denen Public Value entstehen kann. Eine solche unternehmerische Orientierung an Win-win-Konstellationen könnte dazu beitragen, die wichtige, aber oft moralinsaure Diskussion um „Corporate Social Responsibility“ aus der Defensive herauszuführen. Dabei geht es gar nicht um Zusatzaktivitäten eines Unternehmens, also um etwas, was auch noch getan wird, sondern um den gesellschaftlichen Wertbeitrag durch die Produkte und Dienstleistungen und den Marktauftritt selbst. Mit dem Kauf eines Quadratmeters Regenwald oder exzessivem Kultursponsoring als eine Art Ausgleichszahlung ist es nicht getan.

Wenn sich Unternehmen von einer defensiven Haltung nach dem Motto „sound ethics is good for business in the long run“ lösen, können verschiedene „Wert“-Dimensionen in strategische Überlegungen einbezogen werden – und zwar nicht nur zwecks Schadensbegrenzung und Risikomanagement, sondern um daraus auch ökonomischen Nutzen zu ziehen. Es geht uns um Corporate Social Opportunity und weniger um die Frage, ob sich Unternehmen neben ihrem eigentlichen Geschäft auch gesellschaftlich engagieren wie es – durchaus lobenswert – Levi Strauss mit Kampagnen gegen Rassismus oder McDonald’s mit dem Einsatz für nachhaltige Entwicklung vormachen.

Beispiel I: Toyota

Solche Aktionen wirken nicht nachhaltig, weil sie das Kerngeschäft der Unternehmen nicht verändern. Stattdessen vernichten sie möglicherweise sogar Shareholder Value. Genau dieses Kerngeschäft mit seinen umfassenden Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Wohlstand ist aber von Interesse: Wie werden durch die Produkte und das Auftreten der Unternehmen neben dem finanziellen Nutzen auch andere Werte geschaffen? Beeinflusst McDonald’s das Ernährungsverhalten und die Esskultur? Und auf welche Weise formt es das moralisch-ethische Bild des Kunden und der Mitarbeiter?

Beispielhaft für die Einbettung des Gemeinwohlgedankens in alle Geschäftsbereiche ist der Autohersteller Toyota. Gesellschaftliche Wertschöpfung ist dort ein in den Grundprinzipien verankertes Handlungsziel. Dazu trägt Toyota mit Fortschritten bei der klimaschonenden Hybridtechnik und mit Verkehrssicherheitstechnik nachhaltiger bei, als es eine Beteiligung an karitativen Aktionen außerhalb des eigenen Geschäfts vermag. So ist es kein Zufall, dass Toyota zugleich weltweiter Marktführer im Verkauf und in der Entwicklung von Sicherheits- und Umwelttechnologie ist. Mit den selbst gesteckten Gemeinwohlzielen weckt Toyota Erwartungen, die von der Gesellschaft überwacht und eingeklagt werden: Bei einem neuen Toyota-Modell, das besonders viel Sprit schluckt, schlug dem Konzern heftiger Protest von aufgebrachten Verbraucherschützern entgegen.

Wie vielfältig und komplex die einzelnen Wertdimensionen (finanziell, sachlich, sozial, moralisch-ethisch, hedonistisch-ästhetisch) sind, verdeutlicht ein weiteres Beispiel: Nur ein nach wirtschaftlichen Effizienzkriterien geführtes Unternehmen kann aufwendige Forschungs- und Entwicklungsprozesse für wichtige Medikamente erfolgreich bis zur Marktreife durchführen. Hier werden unternehmerische Kreativität und der ökonomische Imperativ zur notwendigen Triebkraft, um gesellschaftlichen Nutzen zu stiften. Eine kleine Gruppe engagierter Ärzte könnte dies vermutlich kaum ohne einen starken ökonomischen Antrieb leisten. Der Public-Value-Gedanke kommt dann ins Spiel, wenn man bedenkt, dass lange Entwicklungszeiten von Medikamenten immer auch eine Abschätzung des Wertewandels in der Gesellschaft erfordern, besonders der Offenheit gegenüber medizinischem Fortschritt. Gemeinwohlbelange werden zum strategischen Kompass.

