Die Tragödie der humanitären Syrienhilfe

Die Weltgemeinschaft hat die Krise in Syrien verschlafen. Weil sie in ihrem Land nicht sicher sind und in Nachbarländern ohne Perspektive, machen sich nun immer mehr Syrer auf den Weg nach Europa. Dabei wäre die Verbesserung der humanitären Lage in der Region möglich und ohne weiteres finanzierbar

Selten stand die humanitäre Hilfe so sehr im Fokus der öffentlichen Debatte wie zurzeit. Im Zuge der syrischen Flüchtlingshilfe hat sie es zu trauriger Bekanntheit gebracht. Und dennoch scheinen einige Politiker die humanitäre Hilfe als bloßes Sahnehäubchen anderer „harter“ Politikfelder zu betrachten. Wer jedoch die Ursachen und Wirkungen der syrischen Fluchtbewegung genauer untersucht, der erkennt schnell, welche zentrale Rolle die Hilfe vor Ort spielt.

Die hohen Flüchtlingszahlen haben auch in der deutschen Gesellschaft ein politisches Erdbeben ausgelöst, aber wir werden sie nicht mithilfe unserer Asylpakete I, II, III oder auch IV reduzieren können. Abhilfe wird allein die möglichst schnelle Beendigung des Krieges in Syrien und eine umfassende humanitäre Hilfe schaffen, die echte Perspektiven für den Wiederaufbau bietet. In jedem Fall werden innenpolitische Maßnahmen nicht entscheidend sein, es sei denn, wir wollen unsere europäischen Werte über Bord werfen und den rechtspopulistischen Albtraum einer Grenzsicherung mit Schusswaffe in die Realität umsetzen. Dies belegen zahlreiche Studien über Push- und Pull-Faktoren bei Wanderungsbewegungen, die die jahrzehntelangen Erfahrungen mit Migrationsbewegungen ausgewertet haben. Sicherlich übt Deutschland innerhalb Europas eine besondere Anziehungskraft aus. Entscheidend für die massenhafte Flucht ist jedoch die grauenhafte Situation in Syrien und dessen Nachbarländern.

Vorboten einer Völkerwanderung? keineswegs!

Immer wieder wird behauptet, es handele sich bei den Flüchtlingen, die aktuell nach Deutschland und Europa kommen, um die Vorboten einer Völkerwanderung. Das Gegenteil ist der Fall: Das Phänomen lässt sich durchaus eingrenzen und hat mit den konkreten Verhältnissen in einigen wenigen Ländern zu tun. Anfang des Jahres 2015 kamen vor allem Kosovaren und Albaner zu uns. Die Asylanträge aus dem Januar 2016 zeigen, dass mittlerweile Syrer (54 Prozent), Iraker (13 Prozent) und Afghanen (10 Prozent) etwa drei Viertel der Geflüchteten in Deutschland ausmachen.

In Syrien sind 13,5 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, sechs Millionen von ihnen sind Kinder. 6,5 Millionen Syrerinnen und Syrer sind Vertriebene in ihrem eigenen Land. Einige von ihnen sind nicht zum ersten Mal auf der Flucht. Besonders tragisch ist die Situation der etwa 450 000 syrischen Palästinenser, die bereits seit Jahrzehnten in Flüchtlingscamps leben und nun zwischen alle Fronten der Kriegsparteien geraten sind. Zehntausende von ihnen sind nach Jordanien oder in den Libanon geflüchtet. Marginalisierung und Verzweiflung prägen ihre Situation in diesen Ländern.

Hunderttausende sind bedroht und eingekesselt

Schätzungen zufolge leben mittlerweile 2,5 bis 3 Millionen Syrer in der Türkei, 1,5 Millionen im Libanon und eine knappe Million in Jordanien. Eine Viertelmillion ist in den Nordirak geflohen und weitere Zehntausende haben in anderen Ländern der Region wie etwa Ägypten Zuflucht gefunden. In all diesen Ländern tragen die hohen Flüchtlingszahlen zur weiteren Destabilisierung der ohnehin fragilen politischen Lage bei.

Im Übrigen kommen nicht alle Syrer, die sich in prekärer Lage befinden, nach Deutschland. Wie bei anderen Kriegen auch ist es der kleinere Teil, der bereit ist, die rund 3 000 Kilometer weite Flucht nach Deutschland, Österreich oder Schweden auf sich zu nehmen. Im Kern sind es diejenigen, die die nötigen Ressourcen sowie die nötige Bildung besitzen und keine Fluchtalternativen in Syrien und dessen Nachbarländern sehen.

