Die Macht des Gedöns

Bei der Wahl 2009 stimmte erstmals seit vielen Jahren eine weibliche Mehrheit für die Union - die SPD hatte vermeintlich "weiche", in Wahrheit aber harte gesellschaftspolitische Themen aus dem Blick verloren. Der Streit um das Betreuungsgeld zeigt bereits jetzt: 2013 werden Familie, Inklusion und Gleichstellung wieder wahlentscheidend sein. Neben Kristina Schröder braucht die SPD dann weitere überzeugende Argumente und Personen. Es geht um das Bild unserer Gesellschaft von sich selbst

Hannelore Kraft, Angela Merkel – die Ära der starken Frauen in politischen Führungspositionen scheint gekommen. Die Zeiten, in denen Familien- und Gleichstellungspolitik in Deutschland als „Gedöns“ abgetan wurde, sind endgültig vorbei. Vielmehr ist das Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hat Konjunktur: Die Telekom prescht mit einer Frauenquote für Führungspositionen voran; Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt formuliert als Ziele mehr Frauen in Beschäftigung und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die Hinwendung der Wirtschaft zur Gleichstellungspolitik ist angesichts des einsetzenden Fachkräftemangels und der politischen Agenda verständlich. Denn die schwarz-gelbe Regierungskoalition hat – sicherlich auch unter Druck aus Brüssel – die Förderung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Frage der Vereinbarkeit auf ihre Tagesordnung gesetzt. Die intensiven Debatten um Frauenquote und Betreuungsgeld auch innerhalb der Koalition zeigen zweierlei: Erstens sind die vermeintlich „weichen“ Politikfelder durchaus hart umkämpft und besitzen starke, nicht nur symbolische Wirkung. Zweitens ist die Koalition gerade auf diesen Feldern so gespalten, dass eine kohärente Politik kaum möglich ist.

Die schwarz-gelbe Regierung kombiniert auf bewährte Weise progressiv erscheinende und rollenkonservative Momente, um den modernen Diskurs, wirtschaftliche Interessen und traditionelle Einstellungsmuster der Wählerschaft gleichermaßen zu bedienen. Neu hinzu gekommen ist der neokonservative Ansatz, den Familienministerin Kristina Schröder mit ihrer Rhetorik der individuellen Verantwortung für Ungleichheitsverhältnisse propagiert, etwa in ihrem Buch Danke, emanzipiert sind wir selber!. Dieser Ansatz scheint die Wechselwirkung der beiden etablierten bürgerlichen Strategien aus dem Gleichgewicht zu bringen, zumal er in der öffentlichen Debatte eher kritisch aufgenommen wird. Auch dies treibt die CSU dazu, ihren konservativen Markenkern retten zu wollen, indem die Partei auf das umstrittene Betreuungsgeld beharrt. Doch ob die bayerische Beharrlichkeit aufgeht, wenn sich sogar die Deutschen Landfrauen gegen die „Herdprämie“ aussprechen?

Jedenfalls ist die öffentlich ausgetragene Kontroverse der Koalitionäre um die Gleichstellungs- und Familienpolitik gut für die Sozialdemokratie. Nicht nur, weil die Regierung entgegen der sonst zelebrierten Merkelschen Einigkeit ein konfuses, zerstrittenes Bild liefert. In ihr treten zudem deutlich politische Unterschiede zwischen Regierung und Opposition zutage, die viele Menschen direkt betreffen und bewegen.

Nicht nur die Eltern der knapp 700.000 jährlich geborenen Kinder stehen vor Herausforderungen, was Betreuungsplätze und Karriereplanung angeht. Familienpolitisch hoch interessiert dürften ferner die 8,1 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern sein. Auch einem Teil der 41,6 Millionen deutschen Frauen sind die Chancen ihrer Geschlechtsgenossinnen vermutlich nicht gleichgültig. Und nicht zuletzt: Diese Frauen haben Eltern beziehungsweise Großeltern in der stimmenstarken Generation der gut 20 Millionen über 60-Jährigen, die sich vielleicht Enkelkinder wünschen und deren Renten von nachwachsenden Generationen bezahlt werden sollen. Die Weichenstellungen der Gleichstellungs- und Familienpolitik haben ganz konkrete Auswirkungen auf die Lebenssituation dieser Menschen: auf die Entscheidung für ein Kind oder dagegen, auf die berufliche Entwicklung, auf die Kultur in den Unternehmen, auf das Einkommensniveau, auf das spätere Rentenniveau und mögliche Altersarmut.

