Ein Sozialsystem hat Sonnenstich

Wofür steht "Florida-Rolf"? Ist der Ehrliche immer der Dumme? Und haben in unserem Sozialsystem stets die besonders cleveren Opfer die Nase vorn? Einige grundsätzliche Überlegungen zum Zustand der Solidarität in Deutschland

Inzwischen kennt jeder einen der Menschen, die Deutschland ruinieren und dabei auch noch über uns lachen. Eine Woche lang hat "Florida-Rolf", der entspannte Sozialhilfeempfänger unter Palmen mit Wohnsitz in Miami, Leser und Verächter der Bild-Zeitung von der Frontseite aus angelächelt. Der groteske Fall wird in der öffentlichen Debatte vermutlich lange nachwirken. Was bislang dem halböffentlichen Sprechen hinter vorgehaltener Hand oder in vertrauter Runde vorbehalten war, wurde von der Bild-Redaktion in reißerischer Manier, aber mit aufklärerischem Ergebnis, auf die erste Seite ihres Blattes gezerrt.


Dass irgendetwas faul ist in diesem Staat, kann seither jeder erregte Bürger am Beispiel des freundlich dreinschauenden Ex-Kredithais und Ex-Immo-bilienmaklers belegen. Welche Gesetze ermöglichen es, so fragt sich beileibe nicht nur der sprichwörtliche Stammtisch, dass ein von Lachfalten gezeichneter Mittsechziger 1900 Euro pro Monat in der Sonne Floridas verbrät, die ihm freundliche Damen und Herren vom Sozialamt überweisen.


Gewiss, Florida-Rolf hatte Glück. Glück im deutschen Sozialstaat funktioniert allerdings anders. Eine Bauchspeicheldrüsenentzündung zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort, ein verständnisvoller und kreativer Psychiater, und schließlich ein Richter, der nach einem ausgedehnten Urlaub unter Palmen ein wenig Verständnis für eine Deutschland-Allergie aufbringt. Unwillkürlich fällt einem die alte Lotto-Werbung ein: "Es trifft mehr, als man denkt". Aber das tut es eben nicht, und genau da liegt das Problem bei diesem Fall. Florida-Rolf ist ein Extrembeispiel, wie uns Kenner der Materie zur Beruhigung versichern. Dabei bringen sie das Publikum so erst richtig auf die Palme.

Empörend am Fall von Florida-Rolf ist für manchen ja schon, dass offenkundig kein allgemeiner Anspruch auf Strand und Palmen bei der Sozialhilfe durchzusetzen ist. Die meisten Deutschen werden wohl auch in Zukunft in die Röhre schauen oder selbst zahlen müssen, wenn sie ihre Urlaubstagträume ausleben wollen. Keine Frage, auch wenn das Sozialgesetzbuch etwas ambitiös verkündet, dass Sozialhilfe ein menschenwürdiges Dasein sichern wird, auch wenn sie gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit schaffen soll, und selbst wenn sie besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen verspricht - Florida-Rolfs Lebensstandard für alle zu garantieren wäre wohl für den Sozialstaat Deutschland ruinös.

Tierischer Stress mit dem Prozess

Sicher, die Tatsache, dass andere Menschen lange arbeiten müssen, um eine solche Summe netto nach Hause zu tragen, hat viele Zwangsarbeitende dazu verleitet, ihr Foto und ihre Stellungnahme an die Redaktion der Bild-Zeitung zu schicken, auf dass sie dem Luxusopfer Rolf J. ins Gewissen schreibe. Die Hoffnung allerdings trog, dass er angesichts der offenkundig werdenden Wahrheit, dass Einkommen und Arbeit für die meisten Bundesbürger immer noch irgendwie zusammenhängen, reumütig sein Treiben einstellen werde. Für den Ex-Banker sind Summen wie jene, die ihm das Sozialamt überweist, vermutlich Peanuts. Und außerdem, so meint Rolf J., habe er mit dem Prozess irgendwie doch tierischen Stress auf sich genommen. Und Arbeit muss sich schließlich lohnen.


Ist der Fall Florida-Rolf am Ende doch mit der herrschenden Ideologie einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft vereinbar, die festlegt, dass in freier Wahl definierte Formen von Arbeit einen Verdienst rechtfertigen, wobei dessen Höhe vom Zufall und vom jeweiligen Marktgeschehen abhängt? Findigkeit, Hartnäckigkeit und Chuzpe hat Rolf J. jedenfalls in einem Maße bewiesen, das jedem Gebrauchtwagenhändler zur Ehre gereichen würde. Hier stoßen wir denn auch auf das eigentlich Anstößige des Falls Florida-Rolf. Den Leser der Bild-Zeitung, aber auch die weniger erregbaren Teile der deutschen Öffentlichkeit beschleicht das Gefühl, dass wieder einmal der Ehrliche der Dumme ist. Oder andersherum: dass man mit Schläue auf Kosten anderer Menschen ungeheuer gut vorankommt.

Das Opfer als Rechtssubjekt

Das aber widerspricht zutiefst dem Grundgedanken solidarischer Hilfe - und darum handelt es sich bei der Sozialhilfe. Der gegenseitige Schutz vor der unverschuldeten, existenziellen Notlage - das ist die Fiktion, auf der die Solidarität aller Mitglieder einer Gesellschaft aufbaut. Das, wogegen man sich gegenseitig versichert, kann ja jedem irgendwann einmal passieren, selbst dem ehemaligen Kredit- und Immobilienhai. Aber genau da liegt das Problem: Was die Bild-Zeitung in großen und kleinen Buchstaben ausbeutet, ist die Tatsache, dass genau dies nicht jedem passieren kann und wird. Auch wenn die Wünsche bescheidener sind, es nicht das Appartement mit Meerblick in Florida sein muss, selbst wenn es nur die Datsche an der Müggelspree ist: Nicht jeder wird den bescheidenen Rentnertraum vom unbeschwerten Dasein auf Kosten des Steuerzahlers verwirklichen können.