Hingegen können Aktivitäten wie ein stärkerer Dialog mit Kunden oder der Bevölkerung, selbstverordnete codes of conduct für moralisch-ethisch vernünftiges und sozial verantwortliches Handeln oder ein umfassendes Berichtswesen schnell als Alibiübungen mit Reputationszweck oder gar als Abwehrmaßnahmen gegenüber Nicht-Regierungsorganisationen diskreditiert werden.

Es handelt sich beim Public Value-Denken gerade nicht allein um einen impliziten oder expliziten Vertrag mit gegenseitigen Rechten und Pflichten zwischen Wirtschaftsunternehmen und „Gesellschaft“ („social contract“), sondern um eine viel grundlegendere gegenseitige Abhängigkeit. Der Managementvordenker Peter Drucker hat diese „soziale Funktion“ des Managements eindrucksvoll herausgearbeitet. Sich innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewegen und über Steuerzahlungen der Gesellschaft die geschuldete Gegenleistung zu erbringen, ist demnach eine Verkürzung des komplexen Wechselspiels und der „Gesamtperformanz“. Diese Verkürzung bewirkt, dass der positive gesellschaftliche Beitrag vieler Unternehmen in Umfragen zu Unrecht unterbewertet wird.

Unser Vorschlag zielt nicht auf eine vermeintlich normativ überlegene Lösung. Wir werben allein dafür, dass sich Führungskräfte auch in komplexen privatwirtschaftlichen Entscheidungssituationen wieder stärker der diffus-abstrakten Idee eines gesellschaftlichen Nutzens bedienen sollten. Dieses Vorgehen kann durchaus im Eigeninteresse liegen (zum Beispiel um Schaden zu vermeiden), im besten Fall aber verbindet es sich produktiv mit ökonomischen Nutzenkalkülen. Denn die allererste Verantwortung eines Unternehmens besteht darin, Profitabilität zu erzielen. Profitabilität ist als Signal der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Unternehmen seine Sache gut macht. Das heute gängige Prinzip „Doing well by doing good“ ist vom Kopf auf die Füße zu stellen: „Doing good by doing well“. Anders gesagt: Es bleibt grundlegend, die Unternehmensmission ökonomisch effizient zu verfolgen.

Ein Problem der praktischen Wirksamkeit

Worin besteht dagegen die Verantwortung von öffentlichen Einrichtungen? Die Frage nach der gesellschaftlichen Wertschöpfung erscheint dort zunächst nur als Problem der praktischen Wirksamkeit und nicht als Erkenntnisproblem. Wenn man den jeweiligen gesetzlichen Auftrag öffentlicher Einrichtungen betrachtet, mag die Frage sogar überflüssig sein. Plakativ formuliert: Öffentliche Einrichtungen sind öffentlich, weil sie sich um gesellschaftlich relevante Themen kümmern, die nicht dem Preismechanismus des Marktes folgen.

In der Praxis sieht das komplizierter aus. Über die vergangenen Jahrzehnte haben sich die verwaltungspolitischen Leitbilder in der Bundesrepublik gewandelt. Während zunächst die Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung im Zentrum stand, geriet der Staat Anfang der achtziger Jahre vor allem aufgrund neuer Ideen aus den angelsächsischen Ländern unter Druck. Dort galt er nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems.

Diesen Ansätzen zufolge sollten privatwirtschaftliche Managementtechniken auf öffentliche Einrichtungen übertragen werden, um scheinbar träge Verwaltungsstrukturen wirtschaftlicher, effizienter, serviceorientierter zu machen. Dies ist der Grundgedanke des New Public Management. Weil man öffentliche Einrichtungen generell eines Leistungsdefizits verdächtigte, sollten über betriebswirtschaftliche Steuerungsintrumente wie Benchmarking und Controlling Leistungssprünge stimuliert werden. Der „stotternde Motor“ sollte durch unternehmerisches Handeln funktionstüchtiger gemacht werden. Aufgrund des übergeordneten Ziels der Haushaltskonsolidierung rückten dabei zunächst Effizienz- und Kostenfragen in den Fokus. Neue Steuerungslogiken waren gefragt.

