Die Grünen müssen jetzt ihr Segel setzen

Es ist noch nicht lange her, da wurde den Grünen eine Zukunft als Volkspartei vorausgesagt. Doch gerade läuft es für sie weniger gut. Kann die Partei den Gegenwind in neue Stärke verwandeln? 10 strategische Punkte für den grünen Wahlkampf

Es ist paradox: In Zeiten des neuen (Rechts-)Populismus – der auch in Teilen der gesellschaftlichen Mitte nachhallt – gerät in Deutschland ausgerechnet diejenige Partei unter Druck, die am deutlichsten für gesellschaftliche Liberalität, eine konsequente Klimapolitik und ein gemeinsames Europa steht. Die Grünen müssen im Wahlkampf aus dem Gegenwind einen Schub erzeugen, in dem sie deutlich machen, warum sie heute mehr denn je gebraucht werden. Die großen gesellschaftlichen Umwälzungen – vom neuen Autoritarismus bis zum Klimawandel, von den Migrationsbewegungen bis zur sozialen und ökonomischen Verunsicherung – zeigen: Die Stunde der Grünen ist gekommen – wenn sie sich ohne Angst vor Reibung ins Getümmel stürzen.

Um den momentanen Gegenwind in neue Energie umzuwandeln, sind im Wahlkampf allerdings strategische Zuspitzungen nötig, die schon früher möglich gewesen wären. Als Programmpartei sind die Grünen gefordert, dem gesellschaftlich verkalkten Begriff des „Fortschritts“ neues Leben einzuhauchen und die Türen in die Zukunft weit aufzustoßen. Als Projektpartei müssen sie die Schlüsselprojekte nach vorne stellen, für die die Grünen stehen. Als Personenpartei kommt es auf eine „Verkörperung“ der grünen Orientierung und des grünen Gestaltungswillens an. Und als Partei mit Gestaltungswillen müssen die Grünen die (Macht-)Perspektiven offen halten, in denen grüne Politik trotz widriger Umstände zu realisieren sein könnte.

Gefragt ist Realpolitik in radikaler Absicht

Erstens: Grüne Politik muss als die politische Kraft deutlich werden, die nicht nur die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft mutig stellt, sondern auch überzeugende Antworten darauf bietet. Dabei geht es um nicht weniger als um die Rückgewinnung eines glaubhaften „Fortschrittsversprechens“, der berechtigten Hoffnung auf eine soziale (und damit entscheidend auch ökonomisch-ökologische) Entwicklung zum Besseren. Der grüne Mut zur Veränderung ist nicht zuletzt deshalb gefragt, weil wir nur so erhalten und verteidigen können, was uns am Herzen liegt: die grundlegenden Institutionen unserer Demokratie wie auch eine hohe Wertschöpfung als Voraussetzung für allgemeinen Wohlstand. Dabei dürfen sich die Grünen nicht unter dem Druck der Medien, die ihnen eine mangelnde „Auffälligkeit“ vorwerfen, ins Bockshorn jagen lassen, indem sie „Realpolitik“ durch „Radikalität“ ersetzen. Gefragt ist vielmehr eine Realpolitik in radikaler Absicht, also die Formulierung ambitionierter Ziele und realistischer Etappen, die alle mitgehen können.

Zweitens: Fortschritt kann am Ende immer nur heißen: „sozialer Fortschritt“, die Verbesserung der Möglichkeiten zu einem Leben in Freiheit und Gleichheit – heute und morgen, hier und anderswo. Deshalb kommt es für grüne Politik mit Blick auf ihre Kernthemen darauf an, immer die Diagonale zur sozialen Frage zu ziehen. Damit rückt auch die ökonomische Wertschöpfung als Voraussetzung für allgemeinen Wohlstand ins Zentrum grüner Politik. Im Wahlkampf geht es also nicht darum, einfach eine weitere Säule der „sozialen Gerechtigkeit“ dazu zu addieren. Es geht vielmehr darum, die grünen Kernthemen wie „Ökologie“ oder gesellschaftspolitische „Liberalität“ als fundamentale Antwort auf die soziale Frage herauszustellen. Die Grünen müssen im Wahlkampf zudem glaubhaft vertreten, dass „soziale Herkunft“ ebenso wie „Geschlecht“ oder „migrantische Herkunft“ harte Faktoren struktureller Benachteiligung sind, denen sie mit ihrer Politik Rechnung tragen. Das Ziel ist dabei nicht, festgeschriebene „Identitäten“ zu verfestigen, sondern strukturelle Blockaden im Namen gleicher Teilhabe aufzulösen.

