Die Christdemokratie in der Käferfalle



Es kann ja sein, dass die Unionsspitze Recht hat. Es mag sein, dass zuviel Reflexion schadet, dass das Aufstehen und Weitergehen auf den alten Pfaden in der Politik eine Tugend ist. Sowieso sind grüblerische Zweifel eine Unart der Linken, im Übrigen sind die aktuellen Umfragedaten noch besser als jene des zurückliegenden Wahlkampfs. Ein beinahe tolles Jahr war 2002 für die Christdemokraten. Immer lagen sie vorn - hätte es nicht ausgerechnet im Sommer zu viel geregnet. Macht nichts, nach der Wahl ist vor der Wahl. Und Selbstzweifel lähmen die Beine.

Müde Knochen wären in der Tat schlecht für die Union, denn sie hat einen langen Weg vor sich, wenn sie ihr Wahlziel "40 Prozent plus x" zukünftig noch einmal erreichen will. Das wissen nach dem Ergebnis vom vergangenen September auch die Verantwortlichen im Konrad-Adenauer-Haus. Trotzdem setzen die führenden Christdemokraten weiter auf die Strategie, die sie im vergangenen Jahr immerhin ganz in die Nähe des Kanzleramts brachte.


Die Union führt seit dem Ende des Jahres 2001 eine Abnutzungsschlacht gegen ihre politischen Konkurrenten. Immerzu verkündet sie neue Hiobsbotschaften, ständig begeht sie schwarze Tage wie nationale Trauermessen. Sie hält die Unterminierung des Ansehens der Regierung und ihres Personals für nützlich, für nützlicher jedenfalls als Selbsterkenntnis. So konzentrieren sich die Christdemokraten auf die Demobilisierung der Anhänger der Sozialdemokraten - in der Hoffnung, das Pendel möge zu ihren Gunsten ausschlagen, wenn denn die Lage nur endlich ernst genug ist. Und zumindest diese politische Hoffnung hat sich für die Union erfüllt.


Denn inzwischen helfen die tollen Umfragezahlen den Christdemokraten wieder gegen die aufkeimenden Versagensängste, weshalb man die Analyse gerne auf später verschiebt. Während die Bundesregierung angesichts schlechter Nachrichten von allen Fronten vor sich hin dümpelte, strahlte die Union bald wieder wie der kommende Sieger.


Bei nüchterner Betrachtung ist es freilich noch weit bis zum nächsten Triumph, denn die Niederlage 2002 war kein Zufall. Schon die inzwischen oft aufgezählten einfachen Fakten belegen das eindrucksvoll: Trotz der für eine Oppositionspartei außerordentlich günstigen Umstände, und trotz eines außergewöhnlichen Stimmengewinns in Bayern, stellt die Union nicht einmal die größte Fraktion im Deutschen Bundestag. Sie ist zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte bei zwei aufeinander folgenden Wahlen nicht zur stärksten Partei geworden. Überhaupt nur in drei Bundesländern lag die CDU über vierzig Prozent der Stimmen. Die Union hat strukturelle Defizite im Norden, im Osten, bei den jüngeren Frauen und bei allen anderen Jungen auch. Überdies schrumpft selbst ihr Vorsprung bei den Älteren zusehends. In einer langen Perspektive betrachtet wird sich die Union unterhalb jener Vierzig-Prozent-Marke einrichten müssen, bei der die Regierungsübernahme greifbar ist.


Dem Abrutschen unter diese magische Marke schien die Union 1989 schon einmal nahe zu sein. Der - nach eigenem Selbstverständnis - natürlichen deutschen Regierungspartei schmolzen schon nach der Regierungsübernahme 1982 allmählich die Mehrheiten dahin, weil ihre Stammwählerschaft zu schrumpfen begann. Es war dann die Sonderkonjunktur Ost, die der Union noch einmal aus der Klemme half. Doch 1998 ist sie zu Ende gegangen. Im September 2002 gelang es der Union noch einmal, all jene an die Wahlurne zu bringen, denen die Sicherung einer "bürgerlichen Mehrheit" am Herzen liegt. Noch einmal hat sie ihre alten Unterstützertruppen in den Medien mobilisieren können, um den "rot-grünen Spuk" auszutreiben. Und noch einmal hat sie jene Verbände ins Boot gebracht, denen eine Bundesregierung von Sozen und Ökos - trotz mancher unerwarteter Wohltat in deren Regierungszeit - als, nun ja: verzichtbar erschien. Doch es hat nicht mehr gereicht.


