Die ostdeutsche Graswurzelrevolution

Vordergründig ist die NPD bei der Bundestagswahl gescheitert. Doch den Extremisten von rechts konnte kaum etwas Besseres passieren. Abseits öffentlicher Aufmerksamkeit werkeln sie unverdrossen an der Eroberung der Provinz - mit viel Erfolg

Die NPD hat bei dieser Bundestagswahl 1,6 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinigen können. Das ist zwar das Vierfache von 2002, aber – auf den ersten Blick – doch ein schwaches Ergebnis. Etwas Besseres konnte der NPD kaum passieren. Jetzt werden sich alle zufrieden zurücklehnen und glauben, das Problem habe sich erledigt. Die Mahner und Warner werden mahnen und warnen, andere werden sich darüber lustig machen. Und die NPD kann in Ruhe weiterarbeiten. In einigen Regionen Ostdeutschlands ist sie auf einem schleichenden Vormarsch, dort ist längst die Demokratie in Gefahr.

Der vorgezogene Wahltermin hatte auch bei der NPD die Planungen über den Haufen geworfen. Bis zum Herbst 2006 wollte sie eigentlich versuchen, bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in ihrer alten Hochburg Baden-Württemberg über die Ein-Prozent-Grenze zu springen, um mit staatlichen Geldern die Kassen aufzufüllen. Mit diesem finanziellen Polster – so lautete der Plan – sollte dann ein rabiater Bundestagswahlkampf geführt werden. Das bundesweite Aufsehen, das sie erhoffte (und ein möglicher Erfolg der DVU, der man den Wahlantritt in Sachsen-Anhalt im Frühjahr 2006 überlassen hat) sollte der NPD Rückenwind geben für die gleichzeitig stattfindende Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern.

Dieses Szenario wurde durchkreuzt. In einem kurzen und zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder polarisierten Wahlkampf hatte es die NPD schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Die Ex-PDS zog Proteststimmen an, und ihr Spitzenkandidat Oskar Lafontaine zielte in seinen Reden („Fremdarbeiter“) sogar direkt auf rechte Wähler. Hilfreich war auch, dass wegen des vorgezogenen Wahltermins vielen anderen Kleinparteien die Zeit fehlte, die vorgeschriebenen Unterstützungsunterschriften zu sammeln; die NPD als Landtagspartei war von dieser Pflicht befreit. Nun setzt die NPD große Hoffnungen in Angela Merkel. Eine CDU-geführte Regierung, so das Kalkül, werde bei den sozialen Sicherungssystemen weiter kürzen und weitere Wähler für rechtsextreme Weltdeutungen empfänglich machen. Gut möglich, dass sich dann bei den Wahlen 2006 erste Enttäuschungen bereits zu Mandaten machen lassen.

In Sachsen holte die NPD 4,9 Prozent

Jedenfalls versuchte die NPD bei der vorgezogenen Bundestagswahl den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde gar nicht erst. Schnell schaltete sie um und kämpfte unter anderem in der Sächsischen Schweiz, im Erzgebirge, im Spreewald und in Vorpommern um Direktmandate. Die gewann sie zwar auch nicht, aber für die Partei war dies die goldrichtige Strategie: Sie konzentrierte ihre Ressourcen auf genau jene Regionen, in denen sie bereits stark war, in Sachsen zum Beispiel holte sie 4,9 Prozent. Dort machte sie ihre Kader weiter bekannt, in der Sächsischen Schweiz zum Beispiel trat ihre Galionsfigur an, der Fahrlehrer Uwe Leichsenring – und errang mit 16,1 Prozent das Spitzenergebnis. So verankert sich die Partei fester in der dortigen Wählerschaft. Ähnlich hohe Ergebnisse erzielte die NPD in einigen Gemeinden in Vorpommern, in der Hälfte der Wahlbezirke von Anklam zum Beispiel kam sie auf über 11 Prozent, in ganz Ueckermünde auf 9 Prozent. Im kommenden Jahr stehen dort Landtagswahlen an, bei der Bundestagswahl 2005 kam die NPD landesweit schon auf 3,5 Prozent.

Solche Schwerpunktwahlkämpfe bringen die NPD näher an ihr Ziel, sich dauerhaft an der Basis der Gesellschaft zu etablieren. Berlin ist weit weg. Gefährlich ist die Partei nicht, weil sie in den Bundestag oder gar irgendwann ins Kanzleramt einziehen könnte. Auch in den Landtagen werden Holger Apfel und seine Kameraden „das System“ kaum stürzen können. Gefährlich ist die NPD, weil sie an einer Faschisierung der ostdeutschen Provinz arbeitet. In einigen Gegenden ist sie schon ziemlich weit gekommen, überregional interessiert das kaum jemanden. Solange sie bei den großen Wahlen unter fünf Prozent bleibt, scheint ja alles in Ordnung.

