Die Grenzen der humanitären Hilfe

Angesichts des Flüchtlingsdramas stößt die humanitäre Hilfe allmählich an ihre Grenzen - aber nicht allein aus finanziellen Gründen. Militärische Einsätze zur Grenzsicherung stellen die humanitäre Hilfe zusätzlich infrage

Die Augen der Öffentlichkeit sind gegenwärtig auf das Flüchtlingsdrama an Europas Außengrenzen und an den Grenzen des EU-Schengenraums gerichtet. Eine Fülle von Akteuren ist dort engagiert: Die Militärmission der Nato, die auf Kapazitäten des derzeit von Deutschland geführten „Stehenden Marineverbands 2“ (SNMG 2) setzt, um damit auch die Einsatzgebiete der griechischen und türkischen Streitkräfte im Marineverband festzulegen. Beteiligt ist an diesen Einsatz auch die EU-Grenzagentur Frontex, die gleichzeitig Überwachungs- und Koordinationsaufgaben auf dem Festland übernimmt. Das Ziel der Mission: „Aufklärung, Monitoring und Überwachung“. Damit ist ein Aufgabenfeld beschrieben, das ein breites Spektrum von Funktionen umfasst - von der Bekämpfung von Schlepperbanden bis zur Rückführung von Migranten, die in Seenot geraten sind. Ein ähnliches Ziel verfolgt die EU-Mission „Sophia“ (zuvor: „European Union Naval Force – Mediterranean“), die zwischen der italienischen und libyschen Küste profitorientierten Fluchthelfern das Handwerk legen soll – und zwar nicht nur auf hoher See, sondern auch im internationalen Luftraum. Angaben der Bundeswehr zufolge sind seit Beginn des Einsatzes im Juni vergangenen Jahres bislang 53 Schleusereiverdächtige festgenommen und den italienischen Behörden übergeben worden. Diese Beispiele zeigen, dass im Bereich der Grenzsicherung militärische Formate zunehmend den Vorzug erhalten, um eigentlich polizeiliche Aufgaben auszufüllen.

Zivile und militärische Aktionen

Damit rückt auch die humanitäre Hilfe in die Nähe von militärisch angelegten Sicherungsmaßnahmen, obwohl sie traditionell eher durch die Tätigkeit nichtstaatlicher Organisationen geprägt ist - etwa von den Projekten und Programmen der humanitären Organisationen der Vereinten Nationen, der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung und deutscher Nichtregierungsorganisationen. Diese Verstrickung führt zu Unverträglichkeiten, die sich an den Außengrenzen der EU und an den errichteten Schutzzäunen unmittelbar bemerkbar machen. Die entscheidende Frage lautet dabei: Wie kann sichergestellt werden, dass sich die ethisch und menschenrechtlich begründete humanitäre Hilfe mit den Interessen der staatlichen Grenzsicherung, der Kontrolle organisierter (Schleuser-)Kriminalität und den Einsatzmustern militärisch geführter Missionen verträgt?

Zunehmend zeigt sich, dass die Bewältigungskapazitäten der humanitären Hilfe allmählich an ihre Grenze stoßen – und zwar nicht allein aus finanziellen Gründen. Und militärische Einsätze stellen die humanitäre Hilfe zusätzlich infrage. Die Forderung nach einer Ausweitung der humanitären Syrienhilfe (in der Hoffnung, dass möglichst viele Flüchtlinge und Migranten in ihrer Herkunftsregion bleiben) verträgt sich nicht mit einer militärischen Grenzsicherungspolitik, die von den ethischen und menschenrechtlichen Motiven der humanitären Hilfe weitgehend freigestellt ist. Eine solche Strategie kann weder operativ noch politisch erfolgreich sein. Zum einen verspielt die EU ihre bisherige Position als wertorientierte Allianz (normative actor). Zum anderen ist ein solches Vorgehen alles andere als effektiv, da zivilgesellschaftliche Akteure der humanitären Hilfe in ihrem Aktionsradius eingeschränkt und demotiviert werden. Kurzum: Der Versuch, Staatlichkeit durch massive Grenzsicherung durchzusetzen, schafft möglicherweise mehr Probleme für die humanitäre Hilfe, als sie Lösungen zu einer Beseitigung der Notlagen beitragen kann. Die „Tragödie der humanitären Hilfe“ (so Frank Schwabe in der Berliner Republik 1/2016) hat folglich weniger mit ihrer fehlenden Finanzierung zu tun, als mit den (teilweise desaströsen) Versuchen, Staatlichkeit in den Räumen prekärer Staatlichkeit aufrechtzuerhalten beziehungsweise wiederherzustellen.