Stark ist die Union nun im Süden und Südwesten der Republik sowie überall dort, wo viele Katholiken leben. Unter ihnen hat die Union mehr als 50 Prozent der Stimmen geholt. Nur ist damit im vereinigten, säkularen Deutschland eben keine Mehrheit mehr zu gewinnen. Stark sind die Christdemokraten immer noch bei den über 60-Jährigen, auch wenn sie in dieser Gruppe 2002 nur noch 45 Prozent erreichten. Schließlich hatte die Union eine deutliche Mehrheit der Selbständigen auf ihrer Seite - aber damit endet die Aufzählung christdemokratischer Stärken auch schon.


Was einst die Kohlegruben, Hochöfen und Werften für die absterbende Arbeiterpartei SPD bedeuteten, das sind heute die ländlich-gepflegten südwestdeutsche Landschaften, die katholischen Kirchen und die eintönigen Blechwürfel der mittelständischer Industriegebiete in den Kleinstädten für die Union: Symbole einer Fixierung auf Erfolgsrezepte, die nicht mehr wirken wollen. Schuld daran ist im Fall der Union nicht, wie in den achtziger Jahren bei der SPD, der wirtschaftliche Niedergang ihrer wichtigsten Unterstützergruppen. Schuld ist vielmehr die kulturelle Auszehrung der Partei, der Zerfall einer ehemals mehrheitsfähigen Allianz von bürgerlichem und kleinbürgerlichem juste milieu. Schweigende Mehrheit hätte die Union diese Menschen früher genannt. Von deren Schweigen kann heute nicht mehr die Rede sein - von ihrer Mehrheit allerdings noch weniger.


Zwar hat das kulturelle Schibboleth dieses Milieus, der Konsum volksmusikalischer Produkte von Karl Moik bis DJ Ötzi, im Fernsehen ungebrochen Konjunktur. Doch zeigt das nur, dass dieses Medium eher die großen Märkte bedient als die kleineren Nischen. Deutschland ist vielfältiger geworden, als das Abendprogramm der großen Fernsehkanäle erkennen lässt. Diese Vielfalt bringt die Union in eine Zwickmühle. Es könnte ihr ergehen wie einst dem Volkswagenkonzern: Irgendwann kam der Punkt, an dem der schiere Erfolg des Käfers die Innovationskraft des Konzerns erschöpfte. Es spricht vieles dafür, dass auch die Union heute in der Käferfalle sitzt.

Viele Einwanderer sind konservativ - und wählen trotzdem nicht CDU

Ganz deutlich wird das strategische Dilemma beim Umgang mit den Einwanderern. Die Union hat 1999 in Hessen einen großen Erfolg errungen, den sie auf die Mobilisierung von Aversionen gegen Ausländer zurückführt. Sie spielte auch im abgelaufenen Bundestagswahlkampf vernehmlich mit der Idee, die Novelle des Zuwanderungsrechts zur Mobilisierung eines Teils ihrer deutsch-nationalen Anhänger und zur Demobilisierung potenzieller Schröder-Wähler zu nutzen. Das hat ihr 2002 zwar mehr geschadet als genutzt, aber manche Unions-Konservative werden dafür eher die Halbherzigkeit des Versuchs verantwortlich machen als das Thema selbst. Ihnen erscheint Fremdenfeindlichkeit immer geeignet, aus lauwarmen Unterstützern heiße Wähler zu machen.