Wer diese Fluchtbewegung aus innenpolitischen oder auch aus wohlverstanden humanitären Gründen nicht will, hat drei Handlungsmöglichkeiten: Er kann erstens alles in seiner Macht Stehende tun, um den syrischen Bürgerkrieg zu beenden oder zumindest einen Waffenstillstand herbeizuführen beziehungsweise Schutzzonen zu verhandeln. Er könnte zweitens die humanitäre Hilfe und die Hilfe zur Perspektivenentwicklung zur dauerhaften Priorität auf der politischen Agenda machen und drittens sich bereit erklären, bestimmte Flüchtlingskontingente aufzunehmen, um mehr Ordnung zu schaffen und zugleich weitere Dramen auf dem Mittelmeer und anderen Teilen des Fluchtweges zu verhindern.

Nach rund fünf Jahren Bürgerkrieg ist die Lage vieler Syrer zunehmend verzweifelt. Hunderttausende sind eingekesselt und von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Der Fall der Stadt Madaya hat weltweite Bekanntheit erlangt. Aber auch in anderen Städten mussten Menschen verhungern oder sind weiterhin vom Hungertod bedroht. Diejenigen, die flüchten konnten, kämpfen in Syrien oder im Libanon, in Jordanien oder der Türkei täglich um Nahrung, um sauberes Trinkwasser, um Schutz gegen die Kälte und gegen Krankheiten.

Viele nehmen den Fluchtweg auf sich, weil es für die Kinder und Jugendlichen dort keine Chance auf Bildung gibt. Während das Bildungssystem in Syrien vergleichsweise gut entwickelt war, droht nun eine ganze Generation ohne Bildung und damit ohne Perspektive aufzuwachsen. Manche Kinder in den Flüchtlingsunterkünften im Libanon sind noch nie zur Schule gegangen; unter den derzeitigen Bedingungen werden diese Kinder womöglich auch in naher Zukunft keine Schule besuchen können. Und der Teil der Syrer, der sich mit Ersparnissen bis hierher durchgekämpft hat, sieht sich zunehmend unter Entscheidungsdruck. Manche entscheiden sich zu bleiben, viele flüchten mit ihren letzten Ersparnissen nach Europa, und wenige kehren trotz aller Gefahren in ihre Heimat zurück.

Die Weltgemeinschaft hat also bislang kläglich versagt. Statt frühzeitig auf die humanitäre Krise in Syrien zu reagieren, hat sie die Krise verschlafen. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen in und um Syrien jede Hoffnung auf Besserung aufgegeben und sich auf den Weg nach Europa gemacht haben. Dabei wäre eine effektive Hilfe vor Ort zu einem überschaubaren Preis zu haben. Jedenfalls würden die Kosten deutlich unter denen liegen, die allein Deutschland für die Versorgung der Flüchtlinge hierzulande tragen muss. Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2015 um 7,4 Milliarden Dollar für die humanitäre Hilfe in Syrien gebeten. Nur gut die Hälfte – 53 Prozent – sind jedoch zusammengekommen. Als eines der wenigen Länder hat Deutschland seine Verpflichtungen erfüllt. Die Aufwendungen für die humanitäre Hilfe hat Deutschland in den vergangenen Jahren fast verdreifacht (273 Millionen Euro im Jahr 2012; 733 Millionen Euro im Jahr 2016). Hätte die Weltgemeinschaft ebenso reagiert, wäre die humanitäre Lage in Syrien eine andere.

Weltweit werden 20 Milliarden Dollar benötigt

Die traurige Nachricht: Sie hat es nicht. Deshalb mussten die Zuwendungen für Nahrungsmittelrationen im Libanon Mitte des vergangenen Jahres auf bis zu 13,50 Dollar pro Monat gekürzt werden. Unter diesen Kürzungen litt nicht nur die medizinische Versorgung, sauberes Trinkwasser war ebenfalls Mangelware. Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche standen allenfalls rudimentär zur Verfügung. Stattdessen mussten und müssen die Kinder auf den Feldern in der Bekaa-Ebene mitarbeiten, um die minimale Lebensgrundlage ihrer Familien wenigstens einigermaßen zu sichern. Ein Zustand, der absolut unerträglich ist.

Der Libanon zählt nicht einmal sechs Millionen Einwohner. Vorsichtigen Schätzungen zufolge hat das Land 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen – und ist heillos überfordert. Aus Angst, die Geflüchteten könnten sich dauerhaft im Land niederlassen und somit die schwierige innenpolitische Lage weiter destabilisieren, verweigert der Libanon den Flüchtlingen vernünftige Unterkünfte ebenso wie die Erlaubnis zu arbeiten.

