Die andere Seite des Mondes

Auch in der DDR gab es ein 1968. Aber was ist aus den Träumen der damals Beteiligten geworden? 40 Jahre später ist klar: Die Ost-Achtundsechziger haben widerlegt, was sie beweisen wollten - die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus

„Sind Sie ein Ost-Achtundsechziger?“, eröffnete ein Rundfunkjournalist sein Interview über mein jüngstes Buch Der Traum von der Revolte – Die DDR 1968. Er blickte mich ungeduldig an, als liefe der Sekundenzeiger mit. Zwei Sekunden zum Nachdenken, zwanzig Sekunden für die Antwort. Es wurden schließlich dreißig daraus, die für die Sendung dann aber weggeschnitten wurden. Zum Schluss fragte er in jenem Tonfall, der die Antwort eigentlich schon vorwegnimmt: „Hat die Bürgerrechtsbewegung von 1989 mit ihrem bürgerlichen Freiheitsanspruch 1968 widerlegt?“ Ein anderer Journalist fragte erst gar nicht, sondern erklärte mir gleich die Sachlage: „Mir hängt die Selbstglorifizierung der Achtundsechziger zum Hals raus – auch wenn sie jetzt mit negativen Vorzeichen daherkommt. Die Protestler im Osten haben doch viel mehr riskiert als die westlichen Wohlstandskinder in ihrem pseudo-revolutionären Buddelkasten.“ Offenbar war er in seiner Schul- und Universitätszeit von den Alt-Achtundsechzigern genervt worden und nutzte jetzt die Gelegenheit, ihnen nachträglich eins überzuziehen. Die medialen Debatten leben von der argumentativen Zuspitzung. Antithetische Antworten stören das Bild. Es ist hier nicht der Ort, diese Spielregeln zu kommentieren, aber genügend Raum, die Eingangsfrage zu beantworten. Gab es im Osten ein 1968? Was hat damals die jungen Leute in der DDR bewegt und was ist aus ihren Träumen geworden?

Trotz der Mauer war die Ausgangslage in Ost und West so unterschiedlich nicht. Zwanzig Jahre nach Kriegsende war eine neue Generation herangewachsen, die das Elend der Kriegs- und Nachkriegszeit nur aus Erzählungen, Büchern und Filmen kannte. Irgendwann hat es jeder erlebt, dass ältere Leute sich aufregten, wenn eine Butterstulle in den Mülleimer flog und an frühere, schlechtere Zeiten erinnerte. Wenn sich die Kinder auf dem Schulhof prügelten, wurde der pädagogische Zeigefinger gehoben. „Wie sollen sich die Völker vertragen, wenn ihr euch schon zankt?“ Auf der nachgeborenen Generation lastete die Erwartung, alles besser zu machen. Und sie hat diese Erwartung in Ost und West internalisiert.

Flüsse umlenken, den Kosmos erleben

In der DDR wurde dieses Lebensgefühl in extremer Weise ideologisiert und politisiert. Ihre Mitglieder sollten den Kosmos erobern, Flüsse umlenken, die Menschheit von Not und kapitalistischer Ausbeutung befreien. Prometheus, der trotzige Rebell aus der griechischen Mythologie, war eine gern zitierte Gestalt und seine Geschichte ein beliebtes Thema für Abituraufsätze. Er hatte den Göttern das Feuer geraubt und war dafür an die Felsen des Kaukasus geschmiedet worden, wo ein Adler täglich von seiner Leber fraß. Der erste sowjetische Sputnik, Juri Gagarin und Valentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltall, waren die Ikonen jener Jahre. Jeder Jungpionier der DDR hatte ein Sputnikheft, in dem er täglich seine guten Taten eintrug. „Was hast Du heute für den Frieden getan?“, lautete die Frage. Und die Timur-Truppler, die sich nach dem Helden eines sowjetischen Kinderbuchs nannten, trugen in ihre kleinformatigen Heftchen ein, wie viel Kilo Altpapier sie gesammelt oder ob sie einer alten Oma über die Straße geholfen hatten. Die Kinder wurden vollgestopft mit Idealen und schließlich in eine Welt gesetzt, die so überhaupt nicht diesen Vorstellungen entsprach.