In Teilen Sachsens, aber auch in Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gelten Freiheiten und Grundrechte heute nur noch eingeschränkt. „National befreite Zonen“ gibt es dort nicht, aber Gegenden, die von den Organen des Rechtsstaates nur noch mühsam erreicht werden. In denen rechte Jugendcliquen vorgeben, was auf der Straße erlaubt ist und was nicht. Und wo in den Köpfen der Bevölkerung ein völkisches Weltbild herrscht – übrigens weit über die Wählerschaft der NPD hinaus und praktisch unwidersprochen. Dort wird die Jugend dauerhaft rechtsextrem sozialisiert. Misst man dort Rechtsextremismus nicht in Wählerstimmen, sondern an den Einstellungen, kommt man leicht auf Ergebnisse von 30 Prozent. Wer zum Beispiel mit einer Afrikanerin verheiratet ist, muss entweder sehr tapfer sein, um den Alltag zu ertragen – oder er geht. Stück für Stück wird so die Gesellschaft homogener, kommt dem völkischen Ideal näher.

Vielerorts hat die NPD 2004 ohne größeren Widerstand die Montagsdemonstrationen gekapert; in einigen Städten wird noch heute jede Woche protestiert, es kommt zwar nur noch ein Häufchen Leute, aber die Rechtsextremisten haben das Thema besetzt. In einem Ort in der Oberlausitz wird der traditionelle Maibaum von der dortigen Neonazi-Kameradschaft aufgestellt. Ein Bürgermeister aus Vorpommern erzählt, die einzigen Jugendlichen, die in seinem Städtchen überhaupt noch gesellschaftlich aktiv seien, fänden sich bei den Rechten. Viele frühere Skinheads kommen jetzt in ein Alter, wo sie selbst Kinder haben. Schon tauchen in den ersten Elternvertretungen rechte Eltern auf, die mehr Volkslieder im Musikunterricht fordern. Zur Schöffenwahl im Jahr 2004 rief ein Neonazi-Kader seine Leute auf, die Gerichte zu unterwandern. Weil man dort „die Möglichkeit hat, sein individuelles Rechtsempfinden zumindest teilweise in den Gerichtsbeschluss einfließen zu lassen“.

Gegen „den Westen“ und „die da oben“

Aus der ostdeutschen Provinz wandern die Engagierten und die besser Gebildeten ab. Von den Zurückbleibenden mag sich ein Großteil nicht engagieren, weil sie die politische Ordnung noch immer als vom Westen übergestülpt empfinden – und die von Helmut Kohl zugesagten blühenden Landschaften hat sie ihnen ja auch nicht gebracht. Das war der Grund, warum im Sommer 2004 die Proteste gegen die rot-grünen Reformen in Ostdeutschland derart maßlos wurden. Hartz IV wird dort empfunden als der endgültige Bruch des Wohlstandsversprechens der Bundesrepublik. Das hat die NPD in Sachsen ausgenutzt, gekonnt vermischt sie Ressentiments gegen „den Westen“, gegen „die da oben“ und „die Ausländer“. Hätte es damals in Ostdeutschland einen geschickten und glaubwürdigen Anführer gegeben, die Welle wäre nicht so schnell verebbt. Der Aufruhr hätte für mehr gereicht als für zwölf Mandate im sächsischen Landtag.

In der bundesdeutschen Politik, in den Medien, in der Öffentlichkeit fühlen sich die Ostdeutschen nur als Zuschauer (möglicherweise kann eine Kanzlerin Angela Merkel etwas daran ändern). Aber bisher ist es den großen Parteien nicht gelungen, ostdeutsche Identität und Erfahrungen aufzunehmen, die PDS schafft es immer weniger, die NPD immer mehr. Sie macht sich die autoritären Einstellungen zunutze, die in den neuen Ländern weit verbreitet sind, und knüpft clever an positive DDR-Erfahrungen an. „Alles für das Wohl das Volkes“, hieß es damals. Die völkischen Konzepte der NPD klingen so ähnlich.

