Die andere Armut



Deutschland ist ein sehr wohlhabendes Land. Das kann man nicht nur am Bruttoinlandsprodukt ablesen, das, wie es sich für Wohlstandsgesellschaften gehört, von Jahr zu Jahr steigt – aktuell (2003) liegt es bei 2,1 Billionen Euro. Der Reichtum des Landes zeigt sich auch in der Ausstattung der deutschen Haushalte mit langlebigen Konsumgütern.

Im Jahr 2003 gab es 39 Millionen Privathaushalte in Deutschland, von der Single-Studentin in Greifswald über die klassische vierköpfige Kernfamilie in Bielefeld bis zum Zwei-Personen-Rentnerhaushalt in Donauwörth. Dort waren vorhanden (in Prozent):

Auto 77 (1993:72)
Kühlschrank 99 (95)
Waschmaschine 94 (89)
Telefon 95 (87)
Handy 73 (-)
Internetanschluss 46 (-)
Computer 61 (21)
Fernseher 94 (96)
Videorekorder 68 (46)
DVD-Player 27 (-)
Fotoapparat 83 (79)
Geschirrspülmaschine 57 (30)

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass irgendjemand heutzutage vielleicht keinen Zugang haben könnte – wie es das Anfang der sechziger Jahre noch gab – zu Auto (Ausstattungsgrad 1962: 27 Prozent), Telefon (14 Prozent) oder Fernsehen (34 Prozent). All diese Segnungen und Laster unserer technischen Zivilisation sind bei uns heute nahezu universell verfügbar. Am 1. Januar 2004 waren für den fließenden und ruhenden Verkehr in Deutschland 45 Millionen PKW zugelassen. Inzwischen übertrifft in Deutschland, das traditionell als Mieterland galt, die Zahl der Menschen, die im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung leben mit 42,5 Millionen leicht die Zahl der Mieter (40 Millionen): Dabei drücken der Osten und die Großstädte immer noch ein bisschen den Schnitt.

Auf die Frage, wie sie ihre eigene finanzielle Lage einschätzen, antworteten im Sommer 2004 immerhin 84 Prozent der Befragten laut Emnid mit “sehr gut”, “gut” oder “zufrieden stellend”. Das Nettogeldvermögen der Deutschen stieg von 2002 auf 2003 um 125 Milliarden auf 3922 Milliarden Euro. Inzwischen ist auch die Vier-Billionen-Grenze überschritten.

Für Nahrungsmittel geben wir durchschnittlich nur noch 14 Prozent unseres verfügbaren Einkommens aus, weniger als für Urlaub, Freizeit, Hotel- und Gaststättenbesuch (17 Prozent). Das liegt daran, dass die Preise unserer industriell gefertigten Lebensmittel seit Jahren relativ sinken. Musste ein Normalverdiener 1960 für zehn Eier noch 46 Minuten arbeiten, sind es heute sieben Minuten. Eine Flasche Bier (0,5 Liter) erfordert nicht mehr 15, sondern nur noch drei Minuten Anstrengung. Und 250 Gramm Kaffee sind heute nach zwölf Minuten verdient, 1960 waren es eindreiviertel Stunden. Durch höchst rationellen Betrieb liegen die Preise im deutschen Lebensmittel-Einzelhandel deutlich unter dem europäischen Niveau; entsprechend expandieren Aldi und Lidl, Metro und Spar nach Frankreich und Spanien, Polen und Griechenland.