Diese Diskrepanz, die so ungewöhnlich nicht ist, hatte in der DDR der Jahre zwischen 1962/63 bis 1968 eine konkrete politische Ursache. Der SED-Führung war nach dem Mauerbau klar geworden, dass sie nicht auf ewige Zeiten mit dem großen Knüppel regieren konnte. Vor allem hatte sie eingesehen, dass die Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus im friedlichen Wettstreit um die höhere Wirtschaftseffizienz entschieden werden würde. Sie setzte auf Bildung, Forschung, Wissenschaft und Technik. Dazu brauchte sie die „werktätige Intelligenz“ und die Jugend. Deswegen machte sie der jungen Generation Angebote. „Der Sozialismus ist so gut, wie wir ihn machen“, lautete eine der Parolen, die damals an den Häuserwänden zu lesen waren. Darin steckte eine gefährliche Ambivalenz. Wolf Biermann formulierte es auf seine Weise: „Gegen den Sozialismus gibt es nur ein Mittel, voranzuschreiten zum Kommunismus.“

Zwischen den Fronten des Weltkonflikts

Die Glücksverheißungen der kommenden Gesellschaft waren ein Propagandainstrument der regierenden Partei. Sie sollte die Leute von der kärglichen Wirklichkeit ablenken. Doch die Utopie war gleichzeitig eine gefährliche Herausforderung der Macht. Sie hatte sich eines nicht fernen Tages an ihren eigenen Idealen zu messen. Und zu diesen Idealen gehörte auch die These von Friedrich Engels, Kommunismus sei die Überwindung des Reichs der Notwendigkeit durch das Reich der Freiheit. Die Produktion sollte eines Tages nicht mehr der Befriedigung von künstlichen Bedürfnissen dienen, sondern der Selbstverwirklichung des Menschen. Das hörte sich schön an und es waren nicht die Schlechtesten, die meinten, man müsse die Regierenden beim Wort nehmen.

Um die Anziehungskraft der Utopie zu begreifen, muss daran erinnert werden, dass der politische Horizont der sechziger Jahre vor allem durch ein Ereignis verdunkelt war: den Vietnam-Krieg oder, wie es in der DDR-Propaganda hieß, den „schmutzigen Krieg des US-Imperialismus gegen das heldenhaft kämpfende vietnamesische Volk“. Es waren die Bilder von brennenden Dörfern, misshandelten Menschen, brutalen Hinrichtungen, die den Glanz der westlichen Welt trübten. Hinzu kam die Unterdrückung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die in der Ermordung von Martin Luther King seinen Ausdruck fand, das Elend der Dritten Welt, zu dem der Tod Che Guevaras im bolivianischen Dschungel den Heldenmythos lieferte.

Gegen eine solche Weltordnung musste man geradezu rebellieren, auch wenn man sich dadurch scheinbar im Einklang mit dem sozialistischen Weltsystem, der Hauptkraft des Kampfes gegen den Imperialismus befand. In der DDR fühlten sich viele junge Menschen zwischen die Fronten des Weltkonfliktes gestellt. Sie suchten nach einem Dritten Weg, von dem es jeden Tag hieß, es gäbe ihn nicht. Doch unversehens zeigten sich zwei politische Bewegungen, die beide eine Art Dritten Weg wiesen: die Jugendrevolte der westlichen Länder und die Freiheitsbestrebungen in verschiedenen Ländern des Ostblocks. Beide wurden aus unterschiedlichen ideologischen Quellen gespeist und gingen in ihren Zielvorstellungen in unterschiedliche Richtung. Dennoch bildeten sie ein ambivalentes Spannungsfeld, eine „dialektische Einheit der Widersprüche“, wie die Adepten marxistischer Weltweisheit damals gerne sagten.