Doch solange die Partei weiter Überfremdungsängste instrumentalisiert, wird sie bei den Ausländern, die zu uns kommen, nichts gewinnen können - und erst recht nicht bei denen, die bereits hier leben. Obwohl dieser Bevölkerungsteil überwiegend konservativ gesinnt ist, liegt die Zustimmung zu den Roten und den Grünen in dieser Gruppe bei etwa drei Vierteln der Stimmen. Mittelfristig wird diese Schwäche der Union nicht mehr von der großen Unterstützung aufgewogen, die sie von den deutschstämmigen Aussiedlern erfahren. Trotzdem werden prominente Unionspolitiker auch weiterhin keinen Respekt vor der Leistung und dem Beitrag der Einwanderer und hier lebenden Ausländer bekunden. Das wird der Partei langfristig schaden - und dennoch könnte sie ihre Haltung zur Zuwanderung nicht ohne weiteres ändern. Der Preis dafür wäre tiefe Enttäuschung ihrer treuesten national gesinnten Stammwähler sowie verschärfter Konkurrenzdruck von Seiten rechts-populistischer Gruppen.


Vor einem ähnlichen Dilemma steht die Union in Ostdeutschland. Spätestens seit 1998 ist sichtbar geworden, dass die Christdemokratie und ihre westdeutschen Wähler ein Problem mit der Tatsache haben, dass vierzig Jahre DDR an den dort lebenden Menschen nicht spurlos vorübergegangen sind. Die Union mag für sich beanspruchen, die Partei der Einheit sein, sofern man darunter eine historische Fiktion der Nachkriegszeit versteht. Die Partei der tatsächlichen Vereinigung Deutschlands, seines sozialen und kulturellen Zusammenwachsens, ist die CDU sicherlich nicht. Im Gegenteil: Zu oft hat die Partei mit Attacken auf die PDS die anti-kommunistischen Affekte ihrer Klientel wiederbelebt. Immer wieder hat sie, um der SPD im Westen zu schaden, die PDS mit plumpen Ressentiments attackiert. Das hat diese in ihrer selbst gewählten Rolle als Interessenvertreterin der gedemütigten und missverstandenen Ossis nur bestärkt. Die Union hat, wie Stoibers Auftritte im Osten plastisch vorführten, keinen Zugang zu den Lebenswelten der Ex-DDR. Aufgrund ihrer südwestdeutschen Prägung lässt sie allzu deutlich erkennen, dass ihr Maßstab für den Osten noch immer allein die alte Westrepublik ist. Um Erfolge im Osten zu feiern, ist die Union deshalb (wie etwa im Frühjahr 2002 in Sachsen-Anhalt) auf akute Proteststimmungen angewiesen.

Nur in der CDU hat man noch Angst vorm "Bürgerschreck"

In Westdeutschland hat die Partei andere Probleme. Hier kreisen die Union und ihre publizistischen Unterstützer um einen angestaubten Begriff von Bürgerlichkeit, der ihnen den Zugang zu jüngeren Milieus in der Republik verbaut. Daraus entsteht ihr zentrales strategisches Dilemma. Die Union benutzt das Konzept der Bürgerlichkeit in traditioneller Weise, also abgrenzend. Der Gegenstand der Abgrenzung stammt aus den kulturellen Konflikten seit 1968. Den damaligen Protagonisten der Jugendbewegungen verliehen die Springerzeitungen mit Vorliebe das Etikett "Bürgerschreck" - ein Typus, der durch unkonventionelles und provozierendes Verhalten die Durchschnittsdeutschen verängstigte. Aber selbst denen und mehr noch ihren Kindern kommen die Konflikte der sechziger und siebziger Jahre heute einigermaßen antiquiert vor. Nicht so ihren seitengescheitelten Gegnern von einst.


Darin liegt eine gewisse Tragik. Die heute vierzig- bis fünfzigjährigen Christdemokraten geraten nämlich erneut, wie schon in ihren jungen Jahren, in die Position einer kulturellen Minderheit. Wer - außer dem durchschnittlichen Delegierten eines CDU- oder CSU-Parteitages - stützt heute ernsthaft ein Urteil über einen anderen Menschen darauf, ob der einen Trauschein hat oder nicht? Auf dessen Kleidungsstil? Auf Tätowierungen oder Körperschmuck? Lange schon sind die Ausdrucksformen von Jugendkulturen nicht eigentlich mehr Ausdruck einer ideologisch fundierten antibürgerlichen Lebensweise. Nur Christdemokraten wie Friedrich Merz oder Eckart von Klaeden sind gezwungen, auf den von Rentnern dominierten Unionsversammlungen, die Kämpfe von einst immer wider aufs Neue auszutragen.