Die Fokussierung auf relativ leicht messbare Ziele wie Wartezeiten, die Anzahl der bearbeiteten Fälle pro Tag oder Kundenzufriedenheit ist sicher ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung von Servicequalität. Zudem kann über das Controlling des Mitteleinsatzes der Effizienzgedanke gefördert und Transparenz über die erzielten Wirkungen geschaffen werden. Vielerorts ist inzwischen zwar Ernüchterung eingetreten. Doch immerhin: Auch wenn bei der Übertragung von privatwirtschaftlichen Managementkonzepten in Verwaltungsstrukturen viele Fehler gemacht worden sind und einige Maßnahmen zu Recht vom Immunsystem der Organisation abgestoßen werden, bleibt das grundlegende Verdienst der NPM-Bewegung, dass Serviceorientierung, Kostenbewusstsein und eine stärkere Wirkungsorientierung wieder mehr betont werden. Allerdings bleibt beim New Public Management-Ansatz die Frage nach der Wertstiftung öffentlicher Institutionen mehr oder weniger außen vor. Wie verändern diese soziale Normen und Verhaltensweisen, etwa in der Kindererziehung, im Essverhalten, bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder der Daseinsvorsorge?

Beispiel II: Die Bundesagentur für Arbeit

Am Beispiel der Reform der Bundesagentur für Arbeit (BA) soll deutlich gemacht werden, dass die Konsolidierung öffentlicher Einrichtungen unter dem Paradigma des New Public Management erforderlich war; nun muss dieser Ansatz jedoch unter dem Leitbild Public Value weiterentwickelt werden.

Im Frühjahr 2002, als sich die Bundesanstalt für Arbeit gerade auf ihr 50-jähriges Jubiläum vorbereitete, wurde sie durch den „Vermittlungsskandal“ in ihren Grundfesten erschüttert. Aus welchen Gründen und Motiven auch immer: Über Jahre waren überhöhte Vermittlungszahlen ausgewiesen worden. Die Bundesanstalt für Arbeit galt fortan als Sinnbild für Bürokratie und Ineffizienz. Wie es weiterging, ist hinlänglich bekannt: Die Hartz-Kommission entwickelte eine Reihe von Ideen, die dann in Reformpläne mündeten und als „Hartz-Gesetze“ bekannt wurden.

Diese schlossen auch eine Reihe interner Maßnahmen ein. So wurden seither unter enormer Kraftanstrengung und mit viel Engagement die alten Arbeitsämter erfolgreich zu modernen Kundenzentren umgebaut und die Binnenstrukturen verändert. Wartezeiten haben sich verkürzt, Arbeitsuchende finden leichter den richtigen Ansprechpartner, die Bearbeitung von Anträgen ist schneller geworden. Nicht von ungefähr wird die BA heute von dem erfolgreichen Unternehmer Frank-Jürgen Weise geleitet.

Das jahrzehntelange Defizit der BA wurde seither in einen Überschuss gewandelt. Dies erklärt sich sicher mit dem Konjunkturaufschwung und den veränderten Bezugszeiten, aber eben auch durch eine effizientere Ressourcenallokation, aus der ein nicht unwesentlicher gesellschaftlicher Nutzen entsteht. Die BA hat damit einen signifikanten Public Value gestiftet, der in der Öffentlichkeit noch zu wenig beachtet wird.

Uns geht es hier um einen weiteren Punkt: Das tatsächliche Leistungsbild dieser Bundesbehörde – wie auch anderer öffentlicher Einrichtungen – ist größer, als es nackte Controllingzahlen oder Statistiken ausdrücken können. Klug kontrollierter Mitteleinsatz ist ganz sicher Pflicht. Aber es geht um mehr. Dieses Mehr sind im Fall der BA Beiträge zu Werten der Gemeinschaft wie soziale Stabilität, Eröffnung von Bildungschancen, Solidarität, Stärkung des Einzelnen durch das Einfordern von Selbstverantwortung, Förderung regionaler Besonderheiten, Ermöglichung sozialer Teilhabe, Vertrauen in die Berechenbarkeit von Verwaltungshandeln, ja letztlich auch um das „Bild vom Staat“. All diese Punkte ergeben sich aus dem Kerngeschäft und besonders aus dem gesetzlichen Auftrag. Die Orientierung an Gemeinwohlbelangen bildet den Wesenskern öffentlicher Verwaltungen.

