Die provisorische Hauptstadt

Die rot-rote Koalition soll endlich Berlins innere Einheit schaffen. Das ist nötig. Doch zugleich muss die Stadt aufhören, den Illusionen der "Dienstleistungsmetropole" zu erliegen. Berlins Zukunft wird östlicher und fragmentarischer sein

Als die Berliner Ampelgespräche scheiterten, war es der SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder, der eingestand, dass ein solches Bündnis durchaus den experimentellen Charme des Neuen und Unerprobten hätte haben können. Was er damit meinte, ist erst deutlich geworden, nachdem SPD und PDS ihre Verhandlungsergebnisse vorlegten. Denn das in einer Nachtsitzung vor Weihnachten Beschlossene atmet den Geist einer Politik, die kein anderes Ziel hat, als irgendwie zu regieren. Eine Not leidende Stadt bekommt nun eine an politischer Ideenarmut leidende Stadtregierung. Die rot-rote Zukunft könnte zur apparatschikgrauen Wirklichkeit werden.

Auch wenn man die Phantasien von einem glitzernden neuen Berlin nicht mehr hören mag, hätte man von dem künftigen Senat doch gern gewusst, was er eigentlich sein will: ein Notbündnis, das in wenigen Monaten den Haushaltsnotstand ausruft, oder eine Koalition, die sich die Mühe macht, über den Etattitel hinaus politische Vorstellungen zu formulieren? Nicht nur, wer die Rollenverteilung zwischen SPD und PDS betrachtet, fühlt sich an die - überwunden geglaubte - großkoalitionäre Zweckgemeinschaftsideologie erinnert. Die SPD hat die ehrgeizige Vorstellung, selbst die steuernde Modernisierungskraft zu sein; der PDS wird die Rolle einer strukturkonservativen Partei zugedacht, die unter Zugzwang und Entscheidungsdruck zu setzen sei. Insofern ist also auch ein rot-rotes Bündnis eine Versuchsanordnung, die eine genaue Beobachtung verdient hat.

Allerdings in ganz anderer Hinsicht als die im Kindbett gestorbene Ampelkoalition: Während diese - unter günstigeren Umständen - eine Modernisierungsdynamik hätte entfalten können, ist Rot-rot eher in gesellschaftspolitischer Hinsicht ein Experiment mit offenem Ausgang. Wird sich die PDS in der Hauptstadt, die hier eine ostdeutsche Volkspartei aus Volksbühnen-Intellektuellen, alten Marxismus-Leninismus-Gelehrten, Lichtenberger Kleinbürgern und systemkritischen Studenten ist, erfolgreich sozialdemokratisieren? Oder wird sie den Belastungen der Sparpolitik, die ihre reformerische Spitze seit langem will, nicht stand halten? Was bedeutet es, wenn in der FDJ geschulte PDS-Politiker demnächst in den ehemaligen West-Berliner Verwaltungen ihre Büros beziehen?

Man folgt vermutlich einem propagandistischen Optimismus, wenn man Gysi, Bartsch und Wolf Glauben schenkt und von der rot-roten Koalition über Nacht das Zusammenwachsen des gespaltenen Berlin erwartet. Auf die soziale und kulturelle Fragmentierung der postindustriellen Stadt, wie sie der Soziologe Hartmut Häußermann beschreibt, hat die Politik eines kurz vor der Ausrufung des Haushaltsnotstandes stehenden Senates wohl wenig Einfluss. Trotzdem wird die politische Geographie der Stadt nicht so bleiben, wie sie sich fast zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer in eine neue Zeit hinübergerettet hatte.

