Die Intifada der Messerstecher

Inmitten einer aus den Fugen geratenden Region erscheint Israel als Hort der Stabilität. Doch seit Monaten schon halten palästinensische Einzeltäter das Land in Atem. Ihre Attentate erinnern daran, dass der israelisch-palästinensische Konflikt weiter hoch explosiv ist. Eine dritte Intifada scheint möglich

D er Vernichtungskrieg in Syrien samt der unmittelbar von ihm ausgehenden verheerenden Flüchtlingsfrage in Europa, die Eskalation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien seit Jahresbeginn sowie weitere Krisen im Mittleren Osten – dies alles hält die Welt in Atem. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina erscheint vor diesem Hintergrund noch einigermaßen kontrollierbar. Dies täuscht jedoch.

Israel erlebt seit dem vergangenen Oktober eine heikle Phase der Beziehungen zwischen Juden und Palästinensern. Seit Monaten erheben sich einzelne Palästinenser willkürlich und scheinbar planlos gegen Israelis. Mit Messern, Scheren, Steinen oder fahrenden Autos gehen sie auf Soldaten, Wächter und Siedler in den besetzten Gebieten los. Opfer sind aber auch ganz normale Bürger im Kernland, in der Peripherie oder in den großen Städten. Überall kann es einen treffen. Auf der Straße, in der Kneipe, im Bus oder im Einkaufszentrum. Angst überschattet das Land. Menschen sterben Tag für Tag. Die Regierung Netanjahu weiß keine überzeugende Antwort. Und die linke Opposition verharrt in Schweigen. Was bezwecken die Attentäter? Wohl kaum, Israel zu Verhandlungen zu zwingen. Die israelische Gesellschaft und ihre politische Führung sind heute weiter denn je davon entfernt, sich auf palästinensische Anliegen einzulassen, geschweige denn Kompromisse zu machen oder gar einen palästinensischen Staat zu akzeptieren. Ganz im Gegenteil: Die Fronten verhärten sich umso mehr, je heftiger Gewalt, Terror und Perspektivlosigkeit vorherrschen. Eine Verständigung zwischen den zwei Völkern des Heiligen Landes rückt immer weiter in die Ferne.

Nicht ein konkretes politisches Ziel haben die sich erhebenden Palästinenser daher vor Augen. Mit ihren Gewalttaten drücken sie vielmehr die palästinensische Ohnmacht und Resignation angesichts der scheinbar unbesiegbaren militärischen Macht Israels aus. Im Juni 2017 wird die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete seit 50 Jahren bestehen. Und ein Ende scheint nicht in Sicht. Es gibt kein Entrinnen. In diese epochale Besatzung wachsen mittlerweile die dritte und auch vierte Generation der Palästinenser hinein. Sie sehen sich mit einer politischen Realität konfrontiert, die von Mauern, Checkpoints, Restriktionen, Enteignungen und ebenso end- wie sinnlosen Demütigungen beherrscht ist. Die Erfahrung von Gewalt und Willkür bestimmt ihren Alltag.

Ist Israel wirklich unbesiegbar?

Die israelische Besatzung ist so etabliert, dass sie unauflösbar erscheint. Sie ist zu einem dermaßen integralen Bestandteil der politischen Ordnung Israels geworden, dass Politik und Gesellschaft, Militär und Wirtschaft, politische Kultur und öffentlicher Diskurs die Ordnung der Besatzung gleichsam absorbiert haben. Der Konflikt ist der israelisch-palästinensischen Wirklichkeit immanent geworden. Insofern lassen sich die aktuellen palästinensischen Gewaltausbrüche als Verzweiflungstaten gegen eine unbesiegbare Macht interpretieren.

Doch ist Israel wirklich unbesiegbar? Sind die israelisch-palästinensischen Beziehungen wirklich unauflösbar? Wie kommt man aus dieser Sackgasse heraus? Möglicherweise liegt eine Antwort darin, die Geschichte des Konflikts so zu beschreiben, dass beide Narrative angemessen berücksichtigt werden.

