Die Nation als Linienbus

Der Einwanderungsdiskurs wird bestimmt von der Vorstellung einer einheitlichen deutschen Kultur. Mit der Wirklichkeit steht das weniger im Einklang denn je. Unsere multikollektive Gesellschaft braucht vor allem das Management der Verschiedenheit

Wenn die Politik Einwanderungsprobleme diskutiert, bedient sie sich bestimmter Begriffe, die wissenschaftliches Niveau ausstrahlen. Die häufigsten sind „Identität“, „Integration“, „Parallelgesellschaft“, „Ghettoisierung“, „multikulturelle Gesellschaft“ und, etwas niveauloser, „Leitkultur“. Mit Ausnahme des letzten Begriffs, den Friedrich Merz schlagzeilenträchtig erfand, gehören alle zum festen Vokabular jener Fachdisziplinen, die sich mit Migration beschäftigen, etwa der Soziologie und der cultural studies. Zusammen bilden diese Begriffe einen Diskurs oder ein Beschreibungsparadigma, das wir alle unkritisch verinnerlicht haben. Inzwischen wird aber von verschiedenen Seiten die Frage aufgeworfen, ob der Diskurs hält, was er verspricht.

Wenn ich ein öffentliches Verkehrsmittel besteige und mich auf einen freien Platz setze, bin ich dann integriert? Oder muss ich dazu ein belangloses Gespräch mit einem anderen Fahrgast beginnen? Wenn ich als Professor in einer Reihenhaussiedlung wohne, in der sich hauptsächlich Facharbeiter niedergelassen haben, laboriere ich dann an Integrationsproblemen? Zwar spreche ich mit meinen Nachbarn über den Zaun, treffe sie beim jährlichen Straßenfest, werde aber zum privaten Grillen nicht eingeladen. Ist das Diskriminierung? Würde ich eine solche Einladung ablehnen, wäre das Integrationsverweigerung? Sollte ein zweiter Professor das frei gewordene Nachbarhaus kaufen, legten wir dann den Keim zu einer Parallelgesellschaft? Sollte die Siedlung in einer niederbayerischen Kleinstadt liegen und sollten die Professoren Berliner sein, würde die Integration dadurch unmöglich? Nehmen wir weiter an, am anderen Ende unserer Kleinstadt entstünde ein Viertel, in dem ausschließlich Professoren wohnten, wäre es dann ein Ghetto?

Obwohl die Beispiele nicht außergewöhnlich sind, machen die gestellten Fragen stutzig. Das liegt daran, dass sie mit Hilfe von Begriffen formuliert wurden, die wir normalerweise zur Beschreibung von Einwanderungsproblemen benutzen. Sind diese aber so anders als die geschilderten rein inländischen Probleme, dass eigene Begriffe nötig werden? Die Grundsituation ist doch dieselbe: Zu einer Gruppe stößt eine nicht zu ihr gehörende Person. Was zeichnet soziale Gruppen oder Kollektive aus? Zum einen muss ein Gruppengefühl vorhanden sein, das sich zum anderen auf Gemeinsamkeiten stützt.

Der Preuße in der Bayernsiedlung

Der Linienbus, dessen Fahrgäste weder Ähnlichkeiten aufwiesen noch sich als Gemeinschaft fühlten, bildete kein Kollektiv, und insofern wäre es abwegig, von Integration zu sprechen. Die genannten Bedingungen werden aber von der Facharbeitersiedlung erfüllt. Das Gruppengefühl erkennen wir an den Straßenfesten, und die Gemeinsamkeit besteht im Beruf und in der regionalen Herkunft. Unseren preußischen Neuankömmlingen stellt sich daher eine echte Integrationsaufgabe, denn zum einen fühlen sie sich nicht als dazugehörend und zum anderen sind sie von den beiden Homogenitäten, Facharbeiter und Bayer, ausgeschlossen. Trotz dieses Ausschlusses können sie aber in friedlicher Koexistenz in der Siedlung wohnen und sich vielleicht sogar, falls sie es überhaupt wollen, zugehörig fühlen.

Für Professoren, obwohl sie zerstreut und weltfremd sind, gibt es keine Integrationsbeauftragten. An einem Professorenviertel, das alle Merkmale eines Ghettos, nämlich das der Abgeschlossenheit und das einer dominanten Homogenität erfüllt, nimmt kein Stadtplaner Anstoß, und beim Auftauchen von Preußen in einer Bayernsiedlung wittert niemand die Gefahr einer Parallelgesellschaft. Auch würde niemand verlangen, dass die Zugereisten bayerisch lernen sollten. Die Welt sieht aber sofort anders aus, wenn statt der Professoren Einwanderer auftauchen. Dann scheiden sich sofort die politischen und sonstigen Geister. Die einen zeigen Ablehnung, und die anderen wollen den armen Fremden helfen. Warum aber machen wir einen so großen Unterschied zwischen inländischer und ausländischer Integration? Jürgen Dreher, der die Zusammenarbeit von Türken und Deutschen bei Mercedes untersuchte, gibt uns in seinem Buch Interkulturelle Arbeitswelten (2005) die Antwort: Es liegt an der „Primordialität des Nationalgefühls“.