Im Kranzler sieht es aus wie in Salzgitter

Mit dem Niedergang der Diepgen-Landowsky-CDU verliert das frontstädtisch denkende Bürgertum des Westens wohl endgültig an Einfluss. Dessen kulturelle und symbolische Bastionen werden eine nach der anderen geschleift. Wo man einst beim Kellner des Cafés Kranzler einen Einspänner bestellte, werden heute Push-up-BHs für noch nicht einmal 20 Mark verkauft. Das Kranzler, im 19. Jahrhundert von einem Wiener Bäcker gegründet, gibt es als Straßencafé, als Treffpunkt des West-Berliner Bürgertums nicht mehr. Es besteht nur noch aus der Rotunde, die einst über dem Straßencafé thronte. Hier hatte die westliche Mauerstadt ihren Boulevard. Es ist nicht leicht, den Eingang zu finden. Das Kranzler ist nur noch per Fahrstuhl zu erreichen. Im Erdgeschoss des Eckhauses, das der Architekt Helmut Jahn mit einem 60 Meter hohen Gebäuderiegel aus Stahl und Glas einzwängte, schäumen studentische Teilzeitkräfte H-Milch für Latte macchiato auf. Im Kranzler ist man dennoch stolz auf das "völlig neue Barkonzept". Auf der Speisekarte kann man zwischen Wiener Würstchen und dem mit Käse überbackenen "Kranzlertoast" wählen. Selbst die aus Bremen angereiste Schülergruppe findet, diese Stimmung könne man auch im Bahnhofscafé von Salzgitter haben.

Die Einheitsfront des Westens bröckelt


Das Kranzler ist nur ein Beispiel. Der Anfang vom Ende der politischen und kulturellen Hegemonie West-Berlins über den Ostteil der Stadt hat begonnen. Die "Einheitsfront des westlichen Bürgertums" (Joseph Roth) bröckelt. Das Kranzler gibt es nur noch in der Diminutivform - und den politischen Einfluss des West-Berliner Bürgertums bald auch. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Leiter der Berlinischen Galerie ganz selbstverständlich mit dem CDU-Fraktionsvorsitzenden gemeinsam neue Gemälde akquirierte. Vorbei auch die Zeiten, in denen sich ein überschaubares Stadtbürgertum aus wenigen Bauunternehmern, Anwälten und höheren Beamten sicher sein konnte, in dem Regierenden Bürgermeister von den Christlichen Demokraten einen verlässlichen Fürsprecher zu haben. Aus dieser Nähe von Politikern, Honoratioren und Bauunternehmern, die es in der belagerten und eingemauerten Stadt ausgehalten haben, war im Laufe der Jahre der sprichwörtliche Berliner Sumpf geworden, der den Ruf der Stadt beschädigte und der letztlich auch einen Grund für die Neuwahlen im Oktober abgab. Harald Juhnke, der Mann den die West-Berliner für ihren Frank Sinatra hielten, sei demenzkrank und müsse in einem Pflegeheim betreut werden, meldeten die Zeitungen am siebten Tag der rot-roten Verhandlungen - noch so ein Abschied.

Die Koalitionsvariante, die man zwölf Jahre lang aus historischen Gründen ausgeschlossen hatte, kam nun plötzlich über Nacht. Die Frage der historischen Legitimität stellte man erst gar nicht mehr. Verdruckst war von "den besonderen historischen Bedingungen" und einer Präambel über die Geschichte die Rede, die man dem Koalitionsvertrag voran stellen wolle. Über den Mauerbau, die Zwangsvereinigung von KPD und SPD oder über Stasi-belastete PDS-Abgeordnete wird kollektiv geschwiegen. Und die PDS rief nach den Verhandlungsrunden immer nur: "Es passt!"

Fast emotionslos und ohne die abermalige Beschwörung der kommunistischen Gefahr hat Berlin die Entscheidung für Rot-rot aufgenommen. Fast sorgte die Schließung eines Theaters von kleinstädtischem Zuschnitt im bürgerlichen Südwesten der Stadt für mehr Aufregung. Auch die früheren Bürgerrechtler schwiegen weitgehend. Annette Simon, Psychologin und zu Wendezeiten Mitarbeiterin des Neuen Forums, ist zugleich entsetzt und ratlos. Einerseits ignorierten zwar die Westparteien die Stimmung im Osten, sagt sie. Andererseits aber sei die PDS durch ihre Vergangenheit nicht legitimiert, schon jetzt wieder zu regieren. Von Zäsur oder Tabubruch spricht sie nicht. Die Rentnerin Waltraud Schröder war Stammgast des alten Kranzler. "Es ist sehr klein und eng hier", klagt sie jetzt über das neue Café. Dass die PDS die Westausdehnung nun bald geschafft hat und ein Wirtschaftssenator Gysi in Aussicht steht, beunruhigt sie schon weniger. Die PDS sage ja, sie wolle keine SED mehr sein. "Das glaube ich zwar nicht, aber ich warte das mal ab."