An dieser Stelle ergibt sich auch die große Führungsherausforderung: Während Gemeinwohlwerte unzweifelhaft „gelebt“ und bewertbar gemacht werden sollten, steckt man in dem Dilemma, deren Inhalte nicht als gegeben annehmen zu dürfen, sondern immer wieder verhandeln zu müssen. Und hier liegt der Kern der Sache: Was heute Public Values in der Gesellschaft sein sollen, ist Gegenstand politischer Willensbildung beziehungsweise muss mit Blick auf öffentliche Einrichtungen und deren Leistungen nachvollziehbar verdeutlicht werden. Am Beispiel der BA wird dies plastisch: Es handelt sich nicht um eine „Bundesagentur für Alles“, wo vielfältigste Ansprüche zusammenfließen und eine klare Zielausrichtung verwischen. Wie das „Public Value“ der BA aussehen soll, ist Produkt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Der gesetzliche Rahmen allein bietet „nur“ das Gerüst.

So könnten etwa in den nächsten Jahren insbesondere neue Ideen mit Mehrwert auf allen Seiten gefragt sein. Häufig konzentriert sich heute die Debatte um Arbeitslosigkeit auf den Bestand von Langzeitarbeitslosen. Dabei wird die immer weiter zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes übersehen. Schon jetzt gibt es jährlich sieben Millionen Menschen, die sich auf dem Arbeitsmarkt verändern: Menschen, die den Job wechseln; solche, die arbeitslos werden; Arbeitslose, die wieder in den Arbeitsmarkt eintreten; Menschen, die nach der Elternzeit wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren – es handelt sich also um einen hochdynamischen Markt. Diese Übergänge zu managen, ist eine weit anspruchsvollere Aufgabe als die klassische Arbeitsvermittlung. Zunehmend besteht Bedarf an qualifizierter Beratung zum Perpektivwechsel und zur Neuorientierung auf dem Arbeitsmarkt. Dies gilt übrigens nicht nur für den 52-Jährigen, dessen Arbeitsplatz wegfällt und der sich umoriertieren muss, sondern auch für Betriebe, die es bei zunehmendem Fachkräftemangel immer schwerer haben, qualifiziertes und motiviertes Personal zu finden.

Eine so umfassende Perspektive kann das New Public Management nur schwerlich in den Blick nehmen, weil es sich in betriebswirtschaftlicher Logik auf die eher leicht messbaren Ziele und Effizienzkriterien konzentriert. Mit dem Fokus auf Kosten und vermeintlich leicht quantifizierbare Kennzahlen kann nur ein Teil des gesellschaftlichen Nutzens erkannt und gesteuert werden. Anders: Ein Teil der Ernte kann nicht eingefahren werden, solange ungenau beschrieben bleibt, worin eigentlich die gesellschaftliche Rendite besteht.

Wie nutzen Verwaltungen ihre Spielräume strategisch sinnvoll aus?

Die Public-Value-Sicht führt zu einer erweiterten Handlungsperspektive auf klassisches Verwaltungshandeln: Wie nutzen etwa Verwaltungen die ihnen im Rahmen der Exekutionsfunktion gegebenen Handlungsspielräume „strategisch“ sinnvoll und kreativ-unternehmerisch? Eine NPM-orientierte Antwort würde eher auf innovative Praktiken eines verbesserten Mitteleinsatzes oder auf die Erhöhung der Kundenzufriedenheit und damit relativ gut messbare Kenngrößen zielen. Das reicht aber nicht aus und kann sogar zu Fehlsteuerungen führen.

Aus der Public-Value-Perspektive ist der Anspruch umfassender, und er führt zu anderen Fragen: Auf welcher normativen Basis werden freiwillige Leistungen auf dezentraler Ebene legitimiert? Anhand welcher gesellschaftlich relevanten Kriterien werden Ermessensleistungen in der Arbeitsmarktpolitik „gewährt“? Legitimation heißt hier, gemeinsam mit unterschiedlichen Akteuren zu tragfähigen Lösungen zu gelangen und dann die Mitarbeiter und Führungskräfte „mitzunehmen“, das heißt, eine Identifikation mit den Zielen zu bewirken. „Verwaltung“ wäre dann in einem ganz umfassenden Sinne auch das zielgerichtete unternehmerische Agieren mit Blick auf gesellschaftliche Wertschöpfung und damit sehr viel positiver besetzt als es heute im öffentlichen Sprachgebrauch üblich ist.

