Die neue gefährliche Klasse

Solange Sozialdemokraten die Ängste, Unsicherheiten und Träume des Prekariats nicht verstehen, werden sie immer wieder ins Taumeln geraten

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte besitzt die linke Mitte keine progressive Agenda mehr. Sie scheint zwei Prinzipien vergessen zu haben: erstens, dass jede progressive politische Bewegung auf der Empörung, den Bedürfnissen und den Hoffnungen der jeweils entstehenden Mehrheitsklasse gründet. Diese Klasse ist heute das Prekariat, dessen zerstörerischer Teil im August dieses Jahres während der Unruhen und Bränden in den britischen Städten zu beobachten war. Was wir unbedingt verstehen müssen: Es handelt sich dabei nicht um eine Unterklasse. Begreifen wir dies nicht, werden die Brände nur der Anfang einer ganzen Serie gewesen sein. Zweitens hat die linke Mitte vergessen, dass der Vormarsch progressiver Politik in Zeiten einer „Großen Transformation“ (Karl Polanyi), wie wir sie heute erleben, eng an den Kampf um Gleichheit gekoppelt werden muss.

Zunächst einmal müssen Politiker verstehen, was genau das Prekariat ausmacht, warum es wächst und was es will. Im Kern ist das Prekariat aus der Liberalisierung hervorgegangen, die die Globalisierung begleitete. Politiker sollten sich in Acht nehmen: Es handelt sich um eine neue gefährliche Klasse – noch nicht um das, was Karl Marx als „Klasse für sich“ bezeichnet hätte, aber doch um eine „Klasse im Werden“, zersplittert in frustrierte und verbitterte Gruppen, jedoch verbunden in ihren Unsicherheiten und Ängsten. Teile des Prekariats könnten sich der extremen Rechten zuwenden und tun das auch bereits. Andere drohen in anarchisches Verhalten oder politische Abstinenz abzudriften, wie wir es jüngst in London gesehen haben. Wieder andere sehnen sich nach einer grünen Sozialdemokratie, ohne sie finden zu können. Die Herausforderung besteht darin, eine politische Agenda zu verfolgen und eine Sprache zu sprechen, die eine Mehrheit rund um einen positiven progressiven Konsens versammelt.

Innerhalb des Prekariats zeichnet sich ein gemeinsames Bewusstsein von Verletzlichkeit ab. Das betrifft nicht nur Arbeitnehmer in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, wenngleich viele befristet Beschäftigte und Teilzeitkräfte, die in Call Centern oder ausgelagerten Firmen arbeiten, zum Prekariat gehören. Das Prekariat umfasst all diejenigen, die das Gefühl haben, ihr Leben bestehe aus Einzelteilen ohne Zusammenhang; die es nicht schaffen, ein Narrativ von einer erstrebenswerten Zukunft zu entwickeln und eine berufliche Karriere aufzubauen; die nicht in der Lage sind, in ihrem Leben Arbeit und Anstrengung mit Spiel und Freizeit auf nachhaltige Weise zu kombinieren.

Das prekarisierte Bewusstsein hat keine Anker

Flexible Arbeitsmärkte haben zur Auflösung von beruflich geprägten Gemeinschaften beigetragen. Das ist der Grund, weshalb das Prekariat heute von keiner sozialen Erinnerung mehr zehrt, von keinem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft voller Stolz und Status, Ethik und Solidarität. Alles ist flüchtig. Die Prekarisierten wissen, dass über ihren Beziehungen mit anderen Menschen kein shadow of the future schwebt, denn es ist unwahrscheinlich, dass sie mit diesen Leuten künftig noch etwas zu tun haben. Das prekarisierte Bewusstsein hat keine Anker, sondern flattert von Thema zu Thema und leidet in extremer Weise unter Aufmerksamkeitsstörungen. Ebenso nomadenhaft ist es im Hinblick auf die Beziehungen zu anderen. Und weil sie kein Berufsleben haben, beginnen die weniger gebildeten Prekarisierten, um sich zu schlagen – so wie während der anscheinend stumpfsinnigen Unruhen in Großbritannien. Die Zukunft ist ihnen gleichgültig, weil sie wissen, dass sie nichts zu verlieren haben.
Das Prekariat besteht nicht bloß aus Opfern – auch viele gebildete Jugendliche gehören dazu, die ganz bewusst die Arbeitsethik ihrer Eltern infrage stellen. Dennoch ist sein Wachstum durch den Neoliberalismus der Globalisierung beschleunigt worden. Dieser Neoliberalismus setzt auf die Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, auf umfassende Kommodifizierung und die Restrukturierung sozialer Sicherheit – weg vom Universalismus, hin zu mehr Selektivität, zu zielgenauer Verteilung, zu Bedürftigkeits- und Verhaltensprüfungen. In Großbritannien hat keine Regierung mehr dazu beigetragen, das Prekariat zu vergrößern, als New Labour zwischen 1997 bis 2010. Aber die britische Linke stand bei weitem nicht allein da. Andere europäische Regierungen und die Demokraten in Amerika wählten denselben Weg. Heute prasselt überall Unzufriedenheit auf die Politik des Mainstreams ein. Sie kommt in der griechischen Bewegung den plirono („Ich bezahle nicht“) und im Protest der spanischen indignados („die Empörten“) ebenso zum Ausdruck wie in den EuroMayDay-Paraden, die sich von Mailand und Hamburg bis nach Tokio und in Dutzende weitere Städte ausgebreitet haben.

