Die Politik als Nachzügler

Noch immer wird in Deutschland gern gejammert und geklagt, ob über "Heuschrecken", "Staatswirtschaft" oder den "Abstieg der Mittelschichten". In Wirklichkeit ist der deutsche Kapitalismus längst erfolgreich dabei, die Globalisierung zu meistern

Deutschland ist raus aus der Krise. Wir stecken in einem Aufschwung, der auch nach 2007 andauern kann. Wir haben zum ersten Mal seit sehr langer Zeit sogar die Chance, die über viele Jahre aufgebaute Sockelarbeitslosigkeit ein Stück zurückzudrängen. Spitzenmanager, die noch vor kurzem die Standortbedingungen beklagten, loben sie heute – und ziehen die Konsequenzen: 80 Prozent der im Handelsblatt Business Monitor Befragten wollen ihr Engagement im Inland stärken, und sogar neun von zehn stellen fest, dass sie in den nächsten drei Jahren keine Arbeitsplätze ins Ausland verlagern wollen.

Traumhafte Bedingungen für eine Regierung, die demografische, soziale und finanzielle Probleme lösen muss. Eine Steilvorlage für alle Politiker, die auf Fortschritt durch Veränderungen setzen. Doch Deutschland scheint sich an seinem eigenen Pessimismus so wund gerieben zu haben, dass es den Blick nicht mehr nach vorne richten kann.

Innerhalb kürzester Zeit sind die vielen aufgeregten Bücher und Magazingeschichten, die über den angeblichen Abstieg der deutschen Volkswirtschaft oder deren Degenerieren zu einer Basarwirtschaft geschrieben wurden, von der Wirklichkeit widerlegt worden. Doch bei vielen Deutschen hält die depressive Stimmung noch an. Man erwartet, dass es dem Land besser geht, doch gleichzeitig glauben mehr Menschen, dass dies nicht den Arbeitnehmern zugute kommen werde. Und die Politik traut sich nicht, laut das Gegenteil zu sagen.

Jetzt ist nicht mehr vom Abstieg Deutschlands die Rede, sondern vom Abstieg der Mittelschichten. Eine Debatte kann man das kaum nennen, weil nur zu einem sehr geringen Teil eine rationale Auseinandersetzung über Fakten erfolgt. Dominierend ist eine Form der Kolportage, die man früher nur aus eilig zusammengeschusterten TV-Beiträgen kannte: Da werden zwei, drei Betroffene interviewt, ein paar Zahlen dazugemischt und dann kräftig extrapoliert – fertig ist der Trend.

Die Fakten sind längst andere

Beispielhaft ist die folgende Magazingeschichte, die kurz vor Weihnachten 2006 erschien: „Die Angst der Deutschen vor dem sozialen Abstieg hat handfeste Gründe. Die Zahl der unsicheren Beschäftigungsverhältnisse und befristeter Verträge nimmt in allen Branchen stetig zu ... Jeden Tag kommen Meldungen über Firmen, die sparen, streichen, schließen. Allein im vergangenen Jahr wurden im Schnitt täglich 1.000 Arbeitsplätze vernichtet ... Zwischen 2003 und 2005 sind hierzulande 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs verloren gegangen. Zwar brummt jetzt die Wirtschaft wie seit sechs Jahren nicht mehr, ein kräftiger Aufschwung ist da – aber fast jeder spürt, wie der Wert der eigenen Arbeitskraft zerbröselt: Der Boom geht am Geldbeutel vorbei.“

Die Autoren hatten sicher keinen bösen Willen. Aber man muss schon daran erinnern, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens die Fakten längst andere waren: Seit geraumer Zeit steigt die Beschäftigung wieder. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat zwischen Oktober 2005 und Oktober 2006 um 400.000 zugenommen. Und das geht nicht etwa auf prekäre Jobs, auf geringfügig Beschäftigte zurück, denn deren Zahl hat im gleichen Zeitraum um fast 100.000 abgenommen.