Von der humanitären Hilfe zur Entwicklungszusammenarbeit

Humanitäre Hilfe im Sinne einer Nothilfe sollte künftig besser verzahnt werden mit der Übergangshilfe und langfristig orientierter Entwicklungszusammenarbeit. Um erfolgreich zu sein, ist sie wesentlich auf lokale Kapazitäten angewiesen. Das bedeutet konkret: die Herstellung minimaler Bedingungen von Staatlichkeit. Das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eingesetzte Instrumentarium der „entwicklungsfördernden und strukturbildenden Übergangshilfe“ setzt auf Krisenfestigkeit (Resilienz), die allerdings auf Eigensicherung und Gefahrenabwehr verkürzt wird. In vielen Ländern mangelt es jedoch an geeigneten Konzepten und hinreichenden Ressourcen zur Begründung von Staatlichkeit. Die Bilanz der internationalen Geberländer in diesem Bereich ist alles andere als befriedigend. Die Entwicklungshilfe und besonders die humanitäre Übergangshilfe laufen daher Gefahr, die prekäre Realität mit zu hohen Erwartungen zu überfrachten - zumal angesichts der begrenzten Effekte, die wir von deutschen Hilfsgeldern erhoffen dürfen. Humanitäre Hilfe kann in akuten Notsituationen die (Über-)Lebenssituation der Betroffenen erleichtern, sofern die internationalen Soforthilfekapazitäten ausreichend gestärkt werden. Angesichts sich überlagernder Konflikte und der Dichte an Krisen drohen militärische Initiativen und vorgeschobene Resilienz-Kriterien bei der Übergangshilfe heute mehr denn je diese Zielsetzung zu konterkarieren.

Nach dreijähriger Vorbereitung wird vom 23. bis 24. Mai der erste von den Vereinten Nationen organisierte Humanitäre Weltgipfel in Istanbul zusammenkommen. Neben den Grundlagen der Krisenprävention wird die fragmentierte Lage der internationalen Hilfsarchitektur das zentrale Thema sein. Nach wie vor folgt diese dem Muster institutioneller und organisatorischer Eigenbrötlerei und fördert dadurch bei den Opfern der humanitären Krisen Ungleichheit beziehungsweise Konkurrenz. In diesem Bereich angemessene Antworten politischer und finanzieller Art zu finden, wird eine der wichtigsten Herausforderungen für diesen Weltgipfel sein. Hier einen Schritt in Richtung einer gemeinsamen Verantwortung zu gehen, ist vom UN-Generalsekretär zum Maßstab für politische Führung und für das gemeinschaftliche Bekenntnis zur Menschlichkeit erhoben worden.

Die Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Mangel an Risikotoleranz bei Friedenseinsätzen bezeichnen die beiden Extreme, vor denen die internationale Gemeinschaft steht, will sie menschliches Leid in Konflikten mindern. Auch hier setzt die Staatlichkeit klare Grenzen: Regionale Zuständigkeiten haben sich etabliert; und die Schwerpunkte einzelner Länder, etwa mögliche Spezialisierungen auf bestimmte Nothilfeprogramme, erfordern einen hohen Koordinationsaufwand zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Das Ziel sollte daher ein globaler code of conduct sein, um schnelle und effektive Reaktionsfähigkeit zu gewährleisten. Humanitäre Krisen, die weniger im Licht der Öffentlichkeit stehen, bedürfen einer besonderen Zuwendung – nicht nur in politischer, sondern auch in finanzieller Hinsicht. Aber auch die Frage der internationalen Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedarf einer verstärkten Aufmerksamkeit angesichts der Tatsache, dass sich eine Fülle von Staaten weltweit stärker den Prinzipien von Souveränität und Nichteinmischung verschrieben haben und damit die Autorität des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag in Zweifel ziehen.

Eng verbunden mit den Zielvorgaben der Agenda 2030 (den so genannten Sustainable Development Goals) muss auch die humanitäre Hilfe neu justiert und im Einklang mit der globalen Nachhaltigkeitsagenda stimmig weiterentwickelt werden - und zwar getreu dem Grundsatz „so lokal wie möglich, so international wie nötig“. Ein solcher integrierter Ansatz, der in der Lage ist, humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Friedensarbeit und Konfliktbewältigung miteinander zu verknüpfen, erfordert zudem neue nationale und internationale Handlungsformate, die über die traditionellen Muster internationaler Koordinationsmechanismen hinausreichen. Diesen Weg im Rahmen des Humanitären Weltgipfels zu beschreiten, ist die zentrale Herausforderung, vor der die humanitäre Hilfe heute steht.

(Dieser Text ist am 18. Mai 2016 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)