Junge Wählerinnen wandten sich von der SPD ab

Es gibt also ein großes Reservoir an Wählern, denen die vermeintlich „weichen“ Themen nicht gleichgültig sind. Für die SPD kommt hinzu, dass Frauen bei der Bundestagswahl 2002 eher Rot oder Grün wählten als Männer. In den Jahren 2005 und – noch stärker – 2009 wandte sich der „Gender Gap“ im Wahlverhalten jedoch gegen die SPD: 2009 stimmte erstmals eine weibliche Mehrheit für die Union. Besonders junge Wählerinnen unter 30 wandten sich von der SPD ab. Sicherlich war dabei das Rollenvorbild der Kanzlerin relevant – ein Anlass, über die Frage nachzudenken, welche Themen und welches Personal die SPD für die Wählerinnen 2013 interessant machen könnten. Bekanntermaßen sind weniger als ein Drittel der Parteimitglieder Frauen; auch in der innerparteilichen Gleichstellungspolitik bleibt also trotz Geschlechterquote noch einiges zu tun.

Das Wählerpotenzial und das thematische Gelegenheitsfenster bieten gute Gründe für die SPD, sich im Wahlkampf 2013 auf ihre Kernkompetenz „soziale Gerechtigkeit“ zu konzentrieren. Doch die soziale Frage muss heute intersektional gedacht und beantwortet werden. Der Begriff der „Intersektionalität“ wird in der feministischen Debatte abgeleitet vom Bild einer Verkehrskreuzung (englisch „intersection“) verwendet, um darauf hinzuweisen, dass sich unterschiedliche Identitätskategorien wechselseitig beeinflussen und ihre Überschneidung neue Ungleichheitslagen bewirken. Denn soziale Ungleichheit ist schon lange nicht mehr der einzige Gegenstand von Gerechtigkeitsdebatten. Soziale Ungleichheitserfahrungen stehen in Wechselwirkungen mit Kategorien wie Geschlecht, ethnischer Herkunft, sexueller Identität, Alter, Behinderung oder Religion. Ungleichheit bezieht sich in dieser Perspektive nicht nur auf soziale Ungleichheit oder das Geschlechterverhältnis, sondern horizontal gedacht auch auf weitere Ungleichheitsverhältnisse und ihre Wechselwirkungen, die jeweils die Lebenschancen des Einzelnen bedingen. So kann beispielsweise eine ältere Frau türkischer Abstammung, die als Reinigungskraft arbeitet, aufgrund mehrerer Zugehörigkeiten benachteiligt sein. Soziale Gerechtigkeit ist nur dann gewährleistet, wenn sie alle gesellschaftlichen Gruppen inkludiert.

Mit dem dank rot-grüner Unterstützung verabschiedeten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ist diese horizontale Perspektive auch in Deutschland angekommen. Das politische Leitbild „Diversity“ beziehungsweise Vielfalt und Inklusion, das durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und personalpolitisches „Diversity Management“ verbreitet wurde und seit Ende der neunziger Jahre als Leitbild der Antidiskriminierungspolitik der EU Eingang in die politische Debatte fand, wendet die horizontale Perspektive positiv und eröffnet politische Anschlussfähigkeit.

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die politische Strategieentwicklung 2013? Die Sozialdemokratie sollte das Paradigma von Diversity und Inklusion viel stärker als politisches Leitbild aufgreifen. Gerechtigkeit muss als Querschnittsthema betrachtet und entsprechend institutionalisiert werden. Gerechtigkeit ist nicht nur eine Frage von sozialer Schicht. Gleichstellung zielt nicht nur auf die Frauenfrage. Integration betrifft nicht nur Menschen mit Einwandererbiografie. All diese Politikfelder – die Gleichstellungs-, Familien-, Jugend-, Senioren-, Behinderten-, Antidiskriminierungs- und Integrationspolitik – hängen zusammen und müssen integriert adressiert werden, um die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft zu erhöhen. Gleichzeitig können sie nicht isoliert von den klassischen „harten“ Feldern wie Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik behandelt werden.