Der Streit zwischen Israelis und Palästinensern ist bekanntlich viel älter als die zionistisch motivierte Kolonialisierung der palästinensischen Gebiete in den Jahren seit 1967. Schon mit der Gründung der zionistischen Bewegung im Jahr 1897 war das politische Ziel ausformuliert: einen jüdischen Staat für das jüdische Volk außerhalb Europas zu errichten. Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fiel die Wahl des Territoriums auf das Alt-neu-Land Eretz Israel, also „das Land Israels und des jüdischen Volkes“.

Allerdings war der jungen zionistischen Gemeinde in Palästina bis 1948 sehr wohl bewusst, dass das zionistische Projekt auf den Widerstand der altansässigen Bewohner Palästinas stoßen wird. Das Problem, dass das gelobte Land doch nicht so leer war, wie es der zionistische Mythos tradierte, wurde schon in den zwanziger Jahren als „die arabische Frage“ apostrophiert. Und diese Frage hat die Debatte und die Außenpolitik der zionistischen Institutionen und später des Staates Israel unentwegt beherrscht.

Ein auf Konfliktlösung orientierter politischer Ansatz muss die Geschichte des Streits zwischen den zwei Völkern im Heiligen Land bis zum Krieg von 1947 bis 1949 zurückverfolgen. Jenseits aller mit wechselseitigen Schuldzuweisungen und Vorwürfen behafteten Narrative beider Parteien über den ersten israelisch-arabischen Krieg ist aus historischer Perspektive unbestreitbar: Die zionistische Bewegung errang 1949 einen ultimativen Sieg über die „Araber von Eretz Israel“. Zum einen brachten die israelischen Kräfte 78 Prozent des Landes unter ihre Kontrolle – ein Staatsgebiet, das sehr bald international anerkannt wurde. Zum anderen näherte der anschließende Exodus von etwa 750 000 Palästinensern in die arabischen Nachbarländer die Wirklichkeit beträchtlich an den zionistischen Mythos vom leeren Land an. Die auf israelischem Staatsgebiet verbliebenen 160 000 Palästinenser wurden zwar eingebürgert, gleichzeitig aber bis Dezember 1966 militärischer Kontrolle ausgesetzt.

Mit dem Sechstagekrieg im Juni 1967 und der Einnahme des Westjordanlandes sowie des Gazastreifens weitete Israel sein Kontrollsystem vom Kernland auf die nun „besetzten Gebiete“ aus – allerdings mit dem erheblichen Unterschied, dass die dort lebenden zwei Millionen Palästinenser nicht eingebürgert wurden. Denn Israels Ziel blieb das zionistische Projekt: Weiterhin sollte das Land besiedelt, sollten palästinensische Ländereien unter Staatskontrolle gebracht und jüdische Siedlungen errichtet werden. Dass das israelische Militär die Kontrolle über die Palästinenser ausübte, erschien im Lichte dieser Logik nur folgerichtig.

Die Sicherheitspolitische Perspektive trügt

Aber lassen sich die staatenlosen Palästinenser auf Dauer unter Kontrolle halten? Jedenfalls rechnete Israel nicht mit irgendeinem effektiven Widerstand seiner Untertanen. Nach 1967 verfestigte sich die Vorstellung, man habe es bei ihnen mit besiegten Feinden zu tun: der große Sieg, die Erweiterung des Staatsgebiets, die Eroberung beträchtlicher palästinensischer, ägyptischer und syrischer Territorien – dies alles verdrängte die Palästinenser noch weiter aus dem Bewusstsein der Israelis. Nach 1967 glaubten Politik, Militär und Gesellschaft in Israel, das palästinensische Problem im Griff zu haben. Die „alte arabische Frage“ schien ein für allemal gelöst.

Doch das war ein Irrtum. Wie die vergangenen drei Jahrzehnte zeigen, gelang Israel die völlige Kontrolle der Palästinenser nicht. Stattdessen werden diese für das zionistische Israel immer mehr zur demografischen und sicherheitspolitischen Herausforderung. Der Libanon-Krieg von 1982 bis 1985, bei dem es letztlich um die Palästinenserfrage ging, sowie die Erste Intifada der Jahre 1987 bis 1992 stellten die in Israel gut eingeübte Verdrängung des Palästinaproblems in Frage. Dasselbe galt für den Oslo-Friedensprozess der Jahre 1993 bis 2000 und die Zweite Intifada von 2000 bis 2004, die Israels politische Tagesordnung in dieser Zeit völlig beherrschten. Doch alle diese Entwicklungen betrachtete Israel ausschließlich als sicherheitspolitische Angelegenheiten.

