Die Obama-Doktrin

Als Barack Obama gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit den Friedensnobelpreis bekam, waren das Vorschusslorbeeren, die es erst noch zu verdienen galt. Zweifel an der Entscheidung nahmen zu, als die außenpolitischen Erfolge ausblieben. Jetzt hat Obama mit seiner Öffnung gegenüber dem Iran ein sicherheitspolitisches Konzept entwickelt, mit dem er sich der Auszeichnung würdig erweisen könnte

Im Herzen von Teheran liegt die ehemalige amerikanische Botschaft, die im Jahr 1979 Schauplatz der 444 Tage andauernden Geiselnahme von 52 US-Diplomaten war. Eine Freiheitsstatue mit Totenkopf und Wandbilder mit anti-amerikanischer Propaganda stellen bis heute die tiefsitzende Feindseligkeit gegen den vermeintlichen „Satan“ aus dem Westen zur Schau. Seit 36 Jahren steht der Iran ganz oben auf der amerikanischen Liste der Terror unterstützenden Staaten. Weil der Iran verdächtigt wird, mit seinem Atomprogramm nicht nur friedliche Ziele zu verfolgen, wird das Land auf UN-Beschluss so hart sanktioniert wie derzeit kein anderes.

Die Hipster von Teheran

Ein paar Schritte vom ehemaligen Botschaftsgelände entfernt kann man Entdeckungen machen, die nicht so recht zu den gängigen Klischees über den hasserfüllten Mullah-Staat passen: In Galerien hängt anspruchsvolle, zeitgenössische Kunst, die auch in Berlin oder New York Interessenten finden würde. In Cafés sitzen Jugendliche im Hipster-Look, die gekonnt Internetsperren umgehen, um ihr Facebook-Profil zu aktualisieren. Trotz Wirtschaftssanktionen sind Smartphones im Iran omni­präsent. Die jungen Frauen sind auffällig geschminkt; das Kopftuch – von der Sittenpolizei akribisch überwacht – wird wie ein elegantes Accessoire am hinteren Drittel des Kopfes getragen. Viele der Frauen sind gut ausbildet, 60 Prozent der Studierenden an Irans Universitäten sind Frauen. Die europäische und amerikanische Kultur erfreuen sich großer Beliebtheit, besonders unter den Jüngeren.

Auf der Straße wird man als Ausländer neugierig angesprochen – zumeist in gutem Englisch. Gesprächsstoff findet sich schnell: Die aktuelle Aufstellung der deutschen Nationalmannschaft gehört in dem fußballbegeisterten Land zum Allgemeinwissen. Über Satellitenfernsehen haben viele Iraner heimlich die amerikanische Geheimdienst-Kultserie Homeland gesehen und diskutieren leidenschaftlich über den Showdown der jüngsten Staffel, die in Teheran spielt. Über die Weltpolitik ist man trotz Zensur im Allgemeinen gut informiert. Die jungen Iraner zählen zu der am besten ausgebildeten Generation in der Geschichte des Landes. Sie verzweifeln an den Repressionen und dem ökonomischen Missmanagement ihrer Regierung. Nach Wahlmanipulationen waren es 2009 vor allem sie, die sich als „Grüne Bewegung“ formierten, um für politischen Wandel zu kämpfen. Hunderte starben, Tausende wurden verhaftet.

Der Hetzer Mahmud Ahmadinedschad wurde inzwischen durch den moderaten Hassan Rohani abgelöst. Weil dieser versprochen hatte, den Iran aus der Isolation zu führen, konnte er sich mit seinem pragmatischen Reformkurs bei der Präsidentschaftswahl überraschend gegen die Hardliner durchsetzen. Als bei den Atomgesprächen in Lausanne zwischen den UN-Vetomächten, Deutschland und dem Iran ein Durchbruch erzielt wurde, feierten junge Iraner auf den Straßen. Als Präsident Barack Obama als Zeichen der Versöhnung eine Videobotschaft zum iranischen Neujahrsfest sendete, posteten Tausende junger Iraner Selfies mit dem Fernsehbild des amerikanischen Präsidenten im Hintergrund. Sie sind jene Generation, mit der die Vereinigten Staaten die Chance haben, nach fast vier Jahrzehnten des Kalten Krieges eine friedliche Annährung zu schaffen – und die Obama endlich zu einem durchschlagenden Erfolg in der Außenpolitik verhelfen könnte.