Der Faustische Pakt der Sozialdemokraten

Doch die politische Linke ist hilflos. Ihre Wahlniederlagen überall auf dem europäischen Kontinent sind das Ergebnis eines Faustischen Paktes, den Sozialdemokraten in den neunziger Jahren und Anfang des neuen Jahrhunderts eingingen. Freilich unterschied sich dessen genaue Ausgestaltung von Land zu Land. Beispielsweise blieben in Deutschland mehr korporatistische Elemente erhalten als in angelsächsischen Ländern. Ironischerweise schritten die skandinavischen Länder am schnellsten voran, jene Länder also, in denen die sozialdemokratischen Institutionen einst am tiefsten verwurzelt waren. Der Kern des Faustischen Paktes lautete: Als Antwort auf die Globalisierung und offene Volkswirtschaften verfolgten die linken Regierungen eine Politik der Arbeitsmarktflexibilisierung, wie sie der Internationale Währungsfonds, die OECD, die Weltbank und viele Ökonomen propagierten. Parallel sollten die ins Prekariat gedrängten Bevölkerungsgruppen in die Lage versetzt werden, eine kurzzeitige Konsumorgie zu genießen.

Die Flexibilität auf den Arbeitsmärkten setzte die Arbeitnehmer ökonomischer Unsicherheit aus und führte zu sinkenden Reallöhnen und Sozialleistungen, denn die Löhne in den konkurrierenden, aufstrebenden Marktwirtschaften betrugen nur einen Bruchteil der Löhne in den OECD-Ländern. Außerdem bringt ein System offener Volkswirtschaften zwangsläufig Konvergenzen mit sich. Zwar verlangsamten die Regierungen das Absinken der Einkommen mittels Steuergutschriften, Lohnsubventionen und günstiger Kredite. Die Leistungsempfänger wurden kurzzeitig besser gestellt, aber hinter ihrem Rücken nahmen flexiblere Arbeitsbeziehungen Gestalt an. Zugleich erodierte die Basis des Sozialversicherungsstaates und ein konservatives System entstand, das auf Bedürftigkeitsprüfungen, Verhaltensprüfungen und Leistungen nur für die deserving poor basiert. So wurde eine Grundlage der sozialen Solidarität entsorgt.

Der Faustische Pakt konnte nicht von Dauer sein. Er endete mit dem Crash im Jahr 2008. Seither sind die öffentlichen Haushalte einer strikten Budgetdisziplin unterworfen. Im Ergebnis wächst das Prekariat und wird in seiner wachsenden Unsicherheit immer wütender. Ob in Deutschland, Großbritannien, Skandinavien oder Spanien: Wollen Sozialdemokraten wieder als lebendig und relevant angesehen werden, müssen sie jetzt eine neue egalitäre Strategie entwickeln, die das Prekariat anspricht. Die Zeit drängt. Ohne eine solche progressive Strategie könnte das Prekariat von den populistischen Tönen des Neo-Faschismus geködert werden. In der gesamten industrialisierten Welt erstarken die Kräfte von Rechtsaußen. Diesen Prozess hat nicht zuletzt Silvio Berlusconi angeheizt: Gerade als italienischer Premierminister wiedergewählt, verkündete er, die „Armee des Bösen“ besiegen zu wollen. Er meinte damit die Einwanderer unter den prekarisierten Bevölkerungsteilen Italiens.

