Die Grenzen des Staates in Afrika

Klar umrissene Außengrenzen, homogene Machtausübung im Inneren - das macht den europäischen Flächenstaat aus. In Afrika besteht diese Konstellation oft nicht. Wer die Probleme des Kontinents lösen will, muss dem Rechnung tragen

Als eines der größten Probleme Afrikas gelten gemeinhin die zwischenstaatlichen Grenzen, die von den Kolonial­mächten ohne Rücksicht auf ethnische Gruppen oder historische Zusammenhänge gezogen wurden. Letzteres ist zwar unzweifelhaft richtig – die europäischen Mächte kannten oft weder die Regionen noch die dortigen Bevölkerungsgruppen, die sie im späten 19. Jahrhundert unter sich aufteilten. Doch das Problem der afrikanischen Staatsgrenzen geht über ihre Künstlichkeit weit hinaus. Denn welche staatlichen Grenzziehungen irgendwo auf der Welt sind nicht künstlich? Umgekehrt war und ist die Rede von „natürlichen Grenzen“ stets nationalistisch motiviert. Das Problem der afrikanischen Grenzen erschließt sich erst durch die Frage, was mit Grenzen generell gemeint ist und welche Ansprüche damit impliziert werden.

Im heutigen Staatsverständnis geht man davon aus, dass die Macht eines funktionierenden Staates bis zu seinen Grenzen reicht und dass die Staatsgewalt am Rand des Territoriums ebenso intensiv vertreten ist wie in der Hauptstadt. In modernen Staaten wird diese Präsenz an der Grenze durch staatliche Symbole wie Fahnen und die Anwesenheit von Polizei, Zöllnern oder Soldaten sichtbar. Gleichwohl ist der moderne Staat welthistorisch gesehen eine Ausnahme. Den „Normalfall“ politischer Ordnungen gibt es nicht, da die Geschichte der Menschheit von vielen höchst unterschiedlichen politischen Organisationsformen geprägt war. Die Bandbreite reichte in Afrika von kleinen, nicht mehr als 20 Personen umfassenden Jägergruppen in der Kalahari bis zu riesigen zentralisierten Reichen, von der höchst heterogenen Häuptlingschaft (chiefdom) bis zu Agglomeraten von Stadtstaaten wie bei den Haussa oder Yoruba in Nigeria.

Der Kolonialismus währte nur kurz

Häufig wird übersehen, dass die Kolonialgeschichte der meisten afrikanischen Länder nur sehr kurz war und in vielen Fällen kaum länger als 90 Jahre währte; faktisch ausgeübt haben die Europäer ihre Herrschaft in vielen Regionen sogar noch deutlich kürzer. Die neuen Institutionen, die sie nach Afrika brachten und zu denen auch das europäische Modell des Flächenstaates gehörte, hatten somit nur wenig Zeit, um sich zu etablieren. Die vorkolonialen politischen Traditionen hingegen überlebten die Kolonialherrschaft und haben sich in vielfältiger Weise mit den Erfordernissen moderner Staatlichkeit gemischt. So lässt sich vieles von dem, was im Westen als Korruption wahrgenommen wird, auch mit Familienstrukturen und Loyalitätsnetzen, mit Klientelismus und alten Solidaritätsformen erklären.

Moderne Staaten zeichnen sich außerdem nicht nur durch klar gezogene Grenzen als räumliche Markierung von Souveränität aus, sondern neigen generell auch zur Homogenisierung von Macht. Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard konnte diese Grundtendenz der europäischen Staatengeschichte in einer großen Untersuchung aufzeigen. Das ständige Führen von Kriegen und die Erfordernis, diese zu finanzieren, erweiterten seit der frühen Neuzeit kontinuierlich den Zugriff der Machteliten auf die Bevölkerung; im Lauf der Jahrhunderte homogenisierten und zentralisierten sie diesen Zugriff, indem Privilegien abgeschafft und rechtliche Ungleichheiten eingeebnet wurden. Das daraus entstandene Staatsmodell des 19. Jahrhunderts wurde während der Kolonialzeit nach Afrika exportiert. Allerdings besaß der koloniale Staat weder die Ressourcen des europäischen Vorbilds, noch konnte er sich durch Demokratisierung neue Legitimation verschaffen, da er auf Fremdherrschaft beruhte. Weil der koloniale Staat ein schwacher Staat war, blieb er immer ein besonders gewalttätiges Gebilde.

