Die fabelhafte Welt der Madame Sauzay

Um die deutschfranzösischen Beziehungen steht es nicht zum Besten. Kaum hilfreich ist es da, dass sich der Bundeskanzler von Frankreich-Experten beraten lässt, die das "gute Preußen" verklären und den deutschen Ostgebieten nachtrauern

Glaubt man der Kanzlerberaterin Brigitte Sauzay, so ist bereits das Schwerpunktthema dieser Ausgabe der Berliner Republik typisch deutsch. Darauf lässt eine interessante Passage ihres 1999 auf Deutsch erschienenen Buchs Retour à Berlin. Ein deutsches Tagebuch schließen, in der sie sich über das Verhältnis der Deutschen zur Welt wundert, das sich so sehr von der engen Bindung der Franzosen an ihr eigenes Land unterscheide: "Wenn, wie La Bruyère sagt, ‚die Provinz der Ort ist, von wo der Hof, im richtigen Blickpunkt gelegen, als etwas Wunderbares erscheint′, brauchte ein Land ohne Hof, ohne Zentrum, statt dessen einen anderen Gegenstand der Bewunderung: an die Stelle des Zentrums trat die Welt. Die klassische deutsche Tradition ist die des Kosmopolitismus, des Weltbürgers, die von Goethe, Schiller und ihren Nacheiferern - mit dem Motiv der Verinnerlichung als Kontrapunkt - unaufhörlich beschworen wird. Unsere Welt hingegen ist das Hexagon... Als ich die Zeitung zusammenfalte, fällt mein Blick auf die Rubrik: Deutschland und die Welt."


Brigitte Sauzay, jahrzehntelang Dolmetscherin verschiedener französischer Präsidenten, wurde von Gerhard Schröder unmittelbar nach seiner Wahl als Beraterin des Bundeskanzlers für deutsch-französische Beziehungen nach Berlin gerufen. Gleichzeitig ernannte Schröder den emeritierten Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rudolf von Thadden, der nicht nur SPD-Mitglied, sondern als renommierter Historiker vor allem Spezialist für das Frankreich des 19. Jahrhunderts ist, zum Koordinator für die deutsch-französischen Beziehungen.


Just seit dieser Zeit sind die Opposition und weite Teile der Medien nicht müde geworden, von einer Krise der deutsch-französischen Beziehungen zu sprechen. Ob es um die Verhandlungen zum Vertrag von Nizza unter der französischen Ratspräsidentschaft ging oder um die durch Joschka Fischers Rede im Mai 2000 angestoßene Debatte über die Finalität des europäischen Einigungsprozesses - Deutschland und Frankreich scheinen sich nicht mehr zu verstehen. Die rätselhaften Deutschen (so ein weiterer Buchtitel von Frau Sauzay aus dem Jahr 1986) und ihre Vorstellungen über Europa werden in Frankreich mit Misstrauen beäugt, denn hinter den deutschen Ideen einer europäischen Föderation wittern die Franzosen ein weiteres Mal Pläne für deutsche Dominanz in Europa.

Der Deutsche ist dem Göttlichen näher

Vielleicht kann Frau Sauzay das französische Verhalten erklären? Schließlich hat sie langjährige Erfahrungen im Elysée-Palast gesammelt. Doch ihre Ansichten über das Verhältnis von Deutschen und Franzosen sind eher mit Vorsicht zu genießen: Dass die Franzosen "nun mal die Rolle (haben), die Deutschen zu betören", dass Französisch die Sprache der Klarheit sei, während "die deutsche Sprache vor allem zum Denken geschaffen" sei, zum Kommunizieren dagegen kaum geeignet - das alles mag für ein sich literarisch verstehendes Deutschlandportrait noch angehen. Denn diese und andere Klischees, wie beispielsweise die Überlegung, dass "die Deutschen in gewisser Weise einen privilegierten Zugang zum Göttlichen haben", spiegeln zugleich eine lange französische Tradition. Bezugspunkt dieser Faszination für das fremde, metaphysisch begabte Deutschland wurde Mme de Staëls klassisch gewordenes Werk De l′Allemagne, verfasst zwischen 1803 und 1810.