Es geht um Gemeinsamkeit in Vielfalt


Drittens: In den kommenden Monaten müssen die Grünen verdeutlichen, dass Ökologie kein Selbstzweck ist, sondern dass sich hier die Zukunft unserer Lebensmöglichkeiten, unseres Wohlstands und des Wohlstands anderer Regionen der Welt entscheidet. Im Gelingen der ökologischen Transformation der Wirtschaft entscheidet sich, ob die „Boomregionen“ solche bleiben – oder ob sie zu den „Rust Belts“ von morgen werden. Der verschlafene „Retro-Industrialismus“ von Merkel und Schulz gefährdet die ökonomischen und damit eben auch die sozialen Zukunftsperspektiven (nicht nur) unserer Gesellschaft. Daher bedarf es der Grünen als Herausforderer, um die Wirtschaft in eine Zukunft zu treiben, die sich nicht ihrer ökologischen Grundlagen beraubt. Diese grüne Antreiber-Funktion gilt auch für das Gelingen der digitalen Transformation.

Viertens: Grün heißt nicht „Vielfalt“ oder „Zusammenhalt“, sondern „Gemeinsam in Vielfalt“. Vielfalt ist ein Ausdruck von Freiheit in Gleichberechtigung – zugleich ist sie ein Auftrag zu gleichberechtigter Teilhabe, zu „Gemeinsamkeit in Vielfalt“. Für grüne Politik gehören deshalb „Offenheit“ und „Integration“ im Sinne einer geteilten sozialen Praxis elementar zusammen. Wer „Integration“ mit „Assimilation“ gleichsetzt, sollte von „Freiheit“ und „Vielfalt“ schweigen. Damit verbindet sich auch die grüne Kompetenz, wie ein Zusammen-Leben in Vielfalt gelingen kann, jenseits von „Homogenität“ einerseits und „Nebeneinander-“ oder gar „Auseinander-Leben“ andererseits.

Fünftens: Die Grünen sind im Wahlkampf gefordert, ihren Eigensinn und ihren Wiedererkennungswert auch in der Gerechtigkeitsfrage deutlich zu machen. Sozialer Ausschluss und soziale Verunsicherung in der Gesellschaft sind entscheidende Faktoren für die Wahlentscheidung. Eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld ist den älteren Arbeitslosen von Herzen gegönnt – aber mit einer priorisierten und effektiven Teilhabestrategie, gar einem sozialen Aufbruch, hat das wenig zu tun. Der Schlüssel für einen echten sozialen Aufbruch liegt in einer teilhabeorientierten Stärkung und Erneuerung unserer öffentlichen Infrastrukturen – von den Bildungseinrichtungen und öffentlichen Räumen bis zu den öffentlichen Netzen. Die Grünen halten diesen Schlüssel im Wahlkampf zumindest in der Hand.

Sechstens: Schon in ihrer Anfangsphase lag es bei den Grünen, Menschenrechtsverletzungen und Demokratieverachtung autoritärer Systeme offen und deutlich anzusprechen – anstatt sie gegen andere Leistungen zu „verdealen“. Dieser Mut ist auch heute wieder gefragt, in einer Zeit, in der Horst Seehofer mit Viktor Orbán Klausur hält und sich die Große Koalition auf „Flüchtlingsdeals“ mit Recep Erdogan einlässt. Überhaupt liegt es in Zeiten der Renationalisierung bei den Grünen, deutlich zu machen, dass Deutschland und Europa nur eine gute Zukunft haben, wenn die Politik die Tatsache ernst nimmt, dass wir in „einer Welt“ leben. Die Probleme der anderen sind auch unsere Probleme – und ein nationalistischer Rückzug wird sie verschärfen.