Die Stadt, ein Universum paralleler Welten


"Die Stadt nimmt es ruhig hin", sagen die Sozialdemokraten zufrieden über die Stimmung. Nur sind die Spielräume der Berliner Landesregierung angesichts von 75 Milliarden Mark Schulden und täglichen Zinszahlungen von 11 Millionen Mark auch für die PDS begrenzt. Andererseits bekommen die Sozialisten nun erstmals Zutritt zu Aufsichtsräten und Stiftungsgremien. Der zu DDR-Zeiten staatsfromme Teil des Ostens verschafft sich Gehör, die jahrelang marginalisierten Postkommunisten stürmen die Salons. "Die Dominanz des West-Berliner Milieus über die ganze Stadt wird schwächer werden", sagt auch der Stadtsoziologe Häußermann. Berlin sei eine geteilte Stadt gewesen und bleibe eine gespaltene Stadt. Aber mit der "Selbstzufriedenheit" der politischen Klasse West-Berlins sei es nun vorbei.

In Berlin lösen sich aber selbst überständig gewordene Milieus nicht einfach so auf. Sie verlieren vielleicht an Vitalität, sie verschwinden auch aus der öffentlichen Wahrnehmung. Aber im Grunde ist und bleibt die Stadt ein einziges Universum parallel existierender Lebenswelten. Das Milieu, von dem die künftige Regierungspartei PDS abhängig ist, findet man in den früheren "sozialistischen Wohnstädten" der "Hauptstadt der DDR", in den tristen Trabantensiedlungen von Hellersdorf, Marzahn oder Lichtenberg. Mehr als die Hälfte aller Wähler stimmten hier für die PDS. Die Durchschnittseinkommen liegen in diesen Stadtteilen allerdings höher als in den früheren Westbezirken Neukölln oder Kreuzberg, die heute die Armenhäuser der Gesamtstadt sind. Die Arbeitslosigkeit ist in Hellersdorf niedriger als in vielen westlichen Vierteln. Die Plattenbauten sind bunt angestrichen und längst mit Styropor isoliert, doch das Axiom von der "Kälte des Kapitalismus" ist hier immer noch die Voraussetzung fast jeder politischen Äußerung. Vom Kudamm ist diese Welt so weit entfernt wie Hamburg von Hoyerswerda.

Marzahn ist aber nicht nur der Altersruhesitz alter SED-Kader, es ist auch der Einwanderungsbezirk des Berliner Ostens. Allein 14.000 Russlanddeutsche leben hier inzwischen. Und wer das "gesellschaftspolitische Forum" des PDS-nahen Bildungsvereins "Helle Panke" besucht, macht eine Zeitreise in unberührte sozialistische Landschaften: Am Wochenende singt der Ernst-Busch-Chor, und man feiert das "große Kuba-Fest". Der Wille zur Verwestlichung könnte größer sein. Ehemalige Hochschullehrer der DDR diskutieren mit einer PDS-Abgeordneten über die sich anbahnende Regierungsbeteiligung. Die Skepsis überwiegt: Je mehr sich die PDS an Regierungen beteilige, desto größer sei die Gefahr der "Verbürgerlichung", sagt ein Mann. Auch die PDS habe schon die "Sprache der Mächtigen" angenommen, wenn sie jetzt fordere, "sozialverträglich zu sparen".

Zum intellektuellen Rüstzeug, das diese PDS-Mitglieder in den sechziger Jahren beim Studium des "Marxismus-Leninismus" erworben haben, ist in den vergangenen zwölf Jahren nicht viel hinzugekommen. Nur die allergröbsten Reizwörter - "Klassenfeind" oder "US-Imperialismus" - nimmt man nicht mehr öffentlich in den Mund. "Wir müssen wissen, wo wir keine Kompromisse machen wollen", sagt ein pensionierter Hochschullehrer. "Wir müssen für die Schwachen in der Gesellschaft kämpfen." In dieser Beziehung könnte die PDS den Sozialdemokraten bei den postproletarischen Wählern im Westen vielleicht Konkurrenz machen - als sozialistisch-populistische Alternative. Fast in jeder Erklärung der PDS ist zu lesen, daß man eine sozial gerechte Politik anstrebe. 15 "Quartiere mit besonderem Entwicklungsbedarf", also Gebiete mit überdurchschnittlich vielen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, hat der Berliner Senat ausgewiesen. Sie liegen fast alle in den ehemaligen Westbezirken.