Überdenkt man jedoch die politischen Implikationen von Frau Sauzays Deutschlandbild für ein französisches Publikum, so erstaunen vor allem die häufig verklärenden Passagen über die ostpreußischen Großgrundbesitzerfamilien, die sich am konservativen Widerstand beteiligten ("Wie sollte man da nicht zu der Ansicht gelangen, daß Deutschland diese spezielle Schicht schlecht behandelt?"). Offensichtlich steht Frau Sauzay stark unter dem Eindruck der persönlichen Erfahrungen und Verhältnisse von Marion Gräfin Dönhoff oder eben Professor von Thadden. Ein gemeinsamer Ausflug mit von Thadden zu dessen pommerschen Heimatort Trzyglów (Trieglaff) in Polen ruft bei ihr Trauer über die verlorenen ehemaligen deutschen Ostgebiete hervor, wobei ihr vor allem der Verlust Ostpreußens ans Herz geht. Der von ihr wörtlich wiedergegebene Seufzer von Thaddens am Ende ihres Besuchs: "Aber warum bloß musste Hitler die Deutschen verführen?" und sein Wunsch, dass die jetzt dort wohnenden Polen "gute Pommern" werden mögen, zeigen deutlich, woher dieses Bild stammt.


Dass derlei zumindest in Frankreich eher zur Verstärkung der Ängste vor dem wiedervereinigten Deutschland beitragen muss, liegt auf der Hand. Es ist aufschlussreich, wie sehr sich das Deutschland- und Frankreichbild von Brigitte Sauzay und Rudolf von Thadden ähneln. Damit ordnen sich Frau Sauzays Vorstellungen allerdings nahtlos ein in das von Teilen der traditionellen deutschen Sozialdemokratie allzu oft betriebene Schönreden autoritärer, deutschnationaler und undemokratischer Ideen des konservativen Widerstandes. Sie passen zur Trauer der Konservativen über den Verlust ehemals deutscher Ostgebiete (vgl. zuletzt den in der Zeit vom 19.7.2001 unkommentiert abgedruckten Essay von Marion Gräfin Dönhoff aus dem Jahr 1945 über die Protagonisten des Attentats vom 20. Juli 1944). Das alles bezeichnet man dann gern als "preußische Tradition".

Maßstäbe, die nicht mehr passen

Traditionell ist das Deutschlandbild in Frankreich einerseits stark durch die literarischen Darstellungen à la Mme de Staël geprägt, was auch die Faszination für die deutsche Literatur und Philosophie erklärt. Andererseits krankt die Beziehung zu Deutschland noch immer an den Kriegserfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg: Eine inzwischen erstarrte französische politische Elite hält an ihrer deutschlandskeptischen Haltung fest und scheint auf die Entwicklungen nach 1989 in Europa mit Unverständnis, wenn nicht gar mit Realitätsverlust zu reagieren (vgl. dazu treffend Jacqueline Hénard, "Das Ende einer Karriere", in der Zeit vom 14. Dezember 2000). Die Maßstäbe, mit denen diese Elite die aktuellen deutschen Außen- und Europapolitik bewertet, sind der Realität schlicht nicht (mehr) angemessen.

Wollen die Deutschen Frankreich schwächen?

Verstärkt wird dieser Effekt durch das traditionell engere Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten und den latenten anti-amerikanischen Affekt in Frankreich: "Nichts ist schwieriger für uns zu begreifen und nichts ist schwieriger in den französisch-deutschen Beziehungen als die deutsch-amerikanischen Beziehungen", schreibt Frau Sauzay. Hinzu kommt die Irritation der französischen Sozialisten über das zeitweilig enge Verhältnis zwischen Tony Blairs Labour Party in Großbritannien und der deutschen Sozialdemokratie (siehe dazu den Beitrag von Dominik Geppert in diesem Heft).