Mit diesem Begriff machte Berlusconi deutlich, warum das Prekariat die neue gefährliche Klasse ist: Chronisch unsichere Menschen verlieren leicht ihren Altruismus, ihre Toleranz und ihren Respekt gegenüber Nonkonformismus. Werden ihnen keine Alternativen aufgezeigt, können sie dazu verführt werden, ihre Notlage den Fremden in ihrer Mitte in die Schuhe zu schieben. Der Neofaschismus unterscheidet sich von seinem Vorgänger in den dreißiger Jahren darin, dass diese Ideologie heute von einer globalen Elite aus unglaublich wohlhabenden und einflussreichen Individuen verfolgt wird: schrumpfender Staat, Steuererleichterungen für hohe Einkommen sowie autoritäre Kontrolle über Aufsässige, Nonkonformisten, kollektive Institutionen und die Verlierer der Marktgesellschaft, einschließlich der Erwerbsunfähigen und jungen Arbeitslosen.

»Ausgequetschte Mitte«? Als gäbe es kein »ausgequetschtes Unten«!

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Sozialdemokraten ebenso wie Mitte-Rechts-Parteien dem Charme dieser Elite zum Opfer gefallen. Statt sich dem Prekariat zuzuwenden, bemühten sich nicht wenige von ihnen, die Elite zu beschwichtigen oder ihr zu gefallen, in der Hoffnung auf ihre – nicht nur finanzielle – Unterstützung. Als diese Elite dann aus opportunistischen Gründen dazu überging, verstärkt die rechten Parteien zu unterstützen, sahen sich die Sozialdemokraten einem desillusionierten Prekariat gegenüber, das keinen Grund hat, ihnen die Stange zu halten. Kein Wunder, schließlich haben sie jene Werte verraten, die progressive Politik über Generationen inspirierte.  

Das ist die Vergangenheit. Um die neofaschistischen Tendenzen aufzuhalten, bedarf es einer Politik, die dem Prekariat etwas zu bieten hat. Eine solche Agenda muss nach vorn weisen und darf nicht atavistisch daherkommen. Im Kern muss sie egalitär sein und die entstehende Klasse ansprechen. Progressive sollten sich eben nicht den Begriff von der squeezed middle, der angeblich „ausgequetschten Mitte“ zu eigen machen. Angesichts der gesellschaftlichen Fragmentierung in Zeiten der Globalisierung ist unklar, was genau die Mitte überhaupt sein soll. Der Fokus auf die ausgequetschte Mitte suggeriert, es gäbe kein „ausgequetschtes Unten“. Er bedeutet die erneute Weigerung halbherziger Linker, die Tradition von Generationen progressiver Denker aufzunehmen und Strukturen der Ungleichheit aufzubrechen.  

Im Gegenteil, das Bild von der ausgequetschten Mitte könnte sogar gegen die Sozialdemokraten verwendet werden, schließlich hat Geringverdienern nichts so viele Probleme geschaffen wie der von Sozialdemokraten akzeptierte Faustische Pakt. Sozialdemokraten müssen lernen, dass „mehr Arbeitsplätze“ auch keine Antwort sind. Wer von sozialdemokratischen Regierungen in Jobs gesteckt wird, die deutlich unterhalb seiner Kompetenzen und Wünsche liegen, wird der linken Mitte gegenüber nicht gerade freundlich gesonnen sein.
Mittlerweile nimmt das Schreckgespenst des Neo-Faschismus katastrophale Züge an. Zu nennen sind die amerikanische Tea Party, die English Defence League, die Wiederauferstehung der Front National, die Wahren Finnen, die Schwedendemokraten und der korrupte Silvio Berlusconi. Als Antwort darauf müssen Progressive riskieren, in milder Weise utopisch zu werden. Heutige Sozialdemokraten wirken wie vormals großartige Fußballspieler, die aus Angst, Fehler zu machen, ganz verkrampft geworden sind. Stattdessen müssten sie nach oben und vorne blicken. Wir müssen die Dreifaltigkeit aus Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit neu erfinden.

Das führt uns zum zweiten historischen Prinzip progressiver Politik: In jeder Großen Transformation, wenn sich Gesellschaft und Wirtschaft restrukturieren, resultiert der Fortschritt aus einer Auseinandersetzung um die Hoheit über die zentralen Vermögenswerte des Produktivsystems. Dieser Kampf muss einen egalitären Anspruch haben. Sich zu solch einer Richtung zu bekennen, macht einen Progressiven aus. Genau diese Haltung haben die Sozialdemokraten während ihrer Regierungszeit vermissen lassen. Nicht nur taten sie zu wenig, um die Ungleichheit zu reduzieren – sie ließen es sogar zu, dass die Ungleichheit in ihrer Regierungsverantwortung anwuchs.