Entsprechend könnte man viele andere der regelmäßig auftauchenden Argumente widerlegen, ob es nun die angeblich sinkenden Realeinkommen sind oder die Behauptung, die Reichen in Deutschland würden immer reicher und die Mitte immer ärmer; die Einkommensverteilung verschlechtere sich spürbar (was nicht der Fall ist, sie ist bei uns nach wie vor sehr ausgeglichen); das Risiko, arbeitslos zu werden, habe auch bei den Qualifizierten deutlich zugenommen (falsch, es ist unverändert gering); oder die Mittelschichten liefen Gefahr, in die Armut abzurutschen (gerade in der unteren Mittelschicht ist das Gegenteil richtig: das Risiko hat abgenommen).

Doch irgendwann stellt man fest: Wenn Menschen die fixe Idee im Kopf haben, die deutsche Gesellschaft falle auseinander, es gehe immer ungerechter zu und jedem drohe das Schicksal, wegen Hartz IV bis zum Lebensende von 345 Euro im Monat leben zu müssen, wollen sie vielleicht gar nicht über Tatsachen diskutieren, die diese Idee erschüttern könnten. Um sich aus ihrer Angststarre zu lösen, müssen sie wohl ein paar Jahre selber erleben, dass es anders zugeht.

Die neuen Aufgaben der Politik

Nur dürfen sich alle diejenigen nicht aus der rationalen Debatte davonstehlen, deren Aufgabe es ist, wirtschaftliche und politische Entscheidungen zu fällen oder darauf Einfluss zu nehmen, und sei es auch nur als journalistischer Beobachter. Nachdem wir uns nun ein paar Jahre mit diversen Gräuelmärchen vergnügt haben, bei denen die einen ein völlig erstarrtes Deutschland in der Staatswirtschaft versacken, die anderen die Heuschrecken des enthemmten Kapitalismus ihr Unwesen treiben sahen, ist es Zeit für eine weniger apokalyptische Bestandsaufnahme.

Die deutsche Volkswirtschaft hat sich stark verändert, aber es ist eine Veränderung zum Positiven. Sie ist internationaler geworden, hat viel von der undemokratischen Willkür der alten „Deutschland AG“ verloren, hat den lähmenden Korporatismus zumindest zum Teil überwunden und in vielen Bereichen dort Marktbedingungen einziehen lassen, wo früher der Staat entschieden hat. Wer es gerne plakativer hat: Deutschland ist dabei, die Globalisierung zu meistern und schafft gleichzeitig die Voraussetzungen für höheres Wachstum.

Die Politik ist bei dieser grundlegenden Veränderung der Nachzügler. Ich beziehe mich dabei nicht allein auf die mit Hingabe beschworenen „Reformen“. (Warum redet man in Deutschland eigentlich immer nur über die Sozialsysteme, wenn es um Reformen geht? Reicht unsere Phantasie immer noch nicht weiter als die des alten Bismarck?) Die Politik ist Nachzügler, weil viele handelnde Politiker noch nicht wahrhaben wollen, dass erstens veränderte Bedingungen der Politik nicht etwa bedeuten, dass Politik insgesamt abgedankt hat; und dass es zweitens eine politische Gestaltungsaufgabe ist, die weitgehend ohne die Politik zustande gekommenen Entwicklungen in der Unternehmenswelt und in der Zivilgesellschaft so mit staatlichem Handeln abzustimmen, dass ein stimmiges Ganzes mit maximaler Wohlfahrt entsteht.

Deutschland, offene Volkswirtschaft

Gehen wir etwas genauer auf die Veränderungen an der ökonomischen Basis ein. Das lohnt sich, weil diese zu einem guten Teil die Verunsicherung erklären, die sich in Thesen wie der vom Absturz der Mittelschichten äußert. Die deutsche Volkswirtschaft ist in wenigen Jahren von einer lediglich für den Handel geöffneten, im Übrigen aber für das Ausland weitgehend geschlossenen Veranstaltung zu einer geworden, die auch ausländische Investoren und sogar feindliche Übernahmen durch Unternehmen aus dem Ausland zulässt.

