Die Bundesregierung unterschätzt die Energiewende

Die Politik muss klare und sinnvolle Ziele für eine saubere, sichere und wettbewerbsfähige Energiepolitik definieren. Nur dann kann auch die Industrie ihren Beitrag leisten.

Kein anderes Land in Europa verfügt über eine so breite industrielle Basis wie Deutschland. Wir sind führend im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, in der Elektrotechnik, im Automobilbau und bei den Werkstoffen wie zum Beispiel Stahl. Diese tragenden Säulen der deutschen Wirtschaft müssen wir stärken. Derzeit ist die Energie- und Klimapolitik für die deutsche Industrie die größte Herausforderung – und zugleich das größte Risiko. Es geht um die Korrektur ungeeigneter Ziele, die Vermeidung von Ressourcenverschwendung, den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit und darum, Planungssicherheit für Investitionen und Innovationen zurückzugewinnen.

Deutschland muss Vorreiter sein bei Klimaschutz und alternativen Energien. Mit unserer Innovationskraft sind wir in der Lage, Produkte und Lösungen zu entwickeln, die uns weltweite Geschäftschancen eröffnen. Der ständig steigende Hunger der Weltbevölkerung nach mehr Konsum- und Industriegütern, Rohstoffen und Energie macht ein „Weiter so“ unmöglich. Dem wachsenden Bedarf stehen die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und die berechtigte Sorge um unsere Umwelt gegenüber.

Nötig sind Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit

Mit ihrer Technologiekompetenz hat die deutsche Industrie unbestritten eine internationale Vorreiterrolle. Die Frage ist aber, ob wir diese Position unter den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen auch halten können. Bis zum Frühjahr 2011 waren die Rahmenbedingungen für die Industrie klar und nachvollziehbar. Wir haben enorme Anstrengungen unternommen und den Verbrauch von Rohstoffen und Energie sowie den Ausstoß von Kohlendioxid deutlich gesenkt. Die Unternehmen taten dies aus Eigeninteresse, um ihre Kosten zu senken. So hat die Stahlindustrie seit 1990 ihren Energieverbrauch um 40 Prozent und ihren Kohlendioxid-Ausstoß um rund 25 Prozent gesenkt. Damit erreichen die deutschen und europäischen Hochöfen im weltweiten Vergleich die niedrigsten Werte beim Kohlendioxid-Ausstoß pro Tonne Rohstahl – nahe am theoretischen Minimum. Denn bei der Stahlherstellung werden Kohle und Koks nicht als Brennstoff, sondern als chemisches Reduktionsmittel eingesetzt. Ohne einen Mindesteinsatz von Kohlenstoff ist die Produktion von Stahl unmöglich.

Über diesen Sachverhalt haben wir mit der Politik in Berlin und Brüssel intensiv diskutiert. Es ist unverständlich, dass in Brüssel dennoch – mit Unterstützung von deutscher Seite – ein Benchmarkwert ab 2013 festgelegt wurde, der unterhalb des theoretischen Minimums liegt. Diesen Grenzwert können wir nur einhalten, wenn die Produktionsmengen reduziert werden. Im Klartext: Chinesische Hersteller, die bei der Stahlerzeugung nicht selten 500 Kilogramm mehr Kohlendioxid pro Tonne Stahl erzeugen, werden Mengen aus den effizientesten Hochöfen in Deutschland und Europa übernehmen. Die weltweite Kohlendioxid-Bilanz wird sich verschlechtern.

Um den Anteil der erneuerbaren Energien auszubauen, ist es sinnvoll, Innovationen und neue Technologien in ihrer Startphase zu fördern und zu subventionieren. Aber nach einer breiten Markteinführung sind Subventionen häufig kontraproduktiv. Technologien, die sich nicht aus eigener Kraft im Markt durchsetzen, werden nicht nachhaltig bestehen. Ein negatives Beispiel ist die überzogene Förderung der Photovoltaik. Bis vor kurzem waren die Subventionen so hoch, dass Solarunternehmen und Investoren zweistellige Renditen erwirtschaften konnten, ohne nachhaltig wettbewerbsfähig zu sein – und ohne zukünftig einen nennenswerten Anteil an der Gesamtenergieversorgung leisten zu können. Auch als Jobmotor hat sich diese Technologie in Deutschland aufgrund des massiven asiatischen Wettbewerbs nicht durchgesetzt – eine bedauerliche Ressourcenverschwendung.

Von der Politik ist zu erwarten, dass sie eine derart weit reichende Entscheidung wie den Atomausstieg mit der notwendigen Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit trifft. Das deutsche und europäische Energiesystem ist so komplex, dass man nicht einfach innerhalb weniger Wochen entscheiden kann, Kernkraftwerke mit einer Leistung von acht Gigawatt abzuschalten, ohne für dauerhaften Ersatz zu sorgen. Wo sollen denn die mehr als 2.000 Windräder und Leitungen stehen, die eine solche Leistung aufbringen? Außerdem ist das Sicherheitsproblem nach dem Abschalten der Kraftwerke noch gar nicht gelöst. Die Reaktoren müssen über Jahre gekühlt werden, bevor die technischen Risiken signifikant zurückgehen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die deutsche Industrie respektiert den Willen der breiten Bevölkerung und die Entscheidung des Gesetzgebers, aus der Kernenergie auszusteigen. Auch sind wir bereit, Lösungen zu suchen, um die Energiewende konstruktiv zu gestalten. Jedoch bemängeln wir die Risiken, die durch eine überstürzte Vorgehensweise und die fehlende Absicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungs-sicherheit entstanden sind.