Wie so oft, hat der Public-Value-Gedanke zuerst in Großbritannien eine Rolle gespielt. Besonders die BBC hat das Thema auch in der öffentlichen Diskussion um die eigene Aufgabe, ihren Sinn und Zweck positioniert. Im Zusammenhang mit der Erneuerung der Royal Charter hat die BBC ihre Zielausrichtung auf den Punkt gebracht: „[The BBC] exists solely to create public value.“ Damit diese Maßgabe nicht bloße Verlautbarung bleibt, unterzieht die BBC ihre Tätigkeiten regelmäßig einem Public-Value-Test. Der BBC Trust – ein unabhängiges Gremium mit Experten, Vertretern der Zivilgesellschaft und Wissenschaftlern – beurteilt, ob die BBC ihrem Bildungs- und Kulturauftrag nachkommt, etwa wenn sie neue Aufgabenfelder erschließt, zum Beispiel im Internet oder auf dem Gebiet des digitalen Fernsehen. Ebenso beschreibt das ZDF für die eigene Tätigkeit Public Value als ein Maß der Qualität, die sich eine demokratische Gesellschaft für ihre öffentlichen Diskussionen leistet. Derzeit entwickelt das ZDF einen eigenen Public-Value-Test, um den gesellschaftlichen Mehrwert öffentlich-rechtlicher Angebote sowie die Gefährdung privatwirtschaftlicher Medienmärkte zu untersuchen.

Heraus aus den akademischen Debatten

Ob nun im privatwirtschaftlichem oder öffentlichem Sektor – eines zeigen die Beobachtungen: Die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen in Form eines „Public Value“ bezeichnet offenbar einen aktuellen Bedarf, die Veränderung von gesellschaftlichen Bedürfnissen und Wertvorstellungen aus den akademischen und politischen Debatten herauszuholen und managementpraktisch nutzbar zu machen. Es wäre also sicher nicht gerechtfertigt, die Vokabel „Public Value“ als rhetorische Figur für Marketingzwecke zu disqualifizieren. Vielmehr wird damit eine attraktive Idee angeboten, um wichtige Phänomene im Funktionieren hoch arbeitsteiliger, sich an vielen Stellen selbstorganisierender Gesellschaften zu beschreiben.

Aus Sicht von Entscheidungsträgern wären vielleicht eine spezifische Differenzierung einzelner Personengruppen und eine konsequente Ausrichtung auf Stakeholdermanagement auf den ersten Blick zielführender. Würde dies nicht viel besser das eigene Handeln legitimieren und Transparenz über den Ressourceneinsatz schaffen? Nicht unbedingt. Natürlich muss man konkret angeben können, für wen man, auf welcher Grundlage und woran messbar, Nutzen stiftet. Jedoch: In einer hoch differenzierten Gesellschaft kann niemand das „Ganze“ analytisch differenziert in den Blick nehmen, oft sind nicht alle Beteiligten und Betroffenen bekannt; diese verändern ihre Ansprüche dynamisch und aus kleinsten spezifischen Handlungen können – gerade in einer Medienwelt – sehr schnell allgemeine Konsequenzen resultieren. Ein übergreifender handlungsleitender Gedanke ist deshalb sinnvoll. Während der Personengruppen-Ansatz auf einen „Wert“-Beitrag für eine bestimmte Anzahl beziehungsweise einen bestimmten Kreis von Personen zielt, ist der Public-Value-Ansatz auf einen „Wert“-Beitrag für eine unbestimmte Anzahl oder einen unbestimmten Kreis von Personen gerichtet. In der Abwägung zwischen spezifischen Interessen bildet – analog zum Abwägungsprozess im juristischen Sinne – der Gedanke an die Allgemeinheit den Kristallisationspunkt für Entscheidungen.

Ob der Public-Value-Beitrag positiv oder negativ ist, entscheiden immer die relevanten (Teil-)Öffentlichkeiten. In demokratischen Gesellschaften kann es folglich auch keine abschließende Festlegung geben. Jede inhaltlich verbindliche Festlegung vorab muss unweigerlich enttäuschen. Einsichtig ist dann, dass die Renaissance des Gemeinwohlgedankens zu einer Aufwertung des „Verfahrensaspekts“ führt. Dies bedeutet ganz einfach, dass die (öffentliche) Auseinandersetzung, das tatsächliche Aushandeln des Public Values eine größere Bedeutung bekommt.