Sicher: Angesichts von weltweit etwa 60 Millionen Flüchtlingen – der höchsten Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg – ist es keine triviale Aufgabe, die nötigen Haushaltsmittel für die humanitäre Hilfe freizumachen – vor allem angesichts des rasant steigenden Bedarfs. Aber die Mittel für militärische Einsätze werden verhältnismäßig zügig bereitgestellt, während es bei der humanitären Hilfe regelmäßig hapert. Weltweit werden etwa 20 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe benötigt – das entspricht gerade einmal der Hälfte des deutschen Verteidigungsetats. Der Verteidigungshaushalt der Vereinigten Staaten beträgt sogar das Zwanzigfache. Die Zahlen machen die Dimensionen deutlich – und die Möglichkeit, sich der humanitären Krise schnell und umfassend zu stellen.

Die nächste humanitäre Krise in der Region entwickelt sich bereits. Die Palästinenser befinden sich nicht nur in einer anhaltenden politischen Krise; auch ihre humanitäre Situation verschärft sich zunehmend. Das zuständige Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) bewegt sich ständig am Rande der finanziellen Kapazitäten. Schon jetzt haben sich viele der von UNRWA versorgten Palästinenser – etwa fünf Millionen – auf den Weg nach Europa gemacht. Ihre Situation in den Flüchtlingslagern in Syrien, im Libanon und in Jordanien verschlechtert sich weiter.

Auch für die knapp zwei Millionen Palästinenser im Gaza-Streifen wird die Lage immer hoffnungsloser. Nach Einschätzung der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) könnte der Gaza-Streifen bis zum Jahr 2020 unbewohnbar werden. Im vergangenen Sommer konnte UNRWA eine vorübergehende Schließung vieler Schulen, die sie teilweise bereits seit Jahrzehnten betrieben hatte, erst im letzten Moment abwenden. Auch hier fehlte das Geld.

Der Druck muss weiter hoch bleiben

Angesichts dieser gravierenden Lage luden Deutschland und andere Länder am 4. Februar zu einer Geberkonferenz für Syrien in London ein. Deutschland sagte zu, seine Leistungen für die humanitäre Hilfe fast verdreifachen zu wollen: von 2016 bis 2018 will Deutschland mit 2,3 Milliarden Euro maßgeblich zum – zumindest teilweisen – Erfolg der Konferenz beitragen. Insgesamt wurden für die nächsten drei Jahre 9 Milliarden Euro zugesagt – deutlich mehr als in den vergangenen Jahren. Allerdings benötigen die Vereinten Nationen allein für das Jahr 2016 Mittel in Höhe von 7,7 Milliarden Dollar. Diese sind bisher nicht zusammengekommen. Die Weltgemeinschaft darf sich jetzt also nicht zurücklehnen. Der Druck muss weiter hoch bleiben, die zugesagten Mittel dieses Mal endlich auch vollumfänglich bereitzustellen.

Zugleich müssen die Planungen für eine Nachfolgekonferenz anlaufen, um zur Mitte des Jahres die Lücke zwischen den finanziellen Zusagen (beziehungsweise tatsächlichen Eingängen) und den Forderungen der UN zu schließen. Welche Staaten besonders gefordert sind, hat die Entwicklungsorganisation Oxfam anhand der Wirtschaftsleistung der Länder berechnet. Bedeutsam sind die Zusagen für Bildung und Beschäftigung für die Geflüchteten etwa im Libanon und in Jordanien. Diese müssen jetzt aber auch eingehalten werden.

Die Staaten stehen in der Bringpflicht

Das aber heißt auch, dass in den kommenden Monaten und auf dem Humanitären Weltgipfel in Istanbul im Mai das beständige Geschacher um die humanitäre Hilfe endlich beendet werden muss. Die Organisationen der Vereinten Nationen sollten nicht um Spenden betteln und gegen ihre permanente Unterfinanzierung ankämpfen müssen. Die Weltgemeinschaft trägt die Verantwortung, einen verlässlichen Finanzrahmen zu entwickeln und ein effizientes Controlling durchzusetzen. Nicht die Organisationen der Vereinten Nationen stehen also in einer Holschuld, es sind die Staaten, die in der Bringpflicht stehen.

Ein Schlüssel zur Lösung der syrischen Flüchtlingskrise liegt also nicht in Deutschland und auch nicht an der deutsch-österreichischen oder der griechisch-mazedonischen Grenze. Der Schlüssel zur Lösung liegt in Syrien und seinen Anrainerstaaten. Niemand flieht freiwillig. Wer also die humanitäre Lage der geschundenen Syrer verbessern will, wer unsere eigenen Werte und offene Grenzen in Europa verteidigen will, weil er diese für unerlässlich hält, der muss jetzt alles daran setzen, die humanitäre Lage in Syrien und den Nachbarländern zu verstehen – und alles in seiner Macht Stehende tun, um sie zu verbessern.


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