Der Status des Opfers von nicht selbst verschuldeten oder verursachten Umständen bildet die Legitimation für die solidarische Unterstützung von Bedürftigen. Die deutsche Sozialgesetzgebung hat Arme und Bedürftige vom Objekt staatlicher Fürsorge zum Rechtssubjekt gemacht. Wer sich selbst nicht mehr helfen kann, hat in Deutschland Anspruch auf die Hilfe aller. Selbst dann, wenn er sich eine exotische Krankheit zulegt wie die Mischung aus Bauchspeicheldrüsenentzündung und einem unüberwindlichen Widerwillen dagegen, im Lande seiner solidarischen Mitbürger sein Leben zu verbringen.


Was die Grenze des Zumutbaren ist, was der Einzelne aushält, wann seine Lebensumstände nicht mehr auszuhalten sind und die Gesellschaft ihm Stütze schuldet, darüber befindet in letzter Konsequenz jeder Einzelne selbst. Eine Arbeit, die Kurt B. oder Erika M. zumutbar ist, könnte für Rolf J. unzumutbar sein - wenn für Florida-Rolf überhaupt eine Arbeit zumutbar ist. Das klingt irgendwie emanzipatorisch und gut, aber doch auch beunruhigend. Sicher, die Entscheidung über das individuelle Ansinnen, Hilfe zu bekommen, ist in der überwiegenden Zahl von Fällen standardisierbar. Davon konnte man in der Bild-Zeitung lesen, dass beispielsweise Menschen mit behinderten Kindern oft nur den Regelsatz für deren Betreuung oder Windeln bekommen, streng nach Gesetz und Ermessen des Amtes. Aber was ein menschenwürdiges Leben ist, und was der Einzelne benötigt, um die Chance zu haben, wieder aus der Notlage herauszukommen - darüber entscheidet eben doch die Einzelfallprüfung.

Kreative Richter und Psychiater

Dieser Grundsatz jedoch hat eine in den vergangenen Jahrzehnten des Ausbaus unseres Sozialstaats nur unzureichend diskutierte Kehrseite. Denn einige besonders Schlaue - jeder kennt da einen - loten die individuellen Spielräume aus und finden Wege, noch menschenwürdiger als andere vom Geld anderer Leute zu leben. Drückt man das Problem abstrakter aus, degradiert die Mündigkeit der Leistungsempfänger diejenigen, die von ihrem hart erarbeiteten Einkommen zwangsweise Solidarbeiträge in Form von Steuern und Abgaben leisten müssen, zum zahlenden Objekt. Denn es wird zwischen Staat und dem bedürftigem Opfer ausgehandelt, was dem Opfer denn nun individuell zuzumuten ist.


Hierbei ist jedoch eine Grauzone des Ermessens von Sozialamtsmitarbeitern, Ärzten, verständnisvollen und kreativen Psychiatern und Richtern entstanden, in der Existenzen wie die von Florida-Rolf gedeihen können. Von außen betrachtet, aus der Sicht derer, die hart arbeiten und sich an die - überwiegend noch immer ungeschriebenen - Regeln halten, sind manche Entscheidungen in dieser Grauzone einfach nur unverständlich und verrückt. Dieses Empfinden ist berechtigt, denn die Prinzipien, nach denen die arbeitende Bevölkerung Beiträge leisten muss, sind andere als die, nach denen die Leistungen bemessen werden, die Teile der nicht arbeitenden Bevölkerung empfangen.

Wer fragt schon die Lidl-Kassiererin?

Die Zumutung, Solidarbeiträge zu leisten, richtet sich an ein Kollektivsubjekt, dem die meisten Menschen schicksalhaft angehören - sie konnten es sich nicht aussuchen. Die Eigenschaft, beispielsweise Deutscher und doch zumindest Steuerzahler und damit sozialstaatlich solidarisch zu sein, wird dem Einzelnen zugeschrieben. In dieser Hinsicht ist er oder sie zunächst Objekt. Wer fragt schon die Kassiererin im Lidl, ob sie lieber Sozialbeiträge leistet und ihre Wohnung putzt - oder nicht doch eher Lust darauf hat, ihren Lebensabend in Florida zu verbringen?


Die Sozialhilfe hingegen wird einem Subjekt zugemessen, dessen individuelle Problematik im Einzelfall geprüft wird - bis hin zur Putzfrau für den psychisch und physisch nicht belastbaren Ex-Banker. Nahtlos passen diese Grundsätze nicht zusammen. Aus den Widersprüchen speist sich das Unbehagen und manchmal die Wut über Fälle wie Florida-Rolf. Denn die Inszenierung der Cleverness, mit der unser Sozialsystem gegen die meisten seiner unausgesprochenen Prämissen eingesetzt werden kann, ist keineswegs die unvermeidliche Ausnahme, die ein im Kern gutes Sozialrecht nicht zu erschüttern vermag. Sie ist vielmehr die logische Konsequenz eines Rechts, das die Ausnahme zur Regel gemacht hat. Manch einer könnte daran in Zukunft so sehr leiden, dass er sich eine unheilbare Deutschland-Allergie zuzieht.

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