Ohne Planungssicherheit keine Investitionen

Notwendig ist eine saubere, sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung. Für alle drei Parameter müssen klare Ziele formuliert werden. Für die Umweltverträglichkeit gibt es solche Ziele bereits, etwa in Bezug auf den künftigen Anteil der erneuerbaren Energien oder die Einsparungen beim Kohlendioxid. Nun müssen Ziele für die Versorgungssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit folgen. Aus Sicht der Industrie geht es dabei um Planungssicherheit für Investitionen – und damit für Innovationen. Entscheidungen für Investitionen in Produktions- und Prozessanlagen werden für einen Zeitraum von zehn bis zwanzig Jahren getroffen. Wenn wir für solche Zeiträume in Deutschland keine ausreichende Planungssicherheit haben, wird anderswo investiert. Das passiert heute schon, auch wenn es nicht immer offensichtlich ist.

Das Problem lässt sich an einem Beispiel aus dem Hause ThyssenKrupp verdeutlichen: Zu unserer Edelstahlsparte Inoxum gehört auch ein Werk in Krefeld am Niederrhein. Ein Teil davon, das Stahlwerk mit der so genannten Flüssigphase, wird Ende nächsten Jahres geschlossen. Nicht weil wir schlecht gewirtschaftet hätten. Sondern weil wir mit unserer Leistung nicht mehr kompensieren können, was wir an zusätzlichen Energie- und Umweltkosten tragen müssen. Einzelne Teile der Edelstahlproduktion sind extrem energieintensiv. Die Energiekosten in Deutschland sind nicht konkurrenzfähig – nicht gegen Atomstrom aus Finnland und nicht gegen Industriestrom aus Italien. Und noch viel weniger im globalen Maßstab.

Ohne klassische Industrien keine neuen Branchen

Nun mögen manche einwenden, die Stahlproduktion gehöre ja zu den alten Industriezweigen, in denen wir Europäer langfristig sowieso nicht wettbewerbsfähig sein können. Sollten wir uns also nur noch auf die „Zukunftsbranchen“ konzentrieren? Das wäre ein fataler Fehler. Denn viele Innovationen entstehen im Umfeld der klassischen Industrien. Wo seit 100 Jahren Edelstahl produziert wird, sind hochmoderne Titanlegierungen entwickelt worden, die in der Raumfahrt oder in Meerwasserentsalzungsanlagen eingesetzt werden. Ohne traditionelle Industrien gibt es keine Zukunftsbranchen. Ohne vollständige Wertschöpfungsketten leidet die Innovationsfähigkeit. Auch der viel beschworene Dienstleistungssektor benötigt Produktionsprozesse und Produkte als Basis für die eigene Wertschöpfung. Auch in Zukunft brauchen wir die Kombination von klassischen Industrien und neuen Branchen.

Die Bundesregierung unterschätzt die Dimension und die Komplexität der Energiewende. Die fehlenden Konzepte für deren Umsetzung sind das eine. Noch kritischer ist, dass über ein gemeinsames Ziel der Energie- und Klimapolitik keine Einigkeit besteht, wie das Kompetenzgerangel einzelner Ministerien bei der Festlegung tragfähiger Eckpunkte zeigt. Hinzu kommt: Wir brauchen nicht nur ein gemeinsames Vorgehen innerhalb Deutschlands, sondern einen europäischen Ansatz. Ferner vermisse ich in der Diskussion um Energiewende und Klimaschutz Ehrlichkeit: Man kann nicht für den Ausbau der Windenergie sein und gleichzeitig gegen den Ausbau der Übertragungsnetze. Sicher darf es unterschiedliche Meinungen geben, aber immer sind alle Konsequenzen einer Position zu berücksichtigen und zu akzeptieren. Unternehmenslenker werden quartalsweise vom Kapitalmarkt diszipliniert, schonungslos alles offenzulegen – ob Verluste oder zurückgehende Auftragseingänge. Diese Offenheit und Ehrlichkeit erwarte ich auch von der Politik. Wer Energiewende sagt, muss auch Machbarkeit sagen. Und wer Machbarkeit sagt, muss angeben, an welchen Kriterien er das bemisst.

Fazit: Die Politik muss klare und sinnvolle Ziele für eine saubere, sichere und wettbewerbsfähige Energie- und Klimapolitik definieren. Sie muss die Nebenbedingungen für alle Beteiligten benennen – für Unternehmen wie Bürger. Dabei darf sie sich nicht vor unbequemen Wahrheiten zurückscheuen, sondern muss einen öffentlichen Dialog über bestehende Alternativen führen und Planungssicherheit schaffen.

Dann hat Deutschland gute Voraussetzungen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Dazu gehören eine starke industrielle Basis, eine funktionsfähige Mitbestimmung und ein guter Dialog zwischen Politik und Wirtschaft. Gemeinsam haben es Industrie und Politik in der Hand, den Herausforderungen wirkungs-voll zu begegnen. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier brachte es kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf den Punkt: „Die Wirtschaft der Zukunft braucht eine Industrie der Zukunft.“ Diesen Satz kann ich zu hundert Prozent unterschreiben.

Dieser Text basiert auf einer Rede, die der Autor auf dem Wirtschaftsempfang der SPD-Bundestagsfraktion am 29. Februar 2012 in Berlin gehalten hat.

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