Die Institutionen, die im Westen die Gesellschaft zusammenhalten, sind im Osten schwach. Die Kirchen haben kaum Mitglieder, die „Volksparteien“ sind dort gar keine, die Distanz zum Politzirkus von Westerwelle, Christiansen & Co. ist noch größer. Ein „68“ mit seiner befreienden Wirkung, eine Liberalisierung der Gesellschaft hat es in den neuen Ländern nicht gegeben. Im Herbst 1989 erlernte die Bevölkerung die Demokratie, doch bald ging es nicht mehr um Redefreiheit, sondern um Bananen; und am 3. Oktober 1990 war der Aufbruch ganz vorbei. Eine Selbstverständigung der Gesellschaft über demokratische Werte oder Menschenrechte fand nicht statt. Eine Verfassungsdebatte aus Anlass der Wiedervereinigung lehnte das westdeutsche Establishment ab. Das nutzt die NPD heute demagogisch aus: Das Grundgesetz sage doch selbst, rechtfertigen sich die NPD-Spitzen scheinheilig, dass es nicht für die Ewigkeit gilt, sondern nur, bis eine endgültige Verfassung „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Nur darauf arbeite man hin.

Von Gramsci lernen heißt siegen lernen

Die NPD ist die älteste rechtsextremistische Partei Deutschlands, aber sie ist auch die modernste. Erstens hat ihr Programm die Ideen der Neuen Rechten aufgesogen. Mit völkischen Sozialismus-Konzepten und einer ethnopluralistischen Begründung von Ausländerfeindlichkeit kann sie über ihre alte Kernklientel hinaus attraktiv sein. Die NPD und ihre Weltanschauung mögen in den Parlamenten isoliert sein, in der Bevölkerung ist sie es nicht. Und durch ihre Graswurzelrevolution in Ostdeutschland prägt sie schon heute die Lebenswelt eines Teils der Bevölkerung mit. Für die Sozialisierung von Menschen und eine langfristige Verankerung der rechten Ideologie ist dies viel wichtiger als Bundestagsmandate. Frei nach Antonio Gramsci: „Ohne kulturelle Hegemonie, ohne Revolution im Kopf, keine Revolution.“

Zweitens – und dies ist der größte Erfolg der Partei – hat es die NPD geschafft, sich an eine vitale Jugendkultur anzuschließen. Aus der kleinen Skinhead-Szene von vor fünfzehn, zwanzig Jahren ist heute eine breite Strömung mit verschiedenen Stilen und unterschiedlichen Graden von Eindeutigkeit geworden. Die NPD schwimmt mittendrin. Sie wächst aus diesem Milieu und fördert es. Sie agiert an der Schnittstelle von Jugendkultur, Ideologie und parlamentarischer Politik. Mit einem Durchschnittsalter der Mitglieder von 37 Jahren dürfte sie jünger sein als alle anderen Parteien. In Wahlen holt sie bei den (eher schlecht gebildeten) Jungen die meisten Stimmen.

Drittens setzt die NPD seit einigen Jahren auf aktuelle Themen. Zwar ist das Dritte Reich immer noch das Identitätsthema der Partei; so viele Demonstranten wie zum jährlichen Rudolf-Hess-Marsch in Wunsiedel oder zum Gedenken an die Bombardierung Dresdens kann die NPD zu keinem anderen Thema mobilisieren. Aber die Proteste gegen den Irak-Krieg oder gegen Hartz IV haben ihr den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte ermöglicht. In etlichen Punkten ihres Programms ist die NPD nur der extreme Ausdruck einer durchaus weit verbreiteten Stimmung: die Abschottung gegen Fremdes, Vorrechte für die Alteingesessenen, eine protektionistische Wirtschaftsordnung oder ganz allgemein die Hoffnung auf weniger Unsicherheit und weniger Flexibilisierung, die Sehnsucht nach mehr Homogenität, Stabilität und der eigenen Scholle – all das könnte die NPD für breitere Teile der Bevölkerung attraktiv machen, auch in Westdeutschland.

In gewissem Sinne hat die Rede der NPD von „den Kartellparteien“ ja eine Berechtigung: Auf unterschiedliche Art und Weise werben alle etablierten Kräfte für die EU, für eine Öffnung der Grenzen und einen Rückzug des Staates – die Schröder-Clement-SPD ebenso wie die Merkel-Merz-CDU, FDP und Grüne sowieso, und auf gewisse Art auch die PDS.

Und CSU bedeutet ja nicht nur Lederhose, sondern auch Laptop. Wenn man dagegen mit der Komplexität der heutigen Welt nicht klarkommt, jeden Wandel als bedrohlich empfindet und sich radikal dagegen wenden will, drängen sich die NPD und ihre Ideologie geradezu auf. Die NPD hat eine Vision – eine schlimme zwar, aber sie hat wenigstens eine.