Die Denkfigur der "bürgerlichen Mitte" in der Union offenbart vor allem ein ausgrenzend-elitäres Weltbild. Zumindest Teilen der Union geht es um politische Herrschaft auf der Grundlage willkürlich als verbindlich definierter Werte, die als Erbe deutscher Geschichte oder einer diffus gewordenen christlich-abendländischen Kultur ausgegeben werden. Die Ablehnung der Zuwanderung gehört in dieses Denkmuster ebenso wie die Grundsatzdebatte um die Europatauglichkeit der Türkei. In einer vielgestaltigen Gesellschaft wie der deutschen ist die Zeit einer Herrschaft des Ressentiments gegen das Andere, das Fremde oder Bunte jedoch vorbei.


Zu einer bürgerlichen Lebensweise gehörte immer auch ein System von gemeinsamen Werten und Normen wie Disziplin und Ordnung, Nation und Religion, Leistung und Erfolg, Fleiß und Arbeit, Pflicht und Beruf. Bürgerlichkeit impliziert rationale Lebensführung, Individualität, innengeleitete Motivation und selbständiges Urteil, aber auch hohe Wertschätzung von Familie und Verwandtschaft sowie ausgeprägte geschlechtsspezifische Rollenteilung. In einer Republik der milde gestimmten Hedonisten, der verständnisvollen Sozialarbeiter, der engagierten Vereinsmenschen, der staatsbetreuten Ostdeutschen und der routinierten Interessenvertreter bleiben diese Werte der bürgerlichen Mitte notwendigerweise ein Minderheitenprogramm.


Aus all diesen Gründen kratzen die meisten Analysen des Wahlergebnisses der Union allenfalls an der Oberfläche. Auch jene, die in der Partei hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht werden. Angesichts des Ergebnisses in Bayern ist für CDU und CSU das Argument verbaut, mit einer anderen Kandidatin wäre es vielleicht gelungen. Das gerade in der CDU beliebte Personalisieren von Niederlagen bietet keinen Ausweg, denn die Stimmen, die Angela Merkel womöglich nördlich des Mains und östlich der Elbe geholt hätte, wären ihr in Bayern verloren gegangen. Weil sie das weiß, streitet sich die Union so unlustig über Richtungen und hofft, der Popularitätsverlust der Regierung werde ihr die Anstrengung abnehmen, riskante Reformen einzuleiten. In der vollmundig "Strategiedebatte" getauften Auseinandersetzung der Christdemokraten mit ihrer Wahlniederlage kommen deren grundlegende Strategieprobleme jedenfalls nicht zur Sprache. Statt dessen konzentrieren sich christdemokratische Denker und ihre zur freien Rede fähigen Altvorderen auf die vergleichsweise triviale Frage, ob man vielleicht ein konservativeres oder doch besser ein liberales Image hätte pflegen müssen.

Die Union braucht die Konservativen. Und die Jungen. Und die Frauen

Für beides lassen sich ja gute Argumente finden: Mit seinem Weichspülkurs habe Stoiber endgültig bewiesen, dass es für die Union in der Mitte nicht reiche, sagen die einen. Die anderen weisen auf die geringe Zahl der Städter sowie den kümmerlichen Anteil junger Frauen unter den CDU-Wählern hin - und denken sich moderne Aspekte der Union aus, die man diesen Wählern näher bringen müsse. Doch es hilft nichts: Will die Union tatsächlich bei einem Ergebnis von "40 plus x" landen, benötigt sie konservative und liberale Wähler gleichermaßen. Und die Jungen. Und die Frauen. Und die Ostdeutschen noch dazu. Sie muss ihre Traditionskompanien in Trachtenjanker und Kniebundhose vollzählig an der Wahlurne antreten lassen. Aber die müssen obendrein noch eine Schar von Enkeln und ein paar Verbündete aus dem mittleren Management mitbringen, wenn es in Zukunft noch einmal zum Wahlsieg reichen soll.