Obama konzentrierte sich auf die Innenpolitik

Rückblende: Change war das Schlüsselwort, als Barack Obama sein Amt als Präsident antrat. Vier Jahre später lautete sein Slogan Forward. Um Wandel und Fortschritt zu bringen, konzentrierte Obama sich vor allem auf zwei zentrale innenpolitische Herausforderungen: die Wiederbelebung der amerikanischen Wirtschaft und die Gesundheitsreform. Mit dieser sollte Obama schließlich erreichen, woran mehrere Präsidenten vor ihm gescheitert waren: so gut wie jedem Amerikaner eine erschwingliche Krankenversicherung zu ermöglichen. Mit Obama verbanden viele die Hoffnung, dass die von der Bush-Regierung schwer lädierte Reputation der USA wiederhergestellt werden könnte. Dass Obama die Kriegsabenteuer seines Vorgängers im Irak und in Afghanistan zu einem Ende brachte, kann ihm sicherlich zugutegehalten werden. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass sich ein anderer Präsident in dieser Frage grundsätzlich anders verhalten hätte.

Die Tötung Bin Ladens ließ Kritiker verstummen

Obamas außenpolitisches Handeln war von dem Bemühen geprägt, kein politisches Kapital für internationale Krisen aufs Spiel zu setzen, das ihm dann womöglich für seine innenpolitische Agenda gefehlt hätte. Das Beispiel Lyndon B. Johnsons dürfte ihn gewarnt haben. Johnson ist wohl deshalb nicht als einer der großen amerikanischen Präsidenten in die Geschichte eingegangen, weil er seine ehrgeizige innen­politische Agenda, den Kampf für Bürgerrechte und gegen die Armut, aufgrund des eskalierenden Vietnamkriegs nur teilweise verwirklichen konnte. Eine solche Ablenkung wollte Obama um jeden Preis vermeiden. Im Kampf gegen den Terror führte er deshalb eine kaum weniger harte Linie als sein Vorgänger.

Die Tötung Osama Bin Ladens ließ einige Kritiker verstummen, die zuvor versucht hatten, dem Präsidenten ein Image der Schwäche im Kampf gegen den Terrorismus anzuheften. Massenüberwachung widerstrebt zwar den traditionellen amerikanischen Freiheitswerten, aber entgegen Obamas Wahlversprechen wurde das Gefangenenlager Guantanamo nicht geschlossen. Dort werden nun keine Gefangenen mehr gefoltert. Und statt mutmaßliche Terroristen als „ungesetzliche Kombattanten“ ohne rechtliche Grundlage dauerhaft festzusetzen, wie es noch unter George W. Bush praktiziert wurde, werden diese nun von Drohnen exekutiert. Die New America Foundation schätzt die Zahl der Toten durch amerikanische Drohnen in Pakistan und Afghanistan auf über 3000. Um Stärke zu zeigen, muss Obama einen hohen moralischen Preis zahlen.

Ohne den Druck der Wiederwahl blühen amerikanische Präsidenten in der zweiten Amtsperiode normalerweise außenpolitisch auf. „Nach meiner Wiederwahl werde ich mehr Beinfreiheit haben“, erklärte Barack Obama 2012 seinem damaligen russischen Kollegen Dmitri Medwedew. Doch es kam zunächst anders. Mit der Unterzeichnung des Abrüstungsabkommens „New Start Treaty“ versuchte Obama einen „Neustart“ mit Russland – mit zunächst guten Resultaten. Seit der russischen Annexion der Krim jedoch sind die russisch-amerikanischen Beziehungen am kritischsten Punkt seit dem Ende des Kalten Krieges angelangt. Weitere Rückschläge betreffen die immer prekärere Lage in Afghanistan und das Erstarken des „Islamischen Staates“. An Glaubwürdigkeit verlor Obama zudem, als er gegenüber Syrien zunächst eine „rote Linie“ zog – und dann deren Überschreiten durch das Assad-Regime tatenlos hinnahm.