Bis zum Kauf von Mannesmann durch Vodafone war das noch ein Tabu. Heute sind sogar Finanzinvestoren, lange als „Geierfonds“ oder eben „Heuschrecken“ verfemt, hoch willkommen. Die Bundesrepublik ist zu einem der wichtigsten Zielorte für ausländische Direktinvestitionen geworden. Das stärkt die Kapitalausstattung hiesiger Unternehmen, schafft neue Arbeitsplätze, verbreitert die technologische Basis und bringt nicht zuletzt den staatlichen Kassenwarten vom Bundesfinanzminister bis zu den Kämmerern der Städte neue Abnehmer bei Privatisierungen.

Die deutschen Unternehmen haben sich aber nicht nur für ausländisches Kapital geöffnet, sondern auch für neue Managementmethoden. Ich meine damit nicht kurzfristige Modeerscheinungen, sondern lange, stabile Trends: etwa Kostenkontrolle, Konzentration auf das Kerngeschäft, mehr Mitarbeiterverantwortung, Auslagerung von Tätigkeiten, die andere besser machen können. Die damit verbundenen Umstrukturierungen haben die deutschen Unternehmen ungemein profitabel und erfolgreich gemacht.

Warum uns die Arbeit nicht ausgehen wird

Den Belegschaften wird dabei einiges abverlangt: In tausenden Betriebsvereinbarungen haben sie sich auf Flexibilisierungen eingelassen, die oft Mehrarbeit oder den – vorübergehenden oder permanenten – Verzicht auf übertarifliche Leistungen bedeuten. Dies ist aber der Grund dafür, dass heute die oben erwähnten 90 Prozent der Manager sagen können: Nein, in den nächsten drei Jahren verlagern wir keine Arbeitsplätze ins Ausland. Es ist auch der Grund dafür, dass Deutschland in der Globalisierung bestehen kann, trotz des Voranstürmens von China und Indien sogar noch Marktanteile gewonnen hat.

Und es ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass trotz aller Unkenrufe das Normalarbeitsverhältnis und die Vollzeitbeschäftigung nicht am Aussterben sind. Vor zwanzig Jahren lag die Zahl der Vollzeitbeschäftigten nur ungefähr fünf Prozent höher als heute, doch zusätzlich haben wir heute doppelt so viele Teilzeitbeschäftigte wie damals. Die Arbeit geht uns also nicht aus, sie wandert auch nicht ins Ausland ab. Und anders als manch andere hoch entwickelte Volkswirtschaft gibt es bei uns eben gerade keinen Trend zu working poor, wie eine brandneue Studie der Uni Köln zeigt.

Bei den Mitarbeitern kommt eine Botschaft an, die zwiespältiger ist: Sie verstehen, dass Internationalisierung keine Gefahr, sondern der Schlüssel zum Erfolg, die Voraussetzung für den langfristigen Bestand der eigenen Arbeitsplätze ist. Sie fürchten aber auch, dass Unternehmenserfolg und sogar ein positiver Saldo bei der Beschäftigungsentwicklung längst keine Bestandsgarantie für bestimmte bestehende Abteilungen und Jobs sind.

Diese modernen, voll im internationalen Wettbewerb stehenden Arbeitnehmer haben in der heutigen Bundesrepublik übrigens kaum eine politische Vertretung: Ihr Lebensgefühl, ihre Anliegen wie Weiterbildung, mehr Chancen für den gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Kinder kommen in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion praktisch nicht vor. Wenn Kurt Beck einen spröden Satz wie „Leistung muss sich wieder lohnen“ von sich gibt, ist das schon der Höhepunkt der Annäherung an die Realität – bleibt allerdings folgenlos. Wie in einer Endlosschleife wird über Hartz IV und die Rente gesabbelt – die Arbeitnehmer, deren Wertschöpfung all das erst ermöglicht, sind dagegen ein Nicht-Sujet. Auch das erklärt die Enttäuschung über Politik.

Erstes Zwischenfazit: Wir haben noch nicht verstanden, dass der alte Tanker Bundesrepublik generalüberholt wurde. Das ist mit Anstrengungen verbunden, aber wir haben wieder ordentlich Fahrt aufgenommen und sind eines der Dickschiffe auf den Weltmeeren. Andere – siehe Frankreich – rosten vor sich hin und müssen erst noch ins Trockendock.