Die SED-Führung war erfreut

Die jungen Revolutionäre im Westen protestierten gegen die bürgerliche Gesellschaft, gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Rassenunterdrückung in den Vereinigten Staaten, das Elend in Lateinamerika, den Schah von Persien, gegen Bildungsnotstand, Atomrüstung und Notstandsgesetze in der BRD. Gegen die Unterdrückung der Freiheit in der DDR protestierten sie nicht, obwohl einige der Wortführer aus dem Osten stammten. Im Osten rieb man sich erstaunt die Augen. Zwar entsprach die Studentenbewegung keineswegs den marxistischen Lehrbuchweisheiten. Theoretisch hätte die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde, die kommunistische Partei, den Protest gegen den Imperialismus anführen müssen.

Dennoch war die SED-Führung erfreut über den unverhofften Verbündeten im antiimperialistischen Kampf. Gegenüber den weltanschaulichen Schwächen der jungen Rebellen zeigte sie zunächst eine Duldsamkeit, die sie in den eigenen Reihen niemals praktizierte. Lenin hatte den Linksradikalismus die „Kinderkrankheit des Kommunismus“ genannt. Das klang zwar abwertend, doch Kinderkrankheiten werden meist folgenlos überwunden. So blieb die Hoffnung, es könnte sich aus der Revolte der Jungakademiker vielleicht eine Blutauffrischung der schwindsüchtigen kommunistischen Bewegung in Westdeutschland ergeben. Auch wenn die siegreiche proletarische Revolution in der BRD noch fern war, so glaubte die SED doch, sie könne auf dem Feuer der antiautoritären Revolte ihr gesamtdeutsches Süppchen kochen.

Lieber dorthin, wo das Leben tobt

Für viele kritische DDR-Intellektuelle allerdings waren die jungen Leute, die in West-Berlin und anderswo auf die Straße gingen, Verbündete im Kampf gegen die Politschranzen und Bonzen auf beiden Seiten der Mauer. Wolf Biermann hat dies in Vers und Prosa oft trefflich zum Ausdruck gebracht. Viele Jugendliche in der DDR griffen das revolutionäre Pathos, den verbalen Radikalismus und das nonkonformistische Lebensgefühl der westlichen Linken auf, zielten damit aber auch auf die eigene Obrigkeit. Die Teilnehmer der Protestaktionen gegen den Einmarsch in die CSSR entstammten fast alle diesem geistigen Umfeld. Schließlich und endlich wären jenseits aller theoretischen Debatten viele junge Leute einfach gern dort gewesen, wo das Leben tobte, das hieß konkret auf der anderen Seite der Berliner Mauer. Die Rock-Musik, der rebellische Aktionismus, die langen Haare und Bärte der Revoluzzer und nicht zuletzt die freie Liebe bildeten ein Amalgam von nicht geringer Anziehungskraft. Der Einfluss der antiautoritären Studentenbewegung im Westen machte der SED-Führung große Sorgen. Es ging im Kern um die Alleinherrschaft der Partei und um die politische Dominanz der Sowjetunion, also um die beiden Grundpfeiler des Systems. Daran wollte die SED gerade unter dem Eindruck des Prager Frühlings nicht rütteln lassen. Die anarchistische Revolte im Westen und die schleichende Konterrevolution in der Tschechoslowakei wurden von den SED-Ideologen als verwandte Krankheitserreger diagnostiziert.

Absage an den gesunden Menschenverstand

Was in der Tschechoslowakei im Januar 1968 als Reform von oben begonnen hatte, entwickelte sich in wenigen Wochen zur echten Erneuerungsbewegung. Kritische Kommunisten und Wirtschaftsfachleute hatten ein Gesellschaftsmodell entwickelt, in dem sich die Freiheitsideale der bürgerlichen Revolution mit der Sozialutopie des Sozialismus verbanden. Sie sahen in diesem Experiment ein Vorbild für den Rest der Welt, zumindest für die industriell entwickelten sozialistischen Länder Europas. Dadurch griffen sie tief in die Innenpolitik ihrer Nachbarstaaten ein. Auf lange Sicht hatten die „Bruderstaaten“ nur die Wahl, den Kurs der Demokratisierung aus dem Nachbarland zu übernehmen oder ihn mit Gewalt zu unterbinden. Die SED-Führung war auf das höchste alarmiert und verunsichert. Wenn sich überhaupt aufgrund der Akten Aussagen über die Stimmung der DDR-Bevölkerung treffen lassen, so wird man sagen können, dass die Sympathie für den neuen Kurs in Prag sehr groß war.