Auch der Nahost-Friedensprozess erweist sich für Obama als ernüchternd. Trotz intensiver Bemühungen gelang es weder der versierten Außenpolitikerin Hillary Clinton noch ihrem Nachfolger John Kerry, den Teufelskreis des gegenseitigen Misstrauens zwischen Israelis und Palästinensern zu durchbrechen. Die traditionell enge Beziehung zwischen Jerusalem und Washington ist in der Amtszeit von Premierminister Benjamin Netanjahu frostig geworden. Mehrfach stieß dieser den US-Präsidenten vor den Kopf: Mit immer mehr Siedlungen in den palästinensischen Gebieten verbaute er buchstäblich die von den USA und der EU angestrebte Zwei-Staaten-Lösung. Netanjahu hatte sich vor seiner Wiederwahl sogar explizit gegen einen palästinensischen Staat ausgesprochen. Persönlich getroffen hatte Obama besonders Netanjahus Warnung vor arabischen Wählern ausgerechnet zu einer Zeit, in der der erste afroamerikanische Präsident das 50-jährige Jubiläum der schwarzen Bürgerrechtsbewegung feierte. Zudem hatte Netanjahu auf Einladung der Republikaner und gegen den Wunsch des Weißen Hauses vor dem amerikanischen Kongress eine Rede gehalten, in der er das, was einmal Obamas außenpolitisches Erbe begründen soll, aufs Schärfste kritisierte: das Atomabkommen mit dem Iran.

Tatsächlich ist dieses Abkommen der wohl kontroverseste Schritt in Obamas bisheriger Außenpolitik. Es sieht vor, dass Sanktionen gelockert werden sollen, sofern der Iran sein Atomprogramm langfristig einfriert, Militäranlagen für Inspektionen öffnet und bereits angereichertes Uran abgibt. Dieser Schritt ist außenpolitisch höchst riskant, denn die Republikaner bekämpfen das Abkommen erbittert. 47 republikanische Senatoren haben in einer beispiellosen Aktion einen Brief an die „Anführer der Islamischen Republik Iran“ geschrieben und darauf hingewiesen, dass die Iraner das amerikanische Verfassungssystem offenbar nicht ganz verstanden hätten. Denn internationale Abkommen verhandelt zwar der Präsident, doch ohne Ratifizierung durch den Kongress bleibt es bei einer bloßen Regierungsvereinbarung, die der nächste Präsident „mit einem Federstrich“ aufkündigen könnte. Der iranische Außenminister Mohammed Sarif, der wie mehrere seiner iranischen Kabinettskollegen in den USA studiert hat, konterte, es existierten zahlreiche derartige Regierungsabkommen der Vereinigten Staaten; eine spätere willkürliche Aufkündigung wäre ein Präzedenzfall, der das Vertrauen in künftige Verhandlungen des amerikanischen Präsidenten erheblich erschüttern würde.