Die Reaktion der Politik auf den neuen deutschen Kapitalismus ist schizophren. Anfangs war sie für mehr Marktwirtschaft, hat die Lufthansa privatisiert, die Telekommärkte geöffnet. Das Ergebnis waren sinkende Preise, technologische Sprünge und mehr Beschäftigung bei neuen Wettbewerbern. Doch inzwischen haben viele Politiker das Vertrauen verloren, dass richtig gestaltete Märkte das Wachstum begünstigen. Die von der Bundesregierung gegen den Willen des Bundeskartellamtes erzwungene Fusion von Eon und Ruhrgas ist der beispielhafte Sündenfall. Nur langsam ist die Erkenntnis gereift, dass „nationale Champions“ zwar den Wettbewerb unterbinden, aber nicht die Versorgungssicherheit gewähren.

Viele Parteienvertreter fremdeln noch

Viele Parteienvertreter treibt die Sorge um, Politik werde handlungsunfähig, das Diktat der Ökonomie sei vorgezeichnet. Angesichts einer Staatsquote, die immer noch nahe an 50 Prozent liegt, ist das eigentlich ein Witz. Aber ein Quäntchen Wahrheit steckt ja in der Sorge: Bundes- und Landesregierungen können nicht mehr wie früher mit Subventionen Arbeitsplätze schaffen oder erhalten, mit Bürgschaften Unternehmen flott machen, mit staatseigenen Banken ganze Firmenimperien schmieden, mit Umverteilung Loyalitäten der Wähler erkaufen.

Die Rolle des Staates hat sich geändert, und die Politiker fremdeln noch mit ihrer neuen Aufgabe: gute Rahmenbedingungen für funktionierende Märkte zu schaffen; alles auf das Soziale zielende Staatshandeln darauf zu überprüfen, ob es die Chancen derer da unten verbessert, nach oben zu kommen; die Wissensgesellschaft voranzubringen; Funktionen abzugeben, die die Zivilgesellschaft besser erledigen kann.

Bürgerschaftliches Engagement ist in Deutschland unglaublich stark geworden. Millionen von Deutschen arbeiten ehrenamtlich für den sozialen Zusammenhalt ihrer Gesellschaft. Doch jede staubige Konferenz einer Regionalpartei findet mehr Aufmerksamkeit. Und der Staat misstraut der Zivilgesellschaft, weil sie sich behördlichen Anordnungen entzieht. Er kommt mit ihr am liebsten nur dann in Kontakt, wenn es um steuerliche Förderung geht.

Unternehmen, greift in die Debatte ein!

Die andere verkannte Seite bildet das Engagement von Unternehmen, Corporate Citizenship oder Corporate Social Responsability. In Deutschland wird das meist als durchsichtiger PR-Gag belächelt, wenn es nicht völlig unbekannt ist. Dabei reden wir hier über die notwendige Ergänzung des neuen Kapitalismus: Unternehmen, die nicht mehr von der Politik gegängelt werden, die teilweise mehr Gelder bewegen als europäische Kleinstaaten, müssen mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Das fängt bei der Erklärung der laufenden Veränderungsprozesse an und hört bei der Umgestaltung aller Unternehmensprozesse im Sinne der Umwelt- und Sozialverträglichkeit noch nicht auf. Viele deutsche Unternehmen leisten hier Vorbildliches, doch man hört wenig von ihnen. Was auch daran liegt, dass sie noch nicht verstehen, wie wichtig es ist, auch außerhalb ihrer engeren Community in die Debatte einzugreifen.

Zweites Fazit: Der neue deutsche Kapitalismus ist leistungsfähiger geworden, führt aber nicht zu einer rücksichtslosen Ellenbogengesellschaft. Sozialer Zusammenhalt wird allerdings nicht mehr allein durch staatliches Handeln bewirkt. Neben die alten Sozialsysteme treten völlig neue Formen, die Inklusion gewährleisten. Das ist neu, teils anstrengend und gewöhnungsbedürftig. Aber es ist wahrscheinlich die beste Antwort auf die Frage vieler Deutscher, wie Freiheit und Sicherheit zusammen gehen können. Die Politik muss ihre Rolle in diesem neuen Umfeld allerdings noch lernen.

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