Der Afrikanische Sozialstaat und seine Grenzen

Als sich im 20. Jahrhundert in Europa der Sozialstaat durchsetzte, fand auch dieses Modell seinen Weg in die afrikanischen Kolonien, allerdings mit einiger Verzögerung und ebenfalls nur in abgeschwächter Form. Im Zuge dieser Modernisierung begannen die Kolonialmächte nach dem Zweiten Weltkrieg damit, die afrikanischen Bildungseliten, die sie bislang eher vernachlässigt hatten, in die Verwaltung einzubeziehen und die traditionellen Autoritäten als bisherige Stützen ihrer Herrschaft (indirect rule) abzudrängen. Afrikanische Beamte strebten danach, den Sozialstaat, dessen fragmentarischen Aufbau sie aktiv mit betrieben hatten, als ihr eigenes Staatsmodell zu übernehmen. Darum versprachen die afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, die im Wesentlichen von den Bildungseliten initiiert und geführt wurden, einen sozialen Versorgungsstaat – einen Staat, der den Armen nützen und Wohlstand für die breite Bevölkerung bringen sollte.

Tatsächlich haben afrikanische Regierungen in den sechziger und frühen siebziger Jahren beim Aufbau eines flächendeckenden Bildungs- und Gesundheitswesens Beachtliches geleistet, bis sie durch die Welternährungskrise von 1973/74 in eine Schuldenfalle und anschließend in die Abhängigkeit von internationalen Geldgebern gerieten. Diese forderten vor allem den Abbau sozialstaatlicher Einrichtungen, obwohl sie die wesentliche Legitimationsbasis der postkolonialen Ordnung darstellten. Dadurch wurde eine Legitimationskrise des postkolonialen Staates ausgelöst, die sich in den folgenden Jahrzehnten in vielen Ländern verschärfte und direkt mit den heutigen Grenzen des Territorialstaates zu tun hat.

Afrikas Staatsgrenzen blieben recht stabil

Die Machteliten Afrikas, die während der Entkolonialisierung entstanden, konnten sich aller panafrikanischen Rhetorik zum Trotz bald auf Grundlagen einer neuen postkolonialen Ordnung des Kontinents einigen, die in der Folgezeit zu einer erstaun­lichen Stabilität der Grenzziehungen führte. Bezeichnenderweise war es Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, der 1963 durchsetzte, dass die Grenzen allgemein akzeptiert wurden. Gerade Äthiopien profitierte von den kolonialen Grenzziehungen wie kaum ein anderes Land, hatte es doch im späten 19. Jahrhundert sein Territorium erheblich vergrößert. Das Kaiserreich sah sich deshalb mit separatistischen Bewegungen konfrontiert, deren Unterstützung durch andere Länder es unterbinden wollte. In den folgenden Jahrzehnten gab es gelegentliche Versuche von Grenzverschiebungen. Dazu zählten zum Beispiel erfolglose Expansionsversuche eines irredentistischen somalischen Nationalismus, den Siad Barre in seinem Krieg um das äthiopische Ogaden nutzen wollte. Ebenso scheiterte die Abspaltung der Südostprovinz Nigerias unter dem neuen Namen Biafra.

Schließlich konnten Grenzen durch die Fusion benachbarter Länder verschwinden, etwa vom Senegal mit dem enklavenartigen Gambia, was interessanterweise erfolglos blieb, obwohl es sich auf den ersten Blick um eine sinnvolle Maßnahme handelte. Auch die Fusion des von Südafrika territorial umgebenen und ökonomisch abhängigen Lesotho mit dem größeren Nachbarn wurde nicht verwirklicht, obwohl sie nach dem Ende der Apartheid zumindest denkbar war. Hier wie andernorts setzten sich mittlerweile gewachsene Eigeninteressen durch – im Fall Lesothos ein starkes Eigenbewusstsein als Monarchie.

Wenn es Abspaltungsversuche gab, orientierten sich die Separatisten an kolonialen Provinzgrenzen, wie in Katanga Anfang der sechziger Jahre, oder an ehemaligen kolonialen Grenzen, etwa bei der Abtrennung Somalilands, einer ehemals britischen Kolonie, die 1960 mit dem früheren italienischen Teil zu Somalia fusioniert worden war. Die einzig wirklich gelungene Abspaltung, die international auch anerkannt wurde, war die Gründung des Südsudans 2011 – wodurch jedoch der bisherige innerstaatliche Konflikt mit dem Norden keineswegs beendet ist. Im Gegenteil: Nun brach innerhalb des Südsudans ein massiver ethnischer Konflikt aus, der zeitweise die Ausmaße eines Genozids anzunehmen drohte. Hier – wie auch im Grenzkrieg zwischen Äthiopien und seiner zeitweiligen Provinz und Kolonie Eritrea – ging es um Bodenschätze, also handfeste ökonomische Interessen.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Versuche, Grenzen in Afrika neu zu ziehen, im Lauf der Jahrzehnte zugenommen haben und ursächlich mit der Verarmung des Kontinents sowie der Delegitimierung afrikanischer Staaten und ihrer Machteliten zusammenhängen. In den neunziger Jahren erlebte Afrika eine Welle der Demokratiebewegungen, die in Europa weitgehend unbeachtet blieb, obwohl sie deutlich mehr Staaten erfasste als der zwanzig Jahre später einsetzende Arabische Frühling. In einigen Ländern waren diese Bewegungen sogar durchaus erfolgreich: So besaß Mali seit 1992 eine demokratische Grundordnung, was aber keine nennenswerte Unterstützung durch den Westen fand. Ähnliches gilt für andere demokratische Neuanfänge, in deren Verlauf Diktaturen beendet wurden wie in Benin, Kenia oder Sambia. In vielen Ländern bemächtigten sich jedoch Teile der Machteliten der Bewegungen und verwickelten die Staaten in teilweise langjährige Bürgerkriege.

Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie

Bei dieser Entwicklung spielten auch die Grenzziehungen eine wichtige Rolle: Während kleine afrikanische Länder wie Ruanda oder Burundi nicht zuletzt aufgrund ihrer gleichmäßigen Bevölkerungsverteilung eine intensive Form von Staatlichkeit ausbilden konnten, weisen gerade die flächenmäßig großen Länder auffallende Unterschiede in der Verteilung ihrer Bevölkerung auf. Die Staaten mit vielen Wüstengebieten (zum Beispiel Algerien, Libyen, Niger, Mali, Tschad, Sudan, Namibia oder Botswana) sind von dieser ungleichen Bevölkerungsdichte besonders stark betroffen. Aber auch tropische Länder weisen massive Divergenzen auf, etwa die Demokratische Republik Kongo mit der weit im Westen liegenden Megacity und Hauptstadt Kinshasa, die von vergleichsweise dünn besiedelten Gebieten umgeben ist, während der Osten des riesigen Landes wiederum eine hohe Bevölkerungsdichte aufweist. Solche Länder sind besonders anfällig für Instabilität durch Bürgerkriege, wie der amerikanische Politologe Jeffrey Herbst herausgefunden hat.

Dies hat damit zu tun, dass sich die Afrikaner nicht nur auf die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen einigten, sondern auch darauf, dass diejenige Regierung als legitim galt, die die Hauptstadt kontrolliert. Angesichts der Bedeutung der Hauptstadt in vielen afrikanischen Ländern als der mit Abstand größten Stadt ist das nachvollziehbar. Allerdings löst diese Doktrin eine Eigendynamik aus, die die Hauptstadt noch bedeutender macht und ihre Attraktivität für Binnenmigranten weiter steigert. Hinzu kommen eingeschränkte administrative Möglichkeiten, die sich in vielen afrikanischen Ländern in der geringen territorialen Reichweite des Staates niederschlagen. Es entsteht ein problematisches Machtgefälle, weil die Regierung oft nur die Hauptstadt und ihre nähere Umgebung kontrolliert, gleichzeitig aber politisch abhängiger von der wachsenden Stadtbevölkerung wird. Die Reichweite der Staatsmacht lässt dann umso mehr nach, je größer der Abstand von der Hauptstadt ist. Damit geht eine der wichtigsten normativen Eigenschaften moderner Staatlichkeit verloren, nämlich der Anspruch homogener Machtausübung.

Die ehrgeizigen Aufsteiger aus der Peripherie

Wenn die ungleiche Bevölkerungsverteilung gleichzeitig eine starke ethnische Komponente hat, also wenn sich die in der Peripherie lebenden Gruppen durch die Konzentration des ökonomischen, kulturellen und politischen Lebens in der Hauptstadt vernachlässigt fühlen, findet sich hier das ideale Potenzial für ehrgeizige Politiker, die nach der Macht streben. In den von der Staatsmacht kaum kontrollierbaren Randgebieten können sie in aller Ruhe eine eigene Machtbasis aufbauen. So begannen Regimewechsel mittels Bürgerkriegen oft an der Peripherie, bevor sie in der Hauptstadt an ihr Ziel gelangten. Yoveri Museveni hat dies in Uganda als erster vorexerziert, als er Anfang der achtziger Jahre gegen das brutale Repressionsregime von Milton Obote einen Guerillakrieg begann und auf seinem Durchmarsch nach Kampala „befreite Zonen“ schuf. Laurent Kabila ahmte dies 1997 nach, als er vom Ostkongo aus nach Kinshasa marschierte und das Regime von Mobutu beseitigte; der 2012 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte Charles Taylor unternahm Ähnliches in Liberia. Und schließlich lässt sich sowohl der Sturz Muammar al-Gaddafis von Bengasi aus als auch die zeitweilige Machtübernahme von Al-Kaida im Norden Malis auf denselben Mechanismus zurückführen.

Der Westen versucht angesichts der Ausbreitung terroristischer Gruppen, die aus solchen peripheren Räumen heraus agieren, in erster Linie staatliche Strukturen wieder aufzubauen. In vielen Ländern ist das jedoch nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Dies sollte man als einen Hinweis darauf verstehen, dass das Modell des modernen europäischen Flächenstaates nicht universell gültig ist. In Zukunft wird mehr politische Fantasie notwendig sein, um die politischen Probleme Afrikas zu lösen.

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