Die Ränder und die Mitte

Deutschland muss sich in seine veränderte Rolle in Europa hineinfinden. Gelingen kann das, wenn sich eine außenpolitische Community formiert, die sich intensiv den neuen Aufgaben widmet

Es gibt Herausforderungen, die sich durch notorische Wahrnehmungsverweigerung nicht aus der Welt schaffen lassen. Sie sind einfach da, und wenn man sich ihrer Bearbeitung verweigert, kommt das einem Versagen gleich. Das gilt für die Regierung, aber nicht weniger gilt es auch für die politische Öffentlichkeit. Deutschland ist in eine neue politische Rolle in Europa „hineingeraten“, und die politische Öffentlichkeit hierzulande interessiert sich nicht dafür. Es hat eine kurze Auseinandersetzung über die von Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz erhobene Forderung nach mehr deutscher Verantwortung in der europäischen Sicherheitspolitik gegeben, aber eine nachhaltige Debatte ist daraus nicht geworden. Bemerkenswert an den Wortmeldungen zu Gaucks Äußerungen war, dass viele sie nicht als eine Reaktion des Bundespräsidenten auf tatsächliche Herausforderungen begriffen haben, sondern als ein willkürliches Vordrängen der Deutschen auf der Suche nach Macht und Einfluss. Nicht die Lage wurde problematisiert, sondern die Reaktion darauf.

Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die zu einer neuen Rolle Deutschlands in Europa geführt haben: Zum einen engagieren sich die Vereinigten Staaten in und um Europa zunehmend weniger. Zum anderen sind die meisten größeren Länder Europas seit Jahren und wohl noch auf Jahre hinaus mit inneren Problemen beschäftigt – von der Restrukturierung ihrer Wirtschaft bis hin zur Neuordnung der Parteienlandschaft; Frankreich ist mit sich und seinen Problemen beschäftigt, für Italien und Spanien gilt dasselbe. Aber die Herausforderungen verschwinden nicht, bloß weil die meisten europäischen Länder keine Zeit für sie haben. So ist Deutschland, nachdem es bereits in der Finanz- und Wirtschaftskrise des Euroraums zum wichtigsten Akteur geworden ist, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik Europas zur lead nation avanciert. Es steht nicht zur Debatte, ob wir das gut finden, ob wir diese Rolle annehmen wollen – all das hat sich von selbst ergeben. Es geht schlicht und ergreifend um die Frage, ob wir dieser Rolle gewachsen sind.

Die Position in der Mitte eines politischen Verbandes, die Rolle der „Zentralmacht“, ist seit jeher besonders anspruchsvoll und schwierig. Während sich die Akteure an den Rändern darauf konzentrieren können, ihre jeweiligen Eigeninteressen zu vertreten, muss die Macht in der Mitte immer auch die Interessen des Gesamtverbands zu ihren eigenen machen. Das ist keineswegs im Sinne einer „Selbstaufopferung“ zu verstehen, weil in der Mitte das Wohlergehen des Gesamten mit den besonderen Interessen des Akteurs fast deckungsgleich ist. Man kann das anhand des Ukraine-Konflikts erläutern: Polen und die baltischen Staaten fühlen sich von Russland bedroht; Portugal, Spanien und Italien sind durch die russische Annexion der Krim und den Krieg im Donbass kaum affiziert; Ungarn und Bulgarien verfolgen eine russlandfreundliche Linie. Der deutschen Bundesregierung fällt die Aufgabe zu, daraus eine einheitliche europäische Politik zu machen, dabei den Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißen zu lassen und zugleich darauf zu achten, dass die Europäer nicht ins Schlepptau womöglich ganz anders gelagerter amerikanischer Interessen geraten. Man muss davon ausgehen, dass dieses Strukturmuster das zukünftige Paradigma der deutschen Politik ist. Dafür Lösungen zu finden, liegt gleichermaßen im europäischen wie im deutschen Interesse. Wegducken ist keine Lösung, und ein Versagen vor dieser Herausforderung stellt die Handlungsfähigkeit der EU infrage. Im günstigsten Fall würde man wieder zum Appendix der US-Außen- und Sicherheitspolitik.

Außenpolitische Fragen waren noch nie eine Domäne innenpolitischer Debatten und Kontroversen. Die Ostpolitik Willy Brandts ist eine der wenigen Ausnahmen, aber sie wurde dies auch nur wegen der Auswirkungen, die sie auf die deutsche Innenpolitik hatte. Eine Demokratie kann sich das reduzierte Interesse der Bevölkerung an solchen Fragen umso eher leisten, je aktiver die außenpolitische Community ist, die sich mit solchen Fragen beschäftigt. In ihr kommen Fachpolitik, Zivilgesellschaft, wissenschaftliche Expertise und Interessenvertreter zusammen. Diese Community ist in Deutschland eher schwach ausgeprägt. Will man die Bearbeitung der neuen Herausforderungen und die Definition der deutschen Rolle nicht zur alleinigen Angelegenheit der Exekutive werden lassen, muss man an der Formierung einer solchen Community arbeiten. Sie ist der Ersatz für große Debatten, an denen die gesamte politische Öffentlichkeit beteiligt ist. Auch wenn man sich am Werderschen Markt bereits in der neuen Rolle Deutschlands zurechtfindet – die politische Szene des Landes hat hier noch erheblichen Nachholbedarf.

zurück zur Ausgabe