Auf institutioneller Ebene sollte eine SPD-geführte Regierung deshalb ein „Ministerium für Inklusion“ einrichten, das in integrierter Perspektive Ungleichheitslagen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bearbeitet. Ein solches Ministerium könnte angemessene Strategien für die ausdifferenzierte Gesellschaft entwickeln und würde die Belange von Einwanderern und Menschen mit Behinderungen auf die ministerielle Ebene heben. Wichtig ist zudem eine (finanzielle) Stärkung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, damit diese effektiver als bislang Diskriminierungsopfer unterstützen und gesellschaftlichen Wandel befördern kann.

Die SPD muss klar machen, dass sie handeln wird

Auch die inhaltlichen Herausforderungen bewegen sich schwerpunktmäßig an der Schnittstelle von sozialer Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und Integration in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Sozialdemokratische Aufgaben, die teilweise bereits auf der Agenda stehen, sind die sozialversicherungspflichtige Gestaltung von Minijobs, die Einführung von Mindestlöhnen, die Reduzierung befristeter Verträge, die Bekämpfung der Entgeltungleichheit zwischen Männern und Frauen sowie die Abschaffung des Ehegattensplittings. In einer Lebensverlaufsperspektive muss die Altersarmut angegangen werden, die als Konsequenz der niedrigen Fraueneinkommen entsteht. Familien- und integrationspolitisch sind der Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen und natürlich die Verhinderung beziehungsweise Abschaffung des Betreuungsgelds zentral. In Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe stellt sich die Frage der Inklusion von Einwanderern, etwa durch die doppelte Staatsbürgerschaft und das kommunale Wahlrecht.

Aktuell drehen sich die politischen Debatten im Bund vor allem um die Kinderbetreuung und die Frauenquote. Hier muss die SPD deutlich machen, dass es sich im Kern um sozialdemokratische Themen handelt, die im Falle einer Regierungsübernahme nicht nur debattiert, sondern politisch angegangen werden. Zur Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits einen Gesetzesentwurf vorgelegt. EU-Kommissarin Viviane Reding kündigte an, auf mangelnde Fortschritte der Mitgliedsstaaten mit einer verbindlichen Vorgabe zu reagieren. Dadurch dürfte das Thema in den kommenden Monaten an politischer Brisanz gewinnen. Denkbar wäre eine Ergänzung des Vorschlags um mitbestimmte Zielvereinbarungen ähnlich dem französischen Modell, um die Gleichstellung im linken Tandem in Europa voranzutreiben. In Frankreich hatte die sozialistische Regierung François Mitterand bereits 1983 eine Berichtspflicht für Unternehmen zum Anteil von Frauen und Männern sowie Gleichstellungsmaß-nahmen eingeführt. Seit 2001 wurde sukzessive die Pflicht ergänzt zur Aushandlung von Betriebsvereinbarungen mit Zielquoten und Maßnahmen in Bezug auf Geschlecht, Alter und Behinderung – unter Androhung von Strafzahlungen. Dieses Modell, das betriebsindividuelle Lösungen ermöglicht und die Mitbestimmung stärkt, ließe sich in Kombination mit einer festen Quote für Aufsichtsräte in börsennotierten Unternehmen als sozialdemokratische Lösung für Deutschland übertragen.

Es zeichnet sich ab, dass Familien- und Gleichstellungspolitik zentrale Themen im Wahlkampf werden könnten. Der SPD muss es gelingen, das Themenfeld zu besetzen, indem sie ihr Kernthema Gerechtigkeit in einer Perspektive der Inklusion mehrdimensional darstellt und die Identifikation für verschiedene Bevölkerungsgruppen ermöglicht. Die SPD muss deutlich machen, und zwar insbesondere (jüngeren) Frauen und Einwanderern, dass der Kampf um Gerechtigkeit auch sie und ihre jeweilige Gruppe einschließt. Mit einer sozialdemokratischen Vision einer solchen inklusiven Gesellschaft wird die Partei auch für junge Frauen attraktiv, die, enttäuscht von der Politik Angela Merkels und Kristina Schröders, nach einer neuen, möglichst weiblichen Stimme suchen.

Neben der Vision, mit der die SPD für ein modernes Bild in der Gleichstellungs- und Familienpolitik im Sinne einer echten Diversity-Politik steht, muss deutlich werden, mit welchen Maßnahmen eine solche Politik im Falle der Regierungsübernahme verbunden wäre – und warum diese anders als zu Zeiten früherer Regierungsbeteiligungen jetzt verwirklicht werden können. Nicht zuletzt braucht die SPD prominente weibliche Rollenvorbilder, die Angela Merkel Paroli bieten können.

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