Die strategische Lage der Union wird durch den Zustand des so genannten bürgerlichen Lagers noch erschwert. Selbst mit einem besseren Ergebnis als jenen 38 Prozent der Stimmen, welche die Union 2002 erreichen konnte, würde sie einen Bündnispartner benötigen. Die FDP aber, selbst wenn sie denn von wohlhabenden Gönnern und beunruhigten Redakteuren der Frankfurter Allgemeinen als bürgerliche Kraft gerettet werden kann, bewegt kaum mehr als sieben bis acht Prozent. Nur wenn sie nach dem Möllemann-Rezept ihre Wählerbasis erweiterte, könnte die Partei auf einen größeren Stimmenanteil hoffen. Damit jedoch würde sie instabil - und außerdem unappetitlich für die bürgerlich-konservative Klientel der CDU.


Wahrscheinlich böte nur eine weitere, auf dem rechten Spektrum angesiedelte Partei wie die des Hamburger Partylöwen Ronald Barnabas Schill kurzfristig eine Mehrheitsbasis. Dabei handelt es sich aber nur um eine arithmetische, nicht um eine politische Kalkulation. Denn nach den peinigenden Erfahrungen, welche die Union zurzeit in Hamburg mit ihren neuen Freunden sammeln kann, sind solche Bündnisse unzuverlässig und unattraktiv. Eine strategische Perspektive für die Union bieten sie - von politischen Anstandsfragen einmal ganz abgesehen - nur dann, wenn ein großer Teil der Wähler der populistischen Partner beim nächsten Mal wieder CDU wählt. Das ist jedoch unwahrscheinlich, weil die meisten dieser Wähler nach der Enttäuschung über die populistischen Newcomer wieder ins Lager der Nicht-Wähler zurückfallen werden - bis ihnen der nächste Messias erscheint.


Die anderen rechnerisch naheliegenden Koalitionspartner, die Grünen, sind heute weiter von der Union entfernt, als sie es jemals von der SPD waren. Schwarz-Grün ist eine Chimäre, doch unglücklicherweise eine, die zu realisieren für die Union von herausragender Bedeutung wäre. Ein solches Bündnis würde die Christdemokraten in eine tiefe Krise stürzen, versuchten sie es wirklich. Die SPD benötigte mehr als zehn Jahre, um ihre Mitglieder und Anhänger an stabile Koalitionen mit den Grünen zu gewöhnen. Die Union hat damit noch nicht einmal begonnen. Die Partei ist nicht mit allen politischen Kräften koalitionsfähig. Strukturell ist sie deshalb nur durch zufällige Ergebnisse mehrheitsfähig. Und das ist die deutlichste Manifestation ihrer strukturellen Defizite.

Im Abseits der besitzbürgerlichen Monokultur

Beheben lässt sich das Problem der unvollständigen Verankerung der Union in der deutschen Bevölkerung nicht so rasch. Schon gar nicht mit allgemeinen Deklarationen eines christdemokratischen Wertekanons. Darin liegt ohnehin ein großes Missverständnis. Die Union folgt ihren kulturkritischen Instinkten und verengt so ihre Strategiedebatte auf Wertfragen. Sie inszeniert Wertedebatten, die nicht verbunden werden mit den Zielen und Instrumenten ihrer praktischen Politik.


Ein kleines, aber nicht unwichtiges Beispiel ist der unüberbrückbare Gegensatz zwischen der Medienpolitik einerseits und den von ihr propagierten Grundsätzen der Erziehung andererseits. In Sonntagsreden fordern Christdemokraten Herzensbildung und intakte Familien mit liebenden, möglichst nicht berufstätigen Müttern. Im harten Alltag aber fördert die Partei unter dem Schlachtruf der Freiheit der Medien die Interessen des Privatfernsehens. Sie lässt sich dabei von Leuten wie Leo Kirch unterstützen, der den deutschen "Markt" für die "Kids" in den letzten beiden Jahrzehnten mit geistloser Massenware aus Fernost überschwemmt hat.