Deutsche Neonazis, deutsche Vegetarier

Die Kategorie Nation bestimmt wie ein Urtrieb unsere Wahrnehmung. Wenn wir einem männlichen Diplomaten mittleren Alters aus Russland gegenüber treten, erklären wir sein Verhalten weder aus Alter und Geschlecht noch aus seinem Beruf, sondern ausschließlich aus seiner nationalen Herkunft. Jedes Wort und jede Geste erscheint uns als typisch russisch, und erst zuallerletzt kämen wir auf die Idee, sein Verhalten auf Alter, Geschlecht, Beruf oder individuelle Besonderheit zurückzuführen. Nationalität beherrscht als dominante Wahrnehmungskategorie alle internationalen Begegnungen.

Diese Kategorie geht aber von der Prämisse aus, dass Menschen vor allem durch die nationale Herkunft geprägt werden. Wenn ich als Sohn eines grün wählenden, katholischen Grundschullehrers in einem bayerischen Dorf aufwachse, sollen mich diese Zugehörigkeiten angeblich weniger formen als mein Deutschtum. Deutsche vordringlich als Deutsche zu betrachten, impliziert die Behauptung, dass bei deutschen Sozialisten, Vegetariern, Sektenanhängern, Neonazis und Multimillionären die nationale Homogenität größer ist als die kollektive Heterogenität. Trauen wir dem Kollektiv Nation da nicht zuviel zu?

Woraus soll nationale Einheitlichkeit entstehen? Lange glaubte man an den völkischen Ursprung und sah dort Einheit verbürgt. 1983 aber entlarvten die britischen Historiker Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm diesen Mythos und zeigten, dass sich Nationen aus verschiedenen Völkern zusammensetzen, die machtpolitisch zusammengezwungen wurden. Die Zahlen sprechen für sich: Gab es im 15. Jahrhundert noch über 400 politisch selbständige ethnische Einheiten, schrumpften sie im 20. Jahrhundert auf unter dreißig. Diese heterogenen Gebilde sahen sich bald aber als „imagined communities“ (Anderson), das heißt, sie bildeten sich Identität ein. Wie diese Einbildung durch Politiker und Intellektuelle betrieben wurde, hat Jörg Echternkamp für Deutschland, die besonders zersplitterte Nachzüglernation, in seinem Buch Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1998) genau dokumentiert.

Die Leitkultur als geglaubte Gemeinsamkeit

Von den oben genannten kollektiven Merkmalen erfüllt die Nation mithin nur eines: Sie verfügt über ein Gruppengefühl, besitzt aber keine echten Gemeinsamkeiten. Nationale Identität kommt ohne wirkliches Fundament aus und bestand auch für Max Weber daher nur in „geglaubten Gemeinsamkeiten“. Diese Einbildung der Identität wirkt bis heute, auch wenn wir sie nicht mehr, wie Johann Gottfried Herder es tat, „Volksgeist“ und „Volksseele“ nennen, sondern „gemeinsame Kultur“, „Mentalität“ – oder eben „Leitkultur“.

Von der Wirklichkeit wird das weniger gedeckt als je zuvor. Wie jede moderne Nation zerfällt Deutschland in unzählige Kollektive mit eigener Kultur. Wir finden Punks, Studentenverbindungen, Kaninchenzüchter, Motorradclubs, Esoteriker, Sekten, Naturwissenschaftler und so weiter. Die Mitglieder dieser Kollektive hegen die unterschiedlichsten Meinungen und lassen sich von grundverschiedenen Werten leiten. Von politisch rechts bis links, vom Katholizismus bis zum Atheismus lagert im Bewusstsein der Deutschen ein gewaltiges und hoch differenziertes Spektrum. Stolz nennen wir es Pluralismus und schützen es durch Toleranz und Gesetze.

Multikulti wären wir auch ohne Einwanderer

So gesehen stellt eine Nation das uneinheitlichste, identitätsloseste Kollektiv dar, das man sich vorstellen kann. Sie bildet eine ähnliche Gruppierung wie der Linienbus im ersten Beispiel. Da alle nationalen Unterkollektive eigene Kulturen besitzen, leben wir folglich, ohne dafür einen einzigen Einwanderer zu benötigen, in einer multikulturellen Gesellschaft. Ein moderner Nationenbegriff muss hier ansetzen und die pluralistische Multikollektivität zur konstituierenden Bedingung machen. Dann erst wird die Funktion der Nation klar: Sie muss Verschiedenheit verwalten. Sie tut es einerseits durch die Bereitstellung von Kommunikationsmitteln und andererseits durch die Propagierung bestimmter friedlicher Streitmuster. Moderne Nationen bieten Umgangsformen, proklamieren Menschenrechte und halten ein Fundament aus demokratischen Gesetzen und Institutionen bereit. Sprache und Umgangsformen sind nationaltypisch, und daher finden wir in diesem Bereich, aber nur in diesem, homogene nationale Eigenarten. Die Gesetze und Institutionen indes sind nur in Details nationaltypisch, im Übrigen aber geben sie sich als transnational zu erkennen.