Das größte Problem der Partei ist ihr lausiges Personal. In der NPD sammeln sich – genau wegen ihrer Vision – gescheiterte Existenzen. Ihnen mangelt es oft an grundlegender politischer und sozialer Kompetenz. Den meisten fehlt es an der Geduld für eine langfristige Arbeit im vorpolitischen Raum, sie müssen immer gleich für „das Reich“ kämpfen. Nicht die anderen Parteien setzen der NPD Grenzen – sondern ihr eigenes Unvermögen. Doch je mehr Abgeordnetenmandate und Referentenposten die NPD zu verteilen hat, desto anziehender wird sie auch für Bessergebildete. An der Dresdener Landtagsfraktion lässt sich das bereits besichtigen. In den zwanziger Jahren gewann die nationalsozialistische Bewegung in dem Moment an Dynamik, als die arbeitslosen Akademiker der Weimarer Republik sie als Aufstiegschance entdeckten.

Entzauberung durch direkte Konfrontation

Kommt es nun auf Bundesebene zu einer Großen Koalition, wäre das für die NPD der vermutlich günstigste Wahlausgang. In einer solchen Konstellation gelang ihr zwischen 1965 und 1969 ein Höhenflug bei sieben Landtagswahlen. Der Eindruck politischer Alternativlosigkeit im System kann zur Suche nach Lösungen außerhalb des Systems führen.

Ende der sechziger Jahre, als die CDU Oppositionspartei wurde, begann der parlamentarische Niedergang der NPD. Aber damals war die NPD eine konservative Partei. Heute könnte ihr eher eine oppositionelle SPD Wählerstimmen streitig machen (oder eine populistische Linkspartei mit Gysi und Lafontaine an der Spitze). Jedenfalls müsste die SPD glaubwürdig einen sozialstaatlichen, globalisierungskritischen und kapitalismusskeptischen Kurs verfolgen, aber das ist keine Aufgabe mehr für Müntefering und Schröder, sondern für Andrea Nahles und Sigmar Gabriel.

Für die wirkliche Auseinandersetzung mit der NPD und ihrer Ideologie wäre damit aber noch nichts gewonnen, Wahlergebnisse sind immer nur ein Indikator. In der Sächsischen Schweiz wie überall in der Provinz ist es relativ egal, was in Berlin passiert. Die Straßen und Marktplätze, die Gemeinderäte, Vereine, Schulen sind wichtig. Nur in der direkten Konfrontation kann die NPD entzaubert werden.

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Sächsischer Landtag, im April 2005, eine Schulklasse ist zu Besuch. Zum Programm gehört immer auch ein Treffen mit Abgeordneten, die Schüler haben sich je einen von CDU, SPD und NPD gewünscht. Der Vertreter der CDU lässt ausrichten, er komme eine halbe Stunde später. Der SPD-Mann rief eben an, er sei auf dem Weg. Der NPD-Abgeordnete ist schon da – Matthias Paul, 28, die Fraktion nutzt ihn gern als Aushängeschild für die Jugend. In launigen Worten stellt er sich den Schülern vor. Er denkt, das würde ein Heimspiel.

Ein paar Minuten später fragt ihn ein Mädchen nach dem Grundsatzprogramm der NPD, was genau denn gemeint sei mit dem Satz: „Deutschland ist größer als die Bundesrepublik!“ Paul sagt, das sei nicht sein Fachgebiet, aber die Partei sei der Auffassung, „dass die Aufteilung des Territoriums nach dem Krieg völkerrechtlich unzulässig war“. Das Mädchen hakt nach, was denn daraus folge. Na ja, schlingert Paul weiter, „das ist in unserer Partei sehr umstritten“. Die Schülerin bohrt: „Sie wollen von Polen die wirtschaftsstarken Gebiete zurück, oder?“ Der NPD-Mann stottert: „Das ist ein Punkt, wo ich auch selber, pfffffff, also, wie will man das regeln?“ Das Mädchen: „Aber es steht doch in Ihrem Programm!?“ Matthias Paul murmelt, da sei auf dem Parteitag lange drüber diskutiert worden, und er erinnere sich nicht mehr so genau ... Paul ist sichtlich erleichtert, dass in diesem Moment der SPD-Abgeordnete eintrifft und das Thema gewechselt wird.

Der Text ist eine aktualisierte Fassung der Einleitung von Toralf Stauds Buch „Moderne Nazis: Die neuen Rechten und der Aufstieg der NPD“, Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2005, 232 Seiten, 8,90 Euro.

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