Früher nannte man das Heuchelei. Heute ist der Partei dieser Widerspruchs nicht einmal mehr bewusst. Er wird anhalten, solange sich die Union nicht aus den Fängen der National-Konservativen mit wirtschaftsliberalen Neigungen befreien kann. Sie braucht, wenn sie Volkspartei bleiben will, ebenso wie die SPD Vielfalt statt besitzbürgerlicher Monokultur. Edmund Stoiber, Wolfgang Schäuble oder Friedrich Merz verkörperten im Wahlkampf 2002 eine solche Kultur. Die Bürgerlichkeit der Partei wird heute jedoch nur noch aus Anti-68er-Ressentiments gespeist. Es fehlt sowohl das Personal als auch das Programm, mit dem Ostdeutschland, junge Frauen und vor allem die bildungsbürgerliche städtische Bevölkerung zurückgewonnen werden könnten.


Das Problem der Union liegt vor allem in ihrer Fixierung auf vergangene Konflikte, die sie nicht neu überdenken will. Wenn Parteien Derivate großer politischer Richtungskämpfe sind, in denen ideologische und strategische Entscheidungen größerer Bevölkerungsgruppen organisiert werden, dann lebt die Union in der Zeit der letzten sie prägenden großen Konflikte. Ihre wichtigsten Repräsentanten sind bis heute geistig der einstmals neokonservativ genannten Tendenzwendeliteratur der siebziger Jahre verbunden. Deren Ziele und Instrumente empfehlen die damaligen Aktivisten der Jungen Union, die heute die Partei beherrschen, noch immer. Die Union ist nicht, wie ihr etwa Angela Merkel, Christoph Böhr und Alois Glück immer wieder predigen, einem christlichen Menschenbild verpflichtet. Die Mehrheit ihrer Repräsentanten will tatsächlich eine Politik der Entlastung des Staates von einer Überlast der an ihn gerichteten Forderungen betreiben.


Ziel dieser Entlastung war und ist der starke, handlungsfähige Staat, der endlich wieder seine Kernaufgaben erledigen kann. Im Alltag erwies sich dieses Ideal allerdings schon in der langen Kohl-Zeit als illusionär, war die Regierungspraxis der Union pragmatisch an den Realitäten einer entwickelten Verhandlungsdemokratie orientiert. Trotzdem huldigte noch der wahlkämpfende Edmund Stoiber vor der versammelten christdemokratischen Elite im Französischen Dom in Berlin dem Ideal des starken, moralisch eindeutigen und entbürokratisierten Staates.

Das hilflose Verlangen nach dem "Ruck"

Die Linke dagegen pflegt heute eine Skepsis gegenüber den Machtinstrumenten des Staates, die der deutschen Verhandlungsdemokratie angemessener erscheint. Das wichtigste Prinzip der rot-grünen Regierung heißt Konsens. Die Reichweite von Macht ist begrenzt, wo es auf die aktive Mitwirkung der einzelnen Gruppen der Bevölkerung ankommt. Christdemokraten und ihre publizistischen Unterstützer dagegen fordern immer aufs Neue die mannhafte Konfrontation "der Politik" mit den Interessengruppen - zumindest solange es sich um die Gewerkschaften handelt. Dem Ideal, gleichzeitig Stärke und Zurückhaltung zu zeigen, kann Politik heute aber gar nicht mehr gerecht werden.


Konservative reagieren auf ihre ständige Frustration an der Verhandlungsdemokratie mit dem Appell an den guten Willen des Einzelnen. Mit dem hilflosen Verlangen nach einem "Ruck", der endlich durch das Land gehen müsse, erinnern sie an glorreiche vergangene Zeiten, als das Anpacken noch etwas geholfen hat. "Ruck", das heißt, auf ein staatsbürgerlich-national begründetes Extra zurückgreifen zu wollen, das der Nation und ihrem Wohlergehen geschuldet ist. Abgesehen von der Tatsache, dass sich hierin eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der Verbände- und Parteiendemokratie offenbart, ist diese naive Ideologie problematisch für die Union. Denn in der politischen Praxis muss sie sich ständig in Widersprüche verwickeln. Wer so argumentiert und gleichzeitig die Interessen einiger starker Verbände bedient, sorgt doch nur dafür, dass Blut-Schweiß-und-Tränen-Rhetorik irgendwann hohl und unglaubwürdig erscheint.