Über Ulbrichts Rolle gibt es nicht viel zu spekulieren. Er sah seine eigenen – natürlich seiner Meinung nach viel besser durchdachten Reformbemühungen – durch die Tschechoslowaken desavouiert. Als am Morgen des 21. August 1968 die Meldungen über den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes über die Sender liefen, empfanden das viele Menschen als Schlag ins Gesicht. Wie auch immer man die Chancen eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz beurteilte, was die Tschechoslowaken seit dem Januarplenum 1968 an Erneuerung angepackt hatten, war so vernünftig und sachlich geboten, dass der Einmarsch nicht allein als Völkerrechtsbruch gesehen wurden, sondern auch als Absage an den gesunden Menschenverstand. Panzer sind stärker als Argumente, lautete die Botschaft der Militäraktion.

Die Empörung war groß und ließ viele Menschen jegliche Vorsicht vergessen. In den Nächten nach dem 21. August 1968 zogen in den Städten der DDR junge Leute mit Pinsel und Farbeimer los, um Parolen an die Wände zu schreiben. Andere schrieben mit der Hand oder der Schreibmaschine Flugblätter, warfen diese in Hausbriefkästen oder verschickten sie mit der Post. Laut Akten der Staatssicherheit wurden bis zum Jahresende 1.400 Ermittlungsverfahren wegen „Straftaten im Zusammenhang mit der Hilfsaktion der sozialistischen Bruderstaaten“ eingeleitet. Bei ungefähr der gleichen Zahl von Straftaten konnten die Sicherheitsbehörden der Täter nicht habhaft werden.

Das Land versank in Stagnation

In Betrieben, Schulen und Universitätsinstituten wurde mit Kritikern abgerechnet. Es kam zu einer großen Zahl von Parteistrafen, Ausschlüssen von der Oberschule und der Universität sowie beruflichen Maßregelungen von oft nachhaltiger Wirkung. Es war die Stunde der Hexenjäger und Dogmatiker. Jede Kritik galt ihnen als schleichende Konterrevolution. Das Land versank in Stagnation und es begann jene Fortwurstelei der Ära Honecker, die das Land in den Ruin führte. Die Tatsache, dass die Idee des demokratischen Sozialismus in der Opposition lebendig blieb, gehört zu den schwer erklärbaren Eigenheiten der DDR-Geschichte, zumal sie in den Nachbarländern jegliche Reputation verloren hatte und weder in der polnischen Freiheitsbewegung 1980/81 noch in der tschechoslowakischen oder ungarischen Bürgerrechtsbewegung der siebziger und achtziger Jahre eine nennenswerte Rolle spielte.

Als im Herbst 1989 die Menschen endlich auf die Straße gingen, vollzog sich mit 21 Jahren Verspätung, wovon 1968 viele geträumt hatten. Die Gesten, Parolen und Symbole des Jahres 1968 wurden aus der Schublade geholt. Offenkundig waren viele der Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung in ihrem Habitus von 1968 geprägt. Man sprach damals von der Revolution der Vierzigjährigen. Doch die versäumte Revolte ließ sich nicht nachholen. Die Sehnsucht nach Freiheit hat sich 1989 erfüllt. Der Versuch einer Synthese aus den Freiheitsidealen von 1789 und der kommunistischen Utopie fand außerhalb der tief diskreditierten SED-Nachfolgepartei keinen Anklang mehr. Die West-Achtundsechziger haben bewiesen, was sie widerlegen wollten, die Lebensfähigkeit der liberalen und marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Ost-Achtundsechziger haben widerlegt, was sie beweisen wollten, die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus.

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