Genau darin liegt der Kern des Problems: Wenngleich der Streit eindeutig ein territorialer Konflikt ist, weigert sich Israel beharrlich, das Territorium Eretz Israel zum Politikum zu machen. Das zionistische Israel akzeptiert schlechterdings nicht, dass es auf einem Teil dieses Territoriums ein Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser geben könnte. In Wirklichkeit bekämpft es die Zweistaatenlösung bereits seit seiner Gründung. Als stärkerer der beiden Konfliktparteien gelang es dem jüdischen Staat, sein Anliegen der jüdischen Besiedlung palästinensischer Gebiete immer stärker durchzusetzen. Dabei musste den Israelis völlig klar sein, dass damit die Perpetuierung des Konflikts einhergehen wird.

Also ständiger Konflikt als Preis für die Existenz des jüdischen Staates in Eretz Israel? Tatsächlich besteht trotz erheblicher Widerstände auf jeder erdenklichen Ebene Israels Anspruch auf Judäa und Samaria – das sind die hebräischen Namen für das Westjordanland – ungebrochen weiter. Denn zum zionistischen Staatsverständnis Israels gehört nun einmal der Gründungsmythos von Eretz Israel als dem Land des jüdischen Volkes. Hierin besteht Israels staatstragende Ideologie, die von der Mehrheit in der Knesset sowie in Politik, Gesellschaft und Militär vertreten wird.

»Palästina« gilt in Israel als Geschichte

„Palästina“ gilt für das zionistische Israel als vergangene Geschichte; der gängige hebräische Begriff für das umstrittene Land ist „Eretz Israel“. Dieses Verständnis teilen nicht nur die Rechte und der religiöse Zionismus. Nicht nur Benjamin Netanjahu oder Naftali Bennet fühlen sich frei, dies deutlich und offen auszusprechen. Auch die linkzionistischen Parteien tragen dieses Verständnis genauso mit und geraten deshalb immer wieder in Erklärungsnot, wenn sie sich zur Palästinafrage positionieren müssen.

Das gilt auch für die israelische Arbeitspartei, die sich anlässlich der Parlamentswahl im März 2015 weiteren Parteien der Mitte anschloss und gemeinsam mit ihnen das Etikett „Das zionistische Lager“ zum Wahlslogan machte. Die israelische Linke bekannte sich damit in offensiver Weise zur zionistischen Staatsideologie, ganz so, als wäre dieses Staatsverständnis in Gefahr. Zwar ging diese Strategie am Wahltag nicht auf. Das mindert allerdings nicht die Macht, die der Mythos von Eretz Israel auch auf die vermeintlich friedensbereiten Parteien Israels ausübt.

Sogar noch stärker ist der Konsens im Hinblick auf die Sicherheitsfrage. Der Streit um das Heilige Land war bereits 1948 eng mit dem Konflikt in der Region Nahost gekoppelt. Mit dieser höchst heiklen Frage hängt wiederum die historisch gewachsene Zivilmilitarisierung der israelischen Gesellschaft zusammen, letztlich auch die Etablierung des Mythos um die Sicherheit. Der israelische Sicherheitsmythos stützt sich auf die jüdische Leidensgeschichte, die als Beleg dafür begriffen wird, dass zwischen Juden und Nichtjuden gleichsam naturgemäß feindselige Verhältnisse herrschen. Übertragen auf das israelische Staatswesen in seiner spezifischen Konfliktgeschichte mit den arabischen Nachbarstaaten heißt dies: Eine unschlagbare eigene Militärmacht gilt als unabdingbar dafür, den jüdischen Staat effektiv schützen zu können. Dieser Mythos liegt der militärischen Kontrolle der palästinensischen Gebiete, mithin der gesamten Okkupationsordnung zugrunde.