Siebtens: In Zeiten der Renationalisierung ist der anstehende Wahlkampf auch ein Kampf um die Zukunft Europas. Die notwendige Verteidigung wird nur gelingen, wenn sie sich mit dem Mut zu einem weiterentwickelten Europa verbindet, der weder bei der Merkel-Union noch bei der Schulz-SPD erkennbar ist.

Achtens: Eine der größten Herausforderungen für die Grünen im Wahlkampf liegt darin, eine klare Orientierung mit Schlüsselprojekten zu verbinden. Dabei stellen die Grünen wegweisende Projekte mit hoher Symbolkraft zur Wahl. Mit dem Ziel, dass in Deutschland ab dem Jahr 2030 nur noch abgasfreie Autos vom Band rollen sollen, eröffnen sie eine entscheidende industriepolitische Auseinandersetzung um unser zukünftiges Wirtschaften. Mit dem forcierten Ausstieg aus der Kohle in den kommenden zwanzig Jahren und einer vollständigen Transformation hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien bis 2050 setzen sie nicht nur einen entscheidenden klimapolitischen Impuls, sondern stellen zugleich einer zukunftstauglichen Ökonomie ein ambitioniertes Innovationsziel voran.

Die Grünen sind außerdem gut beraten, Bildung und Schulen zum Gegenstand einer nationalen Gerechtigkeitsdebatte im Wahlkampf zu machen. Bildung ist nicht nur ein entscheidender Faktor für Freiheit und Teilhabe, Schule ist auch ein entscheidender Ort sozialer Begegnung und Weichenstellung. Das heißt auch, eine neue bundespolitische Verantwortung in Kooperation mit den Ländern zu beschreiben und das Kooperationsverbot aufzuheben. Die Grünen sollten nach vorne stellen, dass sie in der kommenden Legislatur zehn Milliarden Euro einsetzen werden, um 10.000 marode Schulen zu sanieren, damit diese zu guten Räumen für gute Bildung werden können. Sie werden weitere Milliarden einsetzen, um in diesen „Gehäusen“ gute Bildung mit guten Lehrkräften und einem guten Betreuungsschlüssel zu ermöglichen.

Auf die öffentliche Infrastruktur kommt es an

Mit einem Familien-Budget in Höhe von zwölf Milliarden Euro finden alle Kinder, unabhängig vom Elterneinkommen, die gleiche Unterstützung. Alleinerziehende werden gezielt entlastet. Grüne Politik steht schließlich für eine überfällige Reform der sozialen Sicherungssysteme: für eine Bürgerversicherung, die alle einbezieht – und allen zugutekommt. Zudem werden die Grünen für Geflüchtete solidarische und belastbare Antworten geben: mit der Schaffung sicherer Fluchtwege zumindest für bestimmte Kontingente, mit Möglichkeiten des Familiennachzugs, mit einer entschiedenen Politik der Konfliktprävention und Entwicklungszusammenarbeit. Die Grünen verschaffen hier einem wichtigen Teil der Gesellschaft eine deutliche Stimme gegen den Rechtspopulismus. In der Einwanderungsgesellschaft kommt es darauf an, dass aus der „Vielfalt“ noch mehr ein „Zusammen-Leben in Vielfalt“ wird. An diesem Punkt verbindet sich aus grüner Perspektive der Kampf gegen den sozialen Ausschluss von Migranten mit dem allgemeinen Kampf gegen soziale Segregation: Dabei kommt es auf die öffentlichen Infrastrukturen und Räume an – von den Schulen bis zur Stadtentwicklung!