Wo zeigt sich dieser „Verfahrensaspekt“ in der Gesellschaft noch? Der Soziologe Nico Stehr präsentiert eindrucksvoll den Gedanken einer „Moralisierung der Märkte“, also einer intensiveren Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wirkungen wirtschaftlichen Handelns. Die Zunahme des Wohlstands und des verfügbaren Wissens in einer wissensbasierten Ökonomie bewirke, dass der Art und Weise der Herstellungsbedingungen, des Fertigungsprozesses, des Produktes selbst und dessen Vermarktung stärkere Aufmerksamkeit zuteil wird. Umweltschutz, die Qualität von Lebensmitteln, medizinischer Fortschritt oder Biotechnologie betreffen den Einzelnen wie in der Regel die Gesellschaft als Ganzes so grundlegend, dass hierbei Ängste, Hoffnungen, Meinungen, Fairness, Nachhaltigkeit, Vermutungen in hohem Maße etwa die Reputation eines Produktes oder einer Organisation und damit auch stärker Kaufentscheidungen prägen. Folglich spielen mehrdimensionale Perspektiven und die Kenntnis gesellschaftlicher Bedürfnisse eine wachsende Rolle.

In der soziologischen Perspektive kommt ein weiterer Faktor hinzu: In einer beschleunigten, von empfundener Zeitknappheit geprägten Gesellschaft, verlagert sich ganz offenkundig schon allein aus „Zeitgründen“ ein Teil des Aushandlungsprozesses auf dezentrale Ebenen. Im Anschluss an die viel beachtete Beschleunigungstheorie des Soziologen Hartmut Rosa erscheint uns der von ihm beobachtete „progressive Verlust der politischen Selbsteinwirkungsmöglichkeiten der Gesellschaft“ ein weiterer Grund der Aufwertung des Public Value-Denkens zu sein. Besonders demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sind demnach oft zu langsam, um in den sehr schnellen und dynamischen Wirtschaftsprozessen kurzfristig wirksam zu werden. Sie sind sogar prinzipiell beschleunigungsunfähig, wenn ein Grundkonsens eben nicht vorausgesetzt, sondern durch Beteiligungsprozesse immer wieder neu organisiert werden muss.

Ein attraktiver Kompass in bewegten Zeiten

Wir hatten behauptet, dass eine Idee die Debatten verlässt und im Managementalltag von privaten und öffentlichen Organisationen ankommt. Dies sieht natürlich sehr unterschiedlich aus. Ob nun als Sozialbilanz, als Leitbild, als Public-Value Scorecard – entscheidend ist, dass die gesellschaftliche Wertschöpfung „unter dem Druck der Verhältnisse“ in die interne Steuerungslogik des Kerngeschäfts auf Organisationsebene aufgenommen werden muss und in der Bewertung durch das Umfeld sehr wohl zum Erfolgsfaktor werden kann. Eine Übernahme in die individuelle Entscheidungslogik kann sicher zum Teil über Beurteilungssysteme bewirkt werden. Entscheidend ist aber, die Vorteile im Geschäftsalltag beispielhaft darstellen zu können und andererseits auch deutlich zu machen, dass nicht jede Public-Value-Argumentation einen Persilschein für Beliebigkeit und Willkür darstellen darf. Wie das funktionieren kann, wird eine echte Führungsherausforderung für kompetentes Management.

Insgesamt also geht es ganz sicher auch weiterhin um Kennzahlen, aber nicht notwendigerweise nur um quantitative, sondern auch um qualitative Bewertungsmaßstäbe. Diese müssen natürlich kompetent in der Gesellschaft verhandelt werden. Der Dialog über diese Nutzenstiftung sollte helfen, die komplizierten und keineswegs eindimensionalen Entscheidungsgrundlagen nachvollziehbar zu machen, die Distanz zwischen Bürger und Institutionen wieder zu verringern und das Vertrauen in die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zu steigern.

Werte für die Gemeinschaft zu schaffen ist demnach keine Frage der Überzeugungen, sondern folgt immer wieder der Einsicht, dass man nicht nicht gesellschaftlich handeln kann. Dies ist zunächst immer eine individuelle Erkenntnis und lässt sich nicht an „Organisationen“ delegieren. Eine differenzierende Betrachtung gesellschaftlicher Nutzenstiftung muss ganz sicher unternehmerisch angepackt werden. Die sinnstiftende Rückbesinnung auf gesellschaftliche Bedürfnisse ist beileibe keine Luxusdebatte. „Public Value“ ist dabei ein attraktiver Kompass in bewegten Zeiten.

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