Um welche zentralen Vermögenswerte wird es bei dieser Auseinandersetzung
gehen? In der feudalen Agrargesellschaft war Land das wichtigste Gut. Im 20. Jahrhundert kämpften Arbeiterklasse und Sozialdemokraten für die Beteiligung an den „Produktionsmitteln“. In Zeiten der globalen Transformation gibt es fünf solcher Vermögenswerte.

Der erste lautet ökonomische Sicherheit. Heute hat eine wachsende Anzahl von Menschen in den reichen Gesellschaften überhaupt keine Sicherheit mehr, während es den Wohlhabenden prächtig geht. Es ist bekannt, dass Unsicherheit Extremismus begünstigt, besonders autoritären Extremismus. Sie zerstört Altruismus, Toleranz, Reziprozität und soziale Solidarität. Sicherheit ist ein konservativer Trieb: Verunsicherte Menschen klammern sich an altbekannte Anker und wählen atavistisch. Genau deshalb muss die politische Linke eine umfassende Politik ökonomischer Sicherheit betreiben, wenn sie für das Prekariat wieder attraktiv werden will. Bedarfsabhängige Leistungen, workfare und subventionierte Minijobs werden kaum als respektabel angesehen. Wir müssen begreifen, dass sich in offenen Marktgesellschaften, in denen flexible und prekarisierte Arbeit verbreitet ist, Angst und Verunsicherung angesichts nicht vorhersehbarer Gefahren („unknown unknowns“) breit macht – im Unterschied zu den bekannten und vergleichsweise überschaubaren Risiken der früheren Industriegesellschaft.

Industriegesellschaft? Die Zukunft sieht anders aus

Weder die Sozialversicherung noch bedarfsorientierte Sozialhilfe erreichen das Prekariat. Das Prinzip der Sozialversicherung funktioniert nur in Industriegesellschaften gut, in denen die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer sichere Vollzeitjobs besitzt und die Höhe der Beiträge ungefähr mit den beanspruchten Leistungen übereinstimmt. Die Zukunft sieht anders aus. Bedürftigkeitsprüfungen haben nie besonders gut funktioniert, stets sind niedrige Raten der Inanspruchnahme die Folge: Jene gesellschaftlichen Gruppen, die den größten Unsicherheiten ausgesetzt sind, bekommen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Hilfe.

Ausreichende ökonomische Sicherheit lässt sich nur ex ante schaffen: Indem jeder Einwohner mit legalem Aufenthaltsstatus das Recht auf ein Grundeinkommen erhält. Diese Idee haben schon große Utopisten wie Thomas Morus, Tom Paine oder Bertrand Russell propagiert, heute wird sie von angesehenen Ökonomen und Sozialphilosophen unterstützt, darunter führende deutsche Wissenschaftler wie der Soziologe Claus Offe. Das Recht auf ein Grundeinkommen ist eine Antwort auf die Lage des heutigen Prekariats.

Kritiker wenden ein, das Grundeinkommen sei unbezahlbar, es belohne Faulheit und verlangsame das Wirtschaftswachstum. Doch schon bald könnten wir zu dem Schluss kommen, dass wir es uns nicht leisten können, das Grundeinkommen nicht einzuführen. Die Idee, dass jeder Mensch eine maßvolle monatliche Geldleistung erhält, gewinnt zunehmend an Legitimität. Vielleicht etwas unerwartet wächst die Zustimmung am schnellsten in Ländern mit mittleren Einkommen wie Brasilien. Dort gibt es ein Gesetz, das den Staat zu einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle verpflichtet. Schon mehr als 50 Millionen Brasilianer erhalten monatliche Geldleistungen im Rahmen des Programms bolsa família – mit steigender Tendenz. Brasilien ist eines der wenigen Länder, dem es im 21. Jahrhundert gelungen ist, Ungleichheit abzumildern. Wiederholt haben die Brasilianer progressive Politiker gewählt, und spätestens seit der Finanzkrise floriert das Land.

Eine progressive Strategie für das Prekariat muss die gerechtere Kontrolle über weitere Vermögenswerte der tertiären Gesellschaft umfassen: das Finanzkapital, quality time, Wissen und quality space.

Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum der gesamte Ertrag des Finanzkapitals einer kleinen Elite zugutekommt, die mit der schlichten Begabung ausgestattet ist, aus Geld noch mehr Geld zu machen. In einer offenen Marktgesellschaft gibt es nur eine Methode, die Einkommensungleichheit zu verringern: Die Politik muss für eine gerechte Verteilung des Kapitals sorgen.

Warum werden in Manchester fast alle öffentlichen Toiletten geschlossen?