Die deutschen Europaentwürfe, wie sie sich etwa in der Rede von Joschka Fischer in der Humboldt-Universität vom Mai 2000 oder in dem von Gerhard Schröder im April dieses Jahres präsentierte SPD-Leitantrag Verantwortung für Europa zeigen, lösen in Frankreich gleichermaßen die Furcht aus, dass Deutschland Europa nach seinem Bilde gestalten und den französischen Nationalstaat schwächen wolle.


Nun herrscht natürlich umgekehrt auf der deutschen Seite kein sehr differenziertes Bild von Frankreich. Die Medien und weite Teile der professionellen Politik haben hierzulande gar nicht erst versucht, die Argumentationsebenen zu differenzieren, die Lionel Jospins im Mai diesen Jahres präsentierte Vorstellungen über die Zukunft des erweiterten Europa von den Plänen Schröders oder Fischers unterscheiden. Jospin hat dafür plädiert, sich zunächst auf die Inhalte zu einigen, die mit Hilfe der europäischen Politik verteidigt oder durchgesetzt werden sollen, bevor man sich über die institutionellen Formen der EU streitet. Dies ist ein fundamentaler Unterschied beispielsweise zu Joschka Fischers Ideen, die vor allem auf die institutionelle Verfasstheit der künftigen Union zielen. Nebenbei ist es aber interessant zu bemerken, dass sich die wesentlichen französischen (Jacques Chirac, Lionel Jospin) und deutschen Politiker (Joschka Fischer, Gerhard Schröder, Johannes Rau) in einem Punkt einig sind: Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll eine europäische Verfassung erarbeitet werden, die auch die europäische Grundrechte-Charta umfasst.

Frankreichs Sozialisten sind der SPD fremd

Anders als die Franzosen, die ihre deutschen Partner nicht mehr zu verstehen scheinen, haben die Briten (im übrigen auch in der politikwissenschaftlichen Literatur) ein pragmatisches und der Realität angemesseneres Bild von Deutschland entwickelt. Das Land, in dem das F-Word, nämlich der Föderalismus, noch immer gemieden wird, weil man darunter Zentralismus versteht, hat sich erstaunlich gut in die Debatten über die Zukunft der europäischen Einigung eingefunden. Zugleich sind die Briten in der Lage, die deutschen Vorstellungen einzuordnen.


Zwar besteht zwischen Tony Blairs Europavorstellungen, die er im Oktober 2000 in Warschau vortrug, und den deutschen Ideen so gut wie kein Konsens in Bezug auf die institutionellen Reformen der EU. Dafür liegen die inhaltlichen politischen Vorstellungen der deutschen Sozialdemokraten und Blairs New Labour sehr viel näher beieinander als die von SPD und Jospins Parti Socialiste - genannt sei hier nur das Stichwort Dritter Weg. Jospins Rede über die Gestaltung Europas hat vor allem eines gezeigt: Die französischen Sozialisten einerseits und die deutschen (und britischen) Sozialdemokraten andererseits haben unterschiedliche inhaltliche politische Prioritäten. Gerade deshalb aber sollten sich deutsche Sozialdemokraten vor Augen führen, dass die französische Sorge vor einer Allmacht der Wirtschaft (wie sie etwa in dem Bestseller Terreur de l′économie von Vivienne Forrestier zum Ausdruck kommt) nicht nur die innenpolitische Debatte, sondern auch die Diskussion über Europa beherrscht. Während deutsche Sozialdemokraten und New Labour sich neoliberalen Gedanken nicht verstellen, die Wirtschaftsfreiheiten der Europäischen Union hochhalten und genau diese Komponente dann zur "neuen" Sozialdemokratie erklären, fragen die Franzosen, wie man die EU weniger als wirtschaftliches denn als sozialpolitisches und kulturelles Projekt gestalten könnte.


Noch immer ist in Deutschland das leicht maliziöse Wort von der französischen Grande Nation in Gebrauch. Diese Nation, meint man, sehne sich nach vergangener Größe und lehne sich auf gegen die amerikanische Hegemonie. Doch wer den kulturellen und sprachlichen Protektionismus in Frankreich lächerlich macht, übersieht leicht die Veränderungen, die sich in Frankreich seit den sechziger Jahren ereignet haben. Man muss nicht unbedingt so weit gehen wie Klaus Harpprecht, der ein föderatives Frankreich im Entstehen begriffen sieht (vgl. "Es lebe die Vielfalt der Republik!", in: Süddeutsche Zeitung vom 8.8.2001).


