Die Krise als Glücksfall



Es war windig und kalt, als wir am 26. März an einer Demonstration gegen den Sparkurs der britischen Regierung im Londoner Hyde Park teilnahmen – der größten seit den Protesten gegen den Irak-Krieg. Uns begleiteten Freunde aus Manchester, die von Kündigungen in Schulen, Sozialprojekten und anderen öffentlichen Einrichtungen berichteten.

Als Labour die Wahl im Mai vorigen Jahres verlor, hinterließ Gordon Brown ein Haushaltsdefizit von 11 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Neuverschuldung betrug 160 Milliarden Pfund. Der neue Premierminister David Cameron versprach, dieses Defizit bis zum Ende der Legislaturperiode abzubauen und erlegte seinen Haushaltspolitikern einen in Europa unübertroffenen Sparkurs auf. Mit Ausnahme des staatlichen Gesundheitswesens sind alle Bereiche der Regierung vom Spardiktat betroffen: Universitäten verlieren 40 Prozent ihres Unterrichtsetats und dürfen ihre Gebühren verdreifachen. Schulen wird die Gebäudesanierung gestrichen. Unter New Labour initiierte Vorzeigeprojekte des vorsorgenden Sozialstaats, etwa das Förderprogramm „SureStart“ für benachteiligte Kinder aus bildungsfernen Schichten, werden abgeschafft. Das Wohngeld wird begrenzt und Sozialleistungen stehen auf dem Prüfstand. Verwaltungen, Ministerien, Schulen, selbst Armee und Polizei müssen ihren Personalbestand reduzieren.

Doch es wäre zu kurz gedacht, in der britischen Haushaltspolitik nur ein eisernes Spardiktat zu sehen. „Never waste a good crisis“ lautet das Motto einer neuen Generation Konservativer und Liberaler, die persönlich zu einem hohen Anteil aus sehr vermögenden Familien kommen und der Bevölkerung damit stärker entrückt sind als jede Regierung zuvor. Sie regieren mit derselben ideologischen Verve wie ihr Vorbild Margaret Thatcher und demselben jugendlichen Lächeln wie Tony Blair. Den Staat zu schrumpfen ist ihr Programm und kein Krisenmanagement. Dabei verschafft ihnen die Krise mehr politischen Spielraum, als sprudelnde Einnahmen es täten.

Mit den Kürzungen einher gehen tiefgreifende Strukturreformen. Im weiterhin staatlich dominierten Gesundheitswesen sollen künftig private Anbieter mit staatlichen Krankenhäusern konkurrieren. Ärzte sollen ihre Budgets selbst verwalten, Gesundheitsverwaltungen werden abgeschafft. Eltern sind aufgefordert, Schulen zu gründen, um die Qualität des Schulwesens zu erhöhen. Schon hat der erste konservative Landkreis, Suffolk County Council, angekündigt, sein Budget um 30 Prozent zu reduzieren, indem fast alle staatlichen Leistungen auf private Anbieter übertragen werden.

Nach dem Motto „Große Gesellschaft“ (Big Society) sollen zentrale Funktionen des Staates von privaten Unternehmen, aber auch von der Zivilgesellschaft übernommen werden – während die Schaltzentrale in Downing Street die Zügel in der Hand hält. Die zweite Welle der Liberalisierung nach dem Thatcherismus führt dazu, dass die Ansprüche der Einzelnen an den Staat minimiert und jene des Staates an seine Bürger maximiert werden.

Anfangs belächelte Labour das Konzept der Big Society als naive Propaganda. Mittlerweile nimmt es deutlichere Konturen an. Die Große Gesellschaft ist das glatte Gegenteil von New Labours öffentlichen Investitionen in Bildung und Beschäftigungsfähigkeit, die in den Medien als künstliche Aufblähung des öffentlichen Dienstes dargestellt werden. Zugleich ist sie ein großes Sozialexperiment in kürzester Zeit. „Old New Labour“ unter Führung von Ed Miliband hofft, dass die Gesellschaft sich wehrt, wenn die Folgen der Reformen spürbar werden. Aber das ist ein frommer Wunsch. Zu viele Bürger geben Labour die Schuld an der Finanzkrise. Und niemand unternimmt auch nur den Versuch, die Banken ernsthaft für die entstandenen Verluste zur Verantwortung zu ziehen.

Nach Thatcher und New Labour steht Großbritannien am Anfang eines weiteren radikalen gesellschaftlichen Umbruchs. Abzuwarten bleibt, ob die Rechnung aufgeht und die Zivilgesellschaft die Lücke ausfüllt, die der öffentliche Dienst hinterlässt. Fest steht nur: Auf den Staat als schützende Hand vor den Härten des Marktes setzt auf der Insel derzeit niemand.

zurück zur Ausgabe