Ähnlich ergeht es der Union mit ihren christlich-sozialen Wurzeln. Über sie stolpern Unionspolitiker gelegentlich im Kampf für die Freiheit der Leistungsstarken im Lande. Bei der Debatte über die Grenzen der Gentechnologie etwa überließ die Union schamhaft einigen wertkonservativen Sozialdemokraten den lautstarken Vortrag von Bedenken gegen Eingriffe in die Schöpfung - aus Furcht davor, als fortschrittsfeindlich zu gelten. Ähnlich geht es ihr mit der Globalisierung: Vor lauter Eifer, Deutschland "fit" zu machen für den internationalen Wettbewerb, vernachlässigt die Union ihr Gespür für die Lebenswelten der Menschen, die in dieser offenen Welt zurechtkommen müssen. Als Ersatz für Arbeitsplätze, einen festen Ort im Leben und eine stabile Berufsidentität fallen Christdemokraten dann nur noch sinnentleerte Schlagworte wie "Vaterland" und "Leitkultur" ein. Kein Zweifel: die Union leidet an der Auszehrung des Konservatismus in Deutschland, der sich seit den siebziger Jahren vollends an einen zweifelhaften Fortschritt verkauft hat.


Das führt zu manchem paradoxen Konflikt. Denn es sind heute die linken Parteien der Republik, die dem Fortschritt zögerlich begegnen. Betrachtet man etwa die im zurückliegenden Wahlkampf geborene Vorstellung von einem "Deutschen Weg", so führt dieser in direkter Ahnenfolge zurück zu Edmund Burke, dem Stammvater des modernen Konservatismus, der in seinen Reflexionen über die Revolution in Frankreich das Gewachsene, das Nahe, das Vertraute und Individuelle pries. Dagegen erscheinen heute die Adepten des Neoliberalismus als Schüler der von Burke verteufelten radikalen Aufklärer: Unpraktische, abstrakt denkende Ideologen, die in ihrer selbst geschaffenen Systemlogik und im Kopf entworfenen Gebilden leben. Zum Beispiel in einer Volkswirtschaft, in der radikale Steuersenkungen und niedrigste Abgabenlasten in Zeiten der wirtschaftlichen Krise höhere Staatseinnahmen und dem Individuum besseren Schutz vor den Risiken des Lebens bieten; in der aus Bild-Lektüre und Kirch-Fernsehen die Lösung für Bildungsmängel gedeihen; und in der eine wundersame Kindervermehrung mit Staatsknete zu kaufen ist.

Konservative sind nicht mehr, was sie waren. Linke aber auch nicht

Kein Zweifel, Konservative sind nicht mehr, was sie einmal waren. Linke übrigens auch nicht. Und deshalb ist die vom Konservatismus in Deutschland hinterlassene Leerstelle der politische Ort, an dem sich die Frage nach der Mehrheitspartei in dieser Republik entscheiden wird. Längst schon, in den Auseinandersetzungen mit den Ökologie- und Friedensproblemen der industrialisierten und militarisierten Welt, haben sich die alten Fronten verkehrt. Die sich selbst als konservativ bezeichnenden Kräfte haben sich darauf festgelegt, dass das Wesen der modernen Welt der dauernde Wandel sei. Ihn um beinahe jeden Preis gegen die Widerstände der zotteligen Ökopaxe dieser Welt zu verteidigen ist ihr inzwischen anachronistisch gewordenes Credo seit der letzten großen geistigen Schlacht dieser Republik. Seitdem träumen die verdrehten Konservativen von einem entlasteten und dadurch gestärkten Staat, der zu Richtungskämpfen wieder taugt.