Gibt es also keine nationalen Besonderheiten und müssen wir, wie der Soziologe Ulrich Beck fordert, den Begriff Nation entsorgen? Das ginge zu weit. Sicherlich gibt es keine rein deutschen Werte und noch weniger eine Leitkultur, die sich aus solchen Werten zusammensetzt, wohl aber gibt es deutsche Umgangsformen, die anders sind als amerikanische. Amerikaner sind zu Fremden aufgeschlossener; sie lächeln schneller und landen schneller beim Vornamen. In arabischen Ländern ist der Sprechabstand zwischen Männern kürzer als in Europa (mit Ausnahme von Bayern). Und in Spanien liegt die Peinlichkeitsschwelle tiefer als in England.

Solche Eigenarten erschöpfen sich aber im rein Formalen und lassen keinerlei inhaltliche Rückschlüsse zu. Genau wie die Gemeinsamkeit der Sprache formal bleibt, denn mit ihrer Hilfe lassen sich inhaltlich die unterschiedlichsten Meinungen artikulieren. Des Weiteren besteht die Besonderheit von Nationen in den Kollektiven und Kollektivkulturen, die sich unter ihrem Dach finden. Typisch deutsch ist etwa die Exaktheit des deutschen Beamten oder das Ethos des deutschen Handwerkers. Nationale Eigenheit besteht folglich zum einen in der Art der jeweiligen Heterogenität, die sich aus den rivalisierenden Kollektiven ergibt, und zum anderen in den Kommunikations- und Umgangsformen, die für das Kommunizieren und Rivalisieren bereitliegen. Das ist viel weniger, als wir bisher annahmen.

Schwarze Schnurrbärte, fremde Sprache

Die Wahrnehmung von Nationen ist von dieser Erkenntnis aber noch weit entfernt, denn immer noch gehen wir davon aus, dass sie homogene Gebilde sind. Dieser Irrglaube blickt auf eine lange und zählebige Tradition zurück, die nur langsam ausstirbt. Es gibt aber auch psychologische Gründe, warum wir nicht von ihr ablassen. Bei der Begegnung mit Fremden werden wir als erstes mit der fremden Sprache und den für uns ungewöhnlichen Umgangsformen, wenn nicht gar mit einem fremdländischen Aussehen konfrontiert. Alles das suggeriert Andersartigkeit, die wir dann auch für das Denken und Empfinden erwarten.

Diese Erwartung macht uns erst einmal blind für Gemeinsamkeiten. Wenn statt der Professoren Türken in die Facharbeitersiedlung ziehen, die selbst Facharbeiter sind, werden sie trotz der beruflichen Homogenität von den Nachbarn als fremder empfunden als die Professoren. Aufgrund der schwarzen Schnurrbärte und der fremden Sprache dringt man zu dieser Gemeinsamkeit gar nicht vor. In beiden Fällen ist die Bilanz aus Homogenität und Heterogenität aber gleich: Professoren und Facharbeiter sind durch deutsche Umgangsformen verbunden, durch Beruf und Bildungsniveau getrennt; letzteres eint deutsche und türkische Facharbeiter, die aber unterschiedliche Kommunikationsmittel verwenden. Dennoch wird das Zusammenleben mit den Kollegen aus Anatolien als schwieriger wahrgenommen. Zum gleichen Ergebnis kommt die Studie von Jürgen Dreher: Erst nach einiger Zeit, als die falsche, auf die Nationalität fokussierte Wahrnehmung durch die Realität korrigiert wurde, klappte die Zusammenarbeit von Türken und Deutschen.

Deutsch mangelhaft? Das lässt sich ändern

Was bedeuten diese Überlegungen für das Einwanderungsproblem? Wenn Nationen als multikollektiv und multikulturell erkannt werden, bedeutet Einwanderung nur eine Zunahme an Pluralität, Kollektivität und kulturellem Mix. Da der Daseinszweck der multikollektiven Nation in der Verwaltung von Verschiedenheit liegt, ist sie für ein bisschen mehr davon durchaus gerüstet. Einwanderungsländer müssen ihren Gesetzen, Institutionen und ihrer Streitkultur nichts hinzufügen. Bei neuen Parteien oder Sekten wird auch nicht nach neuen Gesetzen gerufen. Die westlichen Nationen verfügen über genügend Instrumente, um mit Einwanderern in friedlicher und die Menschenwürde achtender Koexistenz zu leben. In einem Bereich bestehen für Ausländer allerdings Schwierigkeiten, die sich ebenfalls aus dem modernen Nationenbegriff begründen lassen: Da Kommunikation von der Nationalität abhängt, verfügt der Ausländer nicht über die nötigen Verständigungsmittel. Hier könnte man ihm aber helfen.

Kurzum: Die Nation ähnelt dem identitätslosen Linienbus, den jeder benutzen kann, der sich an die Beförderungsrichtlinien hält. Die Begriffe des Einwanderungsdiskurses wie Integration, Leitkultur, Ghetto sind deshalb überspitzt.

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