Neuntens: Grüne Politik steht im kommenden Wahlkampf zum ersten Mal vor der Herausforderung, dass sie ohne eine Person aus der kampferprobten Gründergeneration an der Spitze auskommen muss. Die grüne Basis hat sich jedoch für ein Spitzenduo entschieden, das grüne Politik sehr gut verkörpert. Wer kann die Geschichte von den sozialen Ein- und Ausschlüssen unserer Gesellschaft besser erzählen als das migrantische Arbeiterkind Cem Özdemir? Und ist die Tatsache, dass Medien Cem Özdemir trotz hoher Beliebtheitswerte „Strebsamkeit“ ankreiden, nicht selbst Teil eines typischen Ressentiments gegen die (auch migrantische) Unterschicht, die alles doppelt so gut machen soll, um die gleiche Anerkennung zu erfahren? Gibt es gegenüber Autokraten wie Erdogan in der bundesrepublikanischen Politik eine kompetentere und klarere „Außenpolitik mit Haltung“, als die von Cem Özdemir? Und auch Katrin Göring-Eckardt bringt als Person viel mit, von den frühen Erfahrungen der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung über ihren gender- und familienpolitischen Einsatz bis hin zu einer tiefen gesellschaftlichen Vernetzung. Im Wahlkampf ist zudem die Einbeziehung tragender Persönlichkeiten aus den Ländern gefragt, von Winfried Kretschmann bis Robert Habeck, und ebenso die Repräsentation unterschiedlicher innerparteilicher Perspektiven und Kompetenzen, von Toni Hofreiter bis zu Anja Hajduk.

Die Zeit ist reif für klare Alternativen


Zehntens: Eine Herausforderung für Grüne, Linke und FDP in diesem Wahlkampf könnte die Fokussierung der Medien auf das Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz um das Kanzleramt sein. Das setzt allerdings voraus, dass sich der Schulz-Effekt fortsetzt und er nicht – wie derzeit – wieder abflaut. Hinzu kommt das Problem, dass Machalternativen zur großen Koalition nach gegenwärtigem Stand nur in Dreierbündnissen liegen, die komplizierter und zudem in den Parteien selbst umstritten sind. Wenn überhaupt, dann sind für die Grünen aus jetziger Sicht die Optionen Ampel, Rot-Rot-Grün und Jamaika in Reichweite. Keine dieser drei Optionen ist in der Partei besonders beliebt, und jede Option wird von bestimmten Teilen der Partei jeweils besonders kritisch gesehen. Außenpolitik gestalten mit Sahra Wagenknecht? In einem Kabinett sitzen mit dem unberechenbaren Taktierer und Lautsprecher Lindner? Gar mit der CSU?

Diese Bedenken sind alle plausibel. Noch plausibler ist aber die These, dass gerade in der jetzigen Zeit eine Fortsetzung der Großen Koalition großen Schaden für die Demokratie bedeuten würde. Die Zeit ist reif für eine größere Klarheit der politischen Alternativen, und auch die großen Parteien sind darauf angewiesen, die SPD vorneweg. Deshalb dürfen die Grünen nicht in die Falle tappen, eine Machtoption auszuschließen, die am Ende zumindest einen Sondierungsversuch wert gewesen wäre. Diese Strategie der grünen Eigenständigkeit heißt umgekehrt nicht, dass der Abstand zu allen Parteien gleich ist. Natürlich gibt es programmatisch mit der SPD größere Schnittmengen als mit den anderen Parteien. Umso mehr kommt es für die Grünen darauf an, auch im Kontrast zur SPD die eigenständigen Perspektiven und Stärken deutlich zu machen, auf die es für einen progressiven Aufbruch ankommen wird.

Vielleicht ist es auch ein Problem der Generationenwechsel in der Politik, dass man noch nicht gelernt hat, wie man damit umgeht, wenn einem der Wind ins Gesicht bläst. Die Grünen mussten auch 1998 und 2002 kämpfen, als sie wichtige Wahlen am Ende erfolgreich für sich entscheiden konnten. Aus Gegenwind lässt sich etwas machen, wenn man ein Segel hat. Die Grünen haben ein Segel. Sie müssen es jetzt setzen.

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