Auch quality time ist ein zentraler Vermögenswert. Wir brauchen politische Maßnahmen, die einen gleichmäßigeren Zugang zu ihr gewährleisten. Es gibt keinen immanenten Grund, warum die Reichen so viel mehr Hoheit über ihre Zeit haben als das Prekariat. So müssen die Prekarisierten viel Zeit aufwenden, um den Anforderungen der Bürokratie nachzukommen, einen unsicheren Kurzzeitjob nach dem anderen zu ergattern oder um jene Tricks zu lernen, die „Fähigkeiten“ genannt werden – und oft schon veraltet sind, bevor sie angewendet werden können.

Zugleich gibt es keinen Grund, warum die Wohlhabenden in der Gesellschaft im Gegensatz zu den Prekarisierten bevorzugten Zugang zu dem Wissen darüber haben, wie sie ihr Leben wirtschaftlich erfolgreich führen können. Diese Form der Ungleichheit ist struktureller Natur und hat weder etwas mit Leistung noch mit Faulheit zu tun.

Und warum haben die Eliten und die Festangestellten Zugang zu jeder Menge quality space, während die Prekarisierten unter dem ständigen Schrumpfen öffentlicher Güter leiden und vor ihren Augen Parks, Bibliotheken und andere Gemeinschaftseinrichtungen zerfallen? Warum hat die große britische Industriestadt Manchester angekündigt, fast alle öffentlichen Toiletten zu schließen? Warum werden die Wohnungen und Häuser der Prekarisierten der Zerstörung preisgegeben und jene der Reichen geschützt? Im Zuge von Sparmaßnahmen in amerikanischen Städten beschränken sich die örtlichen Feuerwehren mittlerweile darauf, den Versicherten zu helfen; wer nicht versichert ist, wird mit dem Feuer allein gelassen. Diese Art staatlicher Einsparungen richtet sich vor allem gegen das Prekariat. Wir brauchen eine progressive Strategie, um die öffentlichen Güter zu retten.

Warum schließlich bekommen Festangestellte günstigere Kredite als Leute mit befristeten Arbeitsverträgen? Die Gründe sind bekannt, aber auch hier handelt es sich um kumulierte Ungleichheiten, die nicht auf Leistung oder Fleiß zurückzuführen sind. Das Prekariat beobachtet diese Tatsache mit wachsender Wut. Wenn die Politiker darauf nicht reagieren, werden wir Zwietracht ernten. Wir können es besser.

Ferner gibt es ein drittes Prinzip, das Sozialdemokraten vergessen zu haben scheinen: In der Vergangenheit haben bei jeder Transformation neue Formen kollektiven Handelns und wahrgenommener Vereinigungsfreiheit zu einer progressiven Welle geführt. Es waren immer Bewegungen im öffentlichen Raum. Im 18. und im 19. Jahrhundert, als die Zünfte berufliche Freiheiten forderten, wuchs in deutschen Kaffeehäusern und Londoner Clubs eine neue Klasse zusammen. Ein Jahrhundert später vereinigte sich die Arbeiterklasse in Gewerkschaften und Arbeitervereinen. Heute kommt das Prekariat in Internetcafés und auf öffentlichen Plätzen zusammen.

Die Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jahren den Kontakt zu Massenbewegungen verloren und sich vornehmlich darauf beschränkt, Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von Public Relations zu betreiben. Das hat sie für Opportunismus und Korruption anfällig gemacht. Beispiele sind der Sozialist Bettino Craxi in Italien oder die schäbige Selbstbereicherung führender Politiker von New Labour in Großbritannien, die Spesen systematisch falsch abrechneten und sich an Unternehmen verkauften. Die Lehre daraus lautet, dass progressive Politiker aus der entstehenden Klasse stammen oder mit ihr und ihrer Art zu leben verbunden sein müssen. Solange Sozialdemokraten die Ängste, Unsicherheiten und Träume des Prekariats nicht verstehen, werden sie immer wieder ins Taumeln geraten.

Die Brände und Unruhen in den englischen Städten waren ein Weckruf. Die politische Rechte wird die Unruhestifter dämonisieren und sich auf Zwangsmaßnahmen kaprizieren – und die Mittelschicht wird ihr schweigend zustimmen. Niemand von uns kann das Geschehene verzeihen. Aber nur an den Symptomen einer gespaltenen Gesellschaft mit zutiefst verunsichertem Prekariat herumzudoktern, ist keine Lösung. Die linke Mitte muss eine Politik wirklicher Lebensperspektiven für alle anbieten, will sie eine Politik des Infernos für alle verhindern. Wir können es besser – und wir werden es besser machen. «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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