Für Bedürftige, die Anspruch auf staatliche Unterstützung, etwa Sozialhilfe, haben, gehören Fernsehen und Computer selbstverständlich zum Lebensstandard. Wer als Langzeitarbeitsloser aus Steuermitteln das so genannte Arbeitslosengeld II bekommt, muss nicht auf sein Auto verzichten (weil Mobilität die Chance verbessert, wieder Arbeit zu finden), er kann bis zu 13.000 Euro Sparvermögen behalten und natürlich auch seine selbst genutzte Eigentumswohnung oder sein Einfamilienhaus. Wenn die Immobilie noch nicht abbezahlt ist, übernimmt der Staat die Kreditzinsen (sowie Versicherungen, Schornsteinfeger, Grundsteuer und dergleichen). Die vierköpfige Familie eines Langzeitarbeitslosen hat, wenn sie zur Miete wohnt, Anspruch auf 90 Quadratmeter Wohnfläche; Mietzahlung und Heizkosten werden aus öffentlichen Mitteln bestritten. Das bedeutet für jede und jeden Betroffenen, wenn der Notfall eingetreten ist: Anträge stellen, Formulare ausfüllen, nachweisen, dass wirklich Bedürftigkeit vorliegt und nicht etwa noch Vermögen im Hintergrund steht, Papierkrieg. Aber schreckliche Armut ist das nicht.

Die Schrecken der Armut, von existentiellem Elend, drangvoller Enge, Hunger und Lebensangst kennen noch unsere Eltern und Großeltern aus zerbombten Städten oder von der Flucht. Viele Menschen in den von den Nazis heimgesuchten Ländern Europas haben bittere Not gelitten. Die Fernsehnachrichten, das Auslandsjournal und der Weltspiegel zeigen gelegentlich das Grauen, das es in Afrika, Asien oder Südamerika bedeutet, wenn Menschen im materiellen Nichts leben. Man kann das Elend auch in Europa besuchen: In Tallinn, der Hauptstadt des tüchtigen, aufstrebenden EU-Neumitglieds Estland (das im Stil des neuen elektrischen Zeitalters damit kokettiert, ganz zu Recht e-stonia zu heißen), hausen Angehörige der russischen Minderheit in alten abbruchreifen Katen ohne Wasser und Strom. Sie sind hier im Stadtteil Kopli geboren, aber nicht mehr zu Hause, haben selbst wieder Kinder, aber keine Arbeit am äußersten Rand unserer Europäischen Union. Kirchenleute bringen Essen vorbei, der Staat zahlt nichts weiter als ein Kindergeld von umgerechnet etwa 50 Euro im Monat. Die älteste Tochter teilt sich mit der Mutter das eine Paar guter Schuhe, die sie auf der Straße tragen können ...

Als Erhard die “konservative soziale Struktur” überwinden wollte

Lebensverhältnisse dieser Art gab es auch in Deutschland, unmenschliche, unwürdige materielle Armut, bis weit in das 20.Jahrhundert hinein. Der Vater des deutschen “Wirtschaftswunders” nach dem Krieg, der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik, der lange Zeit parteilose spätere CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler (1963-66) Ludwig Erhard strebte deshalb nach eigenem Bekunden eine Wirtschaftsverfassung an, “die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag.” In seinem Buch “Wohlstand für alle” schrieb Erhard 1957: “Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung musste also die Voraussetzung dafür schaffen, dass dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen ‚arm‘ und ‚reich‘ überwunden werden konnten.”

Erhards Programm, Wohlstandskonsum für alle möglich zu machen, ist über Jahrzehnte erst bundesrepublikanischer und dann gesamtdeutscher Wirtschaftsentwicklung inzwischen weitgehend erfüllt, wenn man das materielle Haben als Maßstab nimmt: Viel mehr an Konsumgütern geht in die Masse der deutschen Haushalte kaum noch hinein, Sozialhilfe-Haushalte eingeschlossen. Und dennoch ist die Kluft zwischen Arm und Reich nicht kleiner, sondern größer geworden. Viele Menschen unserer wohlhabenden Gesellschaft fühlen sich ausgegrenzt und abgehängt, verachtet und deklassiert. So menschenfreundliche Worte wie Ludwig Erhard würden seine Nachfolger von der radikalliberalen Fraktion der deutschen Wirtschaftspolitik heute ganz bestimmt nicht mehr wählen. Menschenfreundlichkeit