Den Vertretern des Industrialismus standen einst jene gegenüber, denen die Bewahrung der natürlichen Schöpfung und der geistigen Voraussetzungen der Demokratie wichtiger erschien. Längst schon sind die Barrikaden der siebziger und achtziger Jahre unbemannt. Sie sind Denkmuster geworden, die nicht mehr an diese akuten politischen Kämpfe angebunden sind. Die selbst ernannten Liberalen und Konservativen beschwören romantisch den starken Staat. Die anderen haben die Demokratie im Verbändestaat seufzend akzeptiert. Ihnen ist die pragmatische Verhandlung, der Kompromiss und die Überredung vertrauter; sie erscheint ihnen, den ehemaligen Linken, nicht als unnatürlich oder den Staat schwächend.


Die großen Trends der Politik oder des Staates aber weisen genau in diese Richtung, nicht erst seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sondern schon weit länger. Schon Carl Schmitt, der geistige Vater des spezifisch deutschen Konservatismus, entlarvte den Leviathan - seit Hobbes das Sinnbild des starken Staates - als vormodern und romantisch. Die großen Kämpfe finden schon lange nicht mehr zwischen Staat und Gesellschaft statt. Sie drehen sich vielmehr um das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, und damit um die Koexistenz von individueller Freiheit und Solidarität in liberalen Demokratien.

Wo der Kampfplatz der großen Parteien liegt

Das Ergebnis dieser vorerst letzten großen geistigen Auseinandersetzung in der Politik ist die Vertauschung der Lager. Heute kümmern sich die Linken um die Nahwelten, um das Erfahrene und das Gelebte, um die Familie und die Erziehung, die Nachbarschaften und das freiwillige Engagement, um die weichen menschlichen Themen. Das artikuliert sich am Rande auch im Streit um die Globalisierung, der zur Wiederaufführung der Friedensbewegung mit Frequent-Flyer-Ticket, Modem und Rastafari-Look gerät.


Die Konservativen und Liberalen setzen dagegen auf die Überredungskraft der Sachzwänge einer entfernt und abgehoben erscheinenden Systemwelt. Vor allem die Weltwirtschaft mit ihrem oft beschworenen Heer arbeitswilliger, anspruchsloser, weltweit flexibler harter Arbeiter ohne Urlaubsanspruch, das trotz frugaler Ernährung weder krank noch aufmüpfig ist, hat noch immer als Gottseibeiuns der Verbände im Kampf gegen Forderungen der Arbeitnehmer funktioniert. In der Standortdebatte der späten neunziger Jahre hat die Republik diese Rhetorik zuletzt erlebt; in der aktuellen Wirtschaftskrise werden die alten Artikel und Redebausteine bei der Union und ihren Hilfstruppen wieder aus den Schubladen geholt.


Kurzum, die Politik der Entlastung des Staates und der Leistungsfähigen von der drückenden Bürde der Solidarität ist zwar in Deutschland nicht mehrheitsfähig geworden. In schwierigen Zeiten aber erfreut sich diese einfache Logik großer Beliebtheit. Ihre Instrumente haben eine schlichte Überzeugungskraft. Sie gleichen dem Schwert, das den gordischen Knoten durchschlägt. Schade nur, dass man im wirklichen Leben nicht weiß, was die Leinen halten sollen, die sich da zu einem Knoten verwickelt haben. Gut möglich, dass sich dieser Halt als wichtig erweist. Deshalb besteht die Kunst der Politik längst nicht mehr im verwegenen Schlag. Die Aufgabe der Politiker ist heute das Zusammenführen von Gegensätzlichem. Konkret heißt das, den klugen Wertkonservatismus der kulturellen Mitte zu vereinen mit der an Effizienz interessierten ökonomischen Logik der politisch ungebundenen Neuen Mitte. Hier liegt der Kampfplatz der großen Parteien. Hier entscheidet sich ihre Mehrheitsfähigkeit. Bis auf weiteres ficht die Union jedoch lieber alte Kämpfe aus. Sie scheut den Abschied von überkommenen Erfolgsrezepten. Deshalb könnte es sein, dass ihre Erfolge seltener werden. Gewiss kann die Union noch Wahlen gewinnen. Für das aber, was dann auf sie wartet, ist sie nur schlecht gerüstet.

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