Die Herrschaft des Palavers

Walter von Rossum weiß, warum Sabine Christiansen nie in die "Komplexitätsfalle" fallen wird. Den Schaden haben wir alle

Der Kölner Autor und Journalist Walter van Rossum hat sonntags abends Fernsehen geguckt, dabei ist ihm schlecht geworden, und über diese Übelkeit hat er jetzt ein Buch geschrieben. Es heißt Meine Abende mit "Sabine Christiansen": Wie das Palaver uns regiert, und man könnte das Buch lesen als eine lustige Polemik gegen das Fernsehpalaver, sich dabei an van Rossums bösen Lästereien erfreuen und es dann beiseite legen - wenn seine Kritik nicht weit über die Show hinaus ginge: mitten ins Herz unseres Demokratieverständnisses.

Sabine Christiansen ist nicht nur eine schlechte, journalistisch unbedarfte Fernsehsendung, so Walter van Rossums Analyse, sondern auch der Ort, an dem die Zustimmung der schweigenden Massen zur Politik der Sachzwänge produziert wird, eine Hinrichtungsstätte der kritischen Öffentlichkeit. Die Gäste der Sendung rekrutieren sich beinahe lückenlos aus dem, was van Rossum das "Juste-milieu" nennt: jene Vertreter eines flexiblen politischen Pragmatismus, die ihre Wahrnehmung den jeweiligen Zwecken anpassen und vorzugsweise mit Sachzwängen und Handlungslogiken argumentieren - frei von allen verbindlichen Prinzipien.

Dabei setzen sie van Rossum zufolge universale Ordnungen unseres Denkens außer Kraft: "Minmale arithmetische Rechnungen, geläufige Zweck-Mittel-Relationen, Ursache-Folge-Operationen, elementare Rechtsnormen oder moralische Standards tanzen nach der Pfeife des Juste-milieu. Das Juste-milieu repräsentiert so etwas wie den tückischen Totalitarismus der Postmoderne: ′Dabeibleiben ist alles.′ Das Publikum ist davon so verdattert, dass es schweigend zustimmt."

Und so verfestigt sich in den Köpfen der Zuschauer jenes Weltbild, das van Rossum geradewegsaus der Chefetage durchgereicht" sieht: Deutschland ist ein Sanierungsfall, muss erneuert werden, aber bitte im Sinne der Wirtschaft und vor allem ohne weitere Berücksichtigung der überzogenen Ansprüche der Bürger. Walter van Rossum zitiert einige dieser Die-Bürger-sind-schuld-Anklagen und ergänzt sie um eine kurze Aufzählung der staatlichen Privilegien, die eben jene Ankläger, etwa Kurt Biedenkopf, genießen. Die aber in der Sendung selbstverständlich nicht erwähnt werden, weder von den Gästen noch von der Moderatorin.

Erst Gefahr, dann Rettung. Immer wieder

Auch über die rhetorische Form, in der Sonntag für Sonntag das Thema "Deutschland als Sanierungsfall" dargeboten wird, sind sich offenbar alle Beteiligten einig: Es ist die apokalyptische Erzählung. "Leitmotivisch geht es jeden Sonntag darum, Deutschland erst in Gefahr zu wiegen, um es anschließend zu retten", schreibt van Rossum. Aus der Katastrophendiagnose ergibt sich als einzig mögliche Therapie die Totalreform, und die wiederum müsse zwangsläufig den Interessen der Wirtschaft folgen. "Wer lange genug Sabine Christiansen zugeschaut hat, könnte glatt vergessen, dass eine Gesellschaft keine Firma ist."

Am Beispiel der Diskussion über Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze trägt der Polemiker Walter van Rossum Fakten zusammen, die daran erinnern, was bei Sabine Christiansen immer wieder vergessen wird: Dass es so einfach nicht ist mit der Gleichung "Wirtschaftswachstum = Arbeitsplätze". Dass die Netto-Realeinkommen in den letzten zehn Jahren um mehr als vier Prozent gesunken sind, obwohl die Wirtschaft um 15 Prozent gewachsen ist. Dass die Arbeitslosigkeit seit 1970 in stetigen Schüben angeschwollen ist, auch während das Wachstum in dieser Zeit teilweise bei über fünf Prozent gelegen hat. Dass möglicherweise der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum genau andersherum sein könnte, als bei Sabine Christiansen unwidersprochen behauptet wird.

Im Gegenteil, meint van Rossum, durch ihre Fragetechnik verstärke die Moderatorin geradezu die Einseitigkeit des präsentierten Weltbildes: Sie klärt die Zuschauer nicht über mögliche Interessenskollisionen ihrer Gäste auf, bemerkt keine Widersprüche und fragt nicht nach. "In jedem Fall: nur bitte keine Analysen! Es besteht nicht die geringste Gefahr, dass Sabine Christiansen je in die Komplexitätsfalle tappen könnte. Unter der Regie der Moderatorin gibt es nur ein Schlussfolgerungsmodell, das allein wegen seiner Schlichtheit funktioniert. Und das funktioniert etwa so: Es gibt Arbeitslosigkeit. Also ist die Arbeit zu teuer." Und die Lehre für die Zuschauer bleibt: Es gibt keine Alternativen. So muss es laufen. Sabine Christiansen, das ist austauschbares Politikpalaver, "eine Tonspur in der Endlosschleife", darauf angelegt, vergessen zu werden, so resümiert Walter van Rossum.

Überall Doppelmoral und Heuchelei

Das Entscheidende aber ist, was in der Sendung nicht gesagt wird. Was aber gesagt werden müsste, wollte Sabine Christiansen nicht verbergen, sondern enthüllen. Wie etwa, fragt van Rossum, kann man über den Golfkrieg reden, ohne Richard Perles Strategiepapier für das Weiße Haus zu erwähnen? Wie kann man zur Sendung über Möllemanns Tod Günter Rexrodt einladen und ihn als Schatzmeister der FDP vorstellen, nicht aber als Meister der Vereinbarkeit von etwa fünfzig Nebenjobs mit seinen politischen Ämtern? Walter van Rossum listet einige von ihnen auf, unter anderem die verschiedenen Funktionen beim Kungelei-Anbahnungsunternehmen WMP. Was Rexrodt da alles so tut, würde man eigentlich gerne wissen, wenn er bei Sabine Christiansen über einen wie Möllemann und dessen illegale Machenschaften doziert.

Walter van Rossums Sonntage mit "Sabine Christiansen" lesen sich bisweilen wie Arthur Schnitzlers k. u. k. Gesellschaftskritik: überall Doppelmoral und Heuchelei. Auch wenn man nicht mit jeder seiner polemischen Vernichtungskritiken einverstanden ist, sollte man sein Buch lesen: als Warnung davor, wie dem Fernsehzuschauer das Denken systematisch abtrainiert wird.

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