Obamas Annäherung an den Iran fiel nicht vom Himmel. Der islamischen Welt hatte er gleich im ersten Amtsjahr bei seiner Rede in Kairo symbolisch die Hand gereicht. Die ­Lockerungsübungen in Richtung Iran jedoch sind besonders brisant, weil der Iran im Dauerkonflikt mit den sunnitischen Saudis und anderen arabischen Staaten steht. Auch Israel wird vom Iran bedroht. In einem Interview erklärte Obama, wie sehr es ihn persönlich treffe, wenn man ihm unterstelle, die Sicherheit Israels zu unterminieren. Er sei davon überzeugt, dass eine Verhandlungslösung mit den Iranern der sicherste Weg ist, deren Nuklearprogramm zu entschärfen und ein Wettrüsten in der Region zu verhindern. Wenn dies scheitere, könne man immer noch zu Sanktionen und notfalls auch zu militärischen Mitteln zurückkehren. Der Publizist Thomas Friedman bezeichnete diese Politik der ausgestreckten Hand, die alternative Optionen jedoch nicht ausschließt, in der New York Times als „Obama-Doktrin“. Obama selbst erläuterte, ihm sei bewusst, wie tief die Verwerfungen zwischen dem Iran und Amerika seien. Er wisse auch, dass jede Entspannung selbst im besten Fall viele Jahre in Anspruch nehmen werde. Allerdings verfolgt die Teheraner Regierung heute nach Obamas Einschätzung ihre Ziele weitgehend rational – und diese seien vor allem ökonomischer Natur.

Der Iran könnte ein wohlhabendes Land sein

Mit seinen enormen Rohstoffvorkommen, seiner gut ausgebildeten Bevölkerung und diversifizierten Wirtschaftsstruktur könnte der Iran eines der wohlhabendsten Länder der Welt sein. Davon ist das Land jedoch noch weit entfernt: Heute wirkt der Iran eher wie eine leicht modernisierte DDR. Teheran ist eine triste Betonstadt und erstickt in einem Meer aus billigen iranischen Autos. Der Lebensstandard ist weitgehend bescheiden. Viele junge Leute wohnen bei ihren Eltern, weil sie sich keine Wohnung leisten können. Die Geburtenraten gehen zurück. Die Sanktionen haben das Land hart getroffen. Banktransaktionen mit dem Ausland sind nicht möglich, Reisende müssen viel Bargeld mit sich führen, weil Geldautomaten nicht funktionieren. Die Ölproduktion ist seit Beginn der Sanktionen um mehr als die Hälfte zurückgegangen und ein Investitionsstau in dreistelliger Milliardenhöhe türmt sich auf.

Noch schwerer als die Sanktionen wiegen allerdings Verstaatlichungen und Korruption – von vielen Iranern als „interne“ Sanktionen bezeichnet. Die Rohani-Regierung hat nun Wirtschaftsreformen eingeleitet. Die Lockerung der Sanktionen könnte einen Wirtschaftsboom entfachen – auch weil es mit einer großen, gut integrierten iranischen Diaspora in Europa und Amerika eine Brücke zum Westen gibt. Die Reintegration eines Landes mit etwa so vielen Einwohnern wie Deutschland und größeren Öl- und Gasvorkommen als Russland wäre auch für die Weltwirtschaft von Nutzen.

Aber selbst wenn eine Einigung bei den Atomverhandlungen keinen tiefgreifenden inneren Wandel des Iran bewirken könnte, würde sich ein Abkommen aus der Perspektive von Obama lohnen, weil es die Region sicherer machen würde. Von der New York Times zu seiner außenpolitischen Strategie befragt, antwortete Obama: „Was auch immer in der Vergangenheit passiert ist: Das Hauptanliegen der USA in der Region ist nun, dass die Menschen dort endlich in Frieden leben können, dass unsere Freunde nicht angegriffen werden, dass Kinder nicht von Fassbomben attackiert werden und es keine Vertreibungen gibt. Wir wollen, dass die Region in Frieden funktioniert. Ein Abkommen mit dem Iran wäre dafür ein guter Start.“

Der Iran ist einer der wenigen stabilen Staaten im Nahen und Mittleren Osten. Gelänge es, das Land auf dem Verhandlungsweg in Richtung Kooperation zu bewegen, wäre das ein gewaltiger Schritt. Ein Gradmesser für die Entwicklung wird sein, ob die anti-amerikanische Propaganda auf dem ehemaligen Botschaftsgelände nach vier Jahrzehnten von den Iranern übermalt wird und dort wieder amerikanische Diplomaten einziehen. Das wäre eine würdige legacy für den Friedensnobelpreisträger Barack Obama.«

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