Sicherheitskultur und Zivilmilitarismus

Weil Sicherheit unmittelbar mit der jüdischen Nationalstaatlichkeit und damit zugleich mit dem zionistischen Projekt assoziiert wird, ist sie im Laufe der Zeit tatsächlich zur zentralen Säule der politischen Ordnung Israels geworden. Eine politische Sicherheitskultur prägt das Land bis heute. Dies hat schließlich zum Zivilmilitarismus geführt: Macht, militärische Überlegenheit und die berühmte Sicherheits-Doktrin der Abschreckung gelten als Existenzgarantien, Verhandlungen und Kompromisse indes als untauglich für den Frieden. „Es gibt keinen Partner für den Frieden“ hieß es bereits Jahrzehnte, bevor Israels Premier Ehud Barak beim Friedensgipfel vom Sommer 2000 seinem palästinensischen Gegenüber Yassir Arafat die Fähigkeit zum Friedenspartner absprach. Darauf folgten die verheerendsten Kämpfe in der israelisch-palästinensischen Konfliktgeschichte. Die vierjährige Zweite Intifada setzte beiden Parteien dermaßen zu, dass auch eine „Dritte Intifada“ keineswegs ausgeschlossen erscheint.

Die aktuelle israelisch-palästinensische Eskalation macht es deutlich: Israels gut ausgerüstete Militärmacht ist dem spontanen Messerstecher nicht gewachsen. Keine noch so gut auf dem Schlachtfeld praktizierte Militärdoktrin kann Verzweiflungstäter abschrecken. Die offenbar unorganisierte „Intifada der Einzelnen“ macht Israel nun bereits seit Monaten ratlos: Zum einen versetzt die neue Form der Gewalt die Israelis in Angst und Schrecken, weil sie jeden jederzeit treffen kann. Zum anderen aber weiß Israel auch deshalb keine angemessene Antwort, weil es diese Herausforderung ausschließlich in militärischen und sicherheitspolitischen Kategorien begreift. Genau diese Sicherheitslogik könnte die Dritte Intifada auslösen, die beide Führungen eigentlich unbedingt vermeiden wollen.

Die israelisch-palästinensischen Verhältnisse stehen somit vor einer ungeahnten Belastungsprobe. Irgendeine Aussicht auf Entspannung wäre jetzt bitter nötig. Wie aber sollte ein solcher Ansatz aussehen? Notwendig ist ein grundlegend verändertes, neues Konfliktverständnis. Die israelische Seite müsste sich von ihren beiden oben skizzierten Gründungsmythen verabschieden. Erstens müsste Israel bereit sein, die Palästinafrage überhaupt als Problem anzuerkennen, um sodann über territoriale Lösungen entsprechend verhandeln zu können. Zweitens läge es im Interesse des zionistischen Projekts und seines ursprünglichen Ziels der Normalisierung, wenn sich Israel von seinem spezifischen Konfliktverständnis lösen würde, das auf der Annahme einer grundlegenden Auseinandersetzung zwischen Juden und ihren unabänderlich antisemitischen Feinden beruht. Ein derartig fatalistisches Verständnis des Streits zwischen den zwei Völkern bedeutet ein immerwährendes „Leben mit dem Schwert“. Und dies wiederum würde längerfristig das endgültige Scheitern des Zionismus bedeuten.

Umgekehrt müssten die Palästinenser – auch als unumstritten Leidtragende des zionistischen Israels – lernen, mit einem jüdischen Staat an ihrer Seite zu leben. Sie werden einsehen müssen, dass Israel auf einer jahrhundertalten jüdischen Leidensgeschichte gründet und dass auch der Zionismus eine Befreiungsbewegung war. Schließlich war das zionistische Jahrhundert das Resultat der größten jüdischen Katastrophe aller Zeiten.

Was Deutschland tun kann

Deutschland wiederum sollte zwar in Zusammenarbeit mit der EU seine langjährige Unterstützung für Israelis und Palästinenser weiterhin gewährleisten. Doch sollte es diese Unterstützung nicht geben, ohne zugleich darauf zu insistieren, dass sich beide Parteien ernsthaft mit ihrer gemeinsamen Konfliktgeschichte auseinandersetzen. Europa muss beträchtlichen Druck vor allem auf die Besatzungsmacht Israel ausüben, damit der Durchbruch zu einem nachhaltigen Verhandlungsmodus gelingen kann.


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