Einmal Grenzstadt, immer Grenzstadt

Doch das Schwinden der westlichen Dominanz wird den Osten auch nicht annähernd so einflussreich machen, wie es West-Berlin in der ersten Dekade nach der Vereinigung war. Die Milieus werden parallel existieren, die Steuerungsfähigkeit der Lokalpolitik wird ohnehin schwächer werden. Die teuren Projekte zur sozialen Stadtentwicklung sind letztlich auch ein Eingeständnis der schwindenden Macht über das Soziale. In Moabit, einem der ärmsten Stadtquartiere, sind das Kanzleramt von Axel Schultes und der Imbiss, in dem in dritter Generation arbeitslose Sozialhilfeempfänger ihr Mittagsbier trinken, kaum fünf Kilometer voneinander entfernt.

Die Osterweiterung der EU wird stärker ins Bewusstsein rücken, dass Berlin Grenzstadt ist und die polnische Grenze nur 80 Kilometer entfernt. "In Berlin, wo es keine Schlagbäume gab, sondern Mauern, die nicht nur die Stadt und zwei deutsche Staaten, sondern die ganze Welt geteilt hatten, glaubte man nach dem Fall der Mauer, dass sich die Rolle der Stadt als Grenzstadt für alle Male erledigt habe", schreibt der Autor Uwe Rada in seinem Buch Berliner Barbaren, in dem er ein neues, insgesamt östliches Berlin skizziert, dessen Realität die meisten Politiker und Journalisten noch nicht einmal ansatzweise begriffen haben. Die Entwicklung der Stadt wird auch davon abhängen, wie sie die Öffnung nach Polen und den anderen Nachbarstaaten verarbeiten wird. Zu sehr, auch das schreibt Rada, habe sich die Politik von der Vision einer ganz neuen, prosperierenden "Dienstleistungsstadt" Berlin blenden lassen. "Doch statt der internationalen Konzerne, die in Berlin auf dem Weg zu den osteuropäischen Märkten ihre Firmenzentralen bauen sollten, kamen die polnischen Wanderarbeiter, statt der Global Players der Weltmärkte die Glücksritter der Basarwirtschaft" - eine Entwicklung, deren Risiken (und neue Chancen!) die Berliner Lokalpolitik bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Überhaupt ist das Bild, das sich die Berliner Politiker von ihrer Stadt machen, zutiefst provinziell geblieben. Die Parteien sind hier noch immer kleinräumige Stadtparteien, die sich lange von ihrer jeweiligen Klientel in Fesseln legen ließen. So ahnen sie auch bestenfalls, dass es zwischen dem alten, um Bedeutung ringenden Westen, den Mentalitätsresten der "Hauptstadt der DDR" und dem neuen osteuropäischen Osten seit Mitte der neunziger Jahre auch ein "drittes Berlin" gibt: die Multimedia- und Bio-Tech-Unternehmer in den renovierten Gewerbehöfen und ehemaligen Industrieetagen im Bezirk Mitte. Politisch ist dieses neue soziale Milieu bislang ohne Einfluss, obwohl jedes Jahr etwa 100.000 Menschen nach Berlin ziehen, die zur Beschleunigung des sozialen Wandels beitragen. Die Frontstadtgeschichte spielt in ihrer Mitte nur als ironisches Zitat noch eine Rolle. Ein modischer Coffee-Shop heißt "Koffein-Kombinat", und der ein oder andere Club führt die Abkürzung VEB in seinem Schriftzug. In diesen neuen Milieus Fuß zu fassen, ohne sich ihren alten sozialen Welten gänzlich zu entfremden, darin besteht die Herausforderung für die rot-roten Partner. Ob die Koalition aber wach genug ist, die vielen sozialen und kulturellen Geschwindigkeiten Berlins auch nur zu registrieren, wird man bald wissen.

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