Dennoch sollten die deutschen politischen Eliten zur Kenntnis nehmen, dass in Frankreich die Debatten um eine europäische Föderation oder eine Föderation von Nationalstaaten inzwischen weitaus vielfältiger sind als die deutsche Fixierung auf Chirac und Jospin ahnen lässt. Frankreich besitzt darüber hinaus eine genuine ideengeschichtliche Tradition des sogenannten Integralföderalismus, deren Protagonisten bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für ein "Europa der Regionen" avant la lettre und für die Stärkung der französischen Regionen plädierten.


So scheint die französische Wahrnehmung von Deutschland heute geprägt durch die Furcht vor einer europäischen Föderation nach deutschem Muster, aber mehr noch durch das Bild vom "Europa der Regionen" und die Angst vor deutscher Dominanz über ein sich in seine rebellischen Regionen auflösendes Frankreich. Umgekehrt herrscht auf deutscher Seite vor allem das Gefühl vor, von der arroganten, starken Nation Frankreich missverstanden, ja gelegentlich auch ignoriert zu werden. Statt mit dem nötigen historischen und politikwissenschaftlichen Hintergrundwissen die entsprechenden Entwürfe der jeweils anderen Seite differenziert zu analysieren, breiten sich Verständnislosigkeit und Skepsis aus, die nur zu leicht dazu führen, dass sich das Negativstereotyp vom jeweils anderen bestätigt.

Die Verklärung Preußens führt in die Irre

Mit Brigitte Sauzay und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. von Thadden hat Gerhard Schröder nun aber zwei Berater ausgewählt, die ihrerseits "eine gewisse Idee von Deutschland" vertreten. Die Trauer um das verlorene gute (ost-)preußische Deutschland und die Verklärung Preußens zum Modell für Europa bilden aber gerade keine geeignete Basis, um die Furcht vor dem wiedervereinigten Deutschland im Ausland abzubauen und ein zeitgemäßes Bild von Deutschlands Außen- und Europapolitik entstehen zu lassen.


Der Kanzler wäre gut beraten, sich auch jüngere Leute in seinen Stab zu holen, die - beispielsweise im Rahmen des zwischen Deutschland und Frankreich existierenden Austauschs - bereits in der französischen Diplomatie tätig waren. Vorteilhaft für beide Seiten wäre es sicher auch, wenn die jeweiligen Berater die politologische Forschung des Nachbarlandes zur Kenntnis nähmen. Bedauerlicherweise tun das bislang nicht einmal die Wissenschaftler selbst.

Professionelle Beratung wäre kein Nachteil

Natürlich sind die deutsch-französischen Beziehungen vor allem durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägt. Keiner kann den Franzosen ihren Argwohn gegenüber dem deutschen Nachbarn verübeln. Dennoch sind Fabeln keine gute Grundlage für gegenseitiges Verständnis. Es ist daher wünschenswert - und auch machbar -, zu differenzierteren und realistischeren Einschätzungen zu gelangen. Vor allem wäre das ein Gewinn für die Debatte über die Gestaltung der erweiterten EU. Dazu bedarf es auf der französischen wie der deutschen Seite Veränderungen in den (Politiker-) Köpfen.


In Deutschland steckt die wissenschaftliche Politikberatung noch immer in den Kinderschuhen. Es liegt im ureigenen Interesse der Politik, diesen Zustand zu ändern. Von einer Förderung, gar Institutionalisierung wissenschaftlicher Politikberatung (und deren Ausbildungswegen) würden nicht nur die deutsch-französischen Beziehungen profitieren, sondern die gesamte deutsche Außen- und Europapolitik. "Deutschland und die Welt" - diese Beziehung könnte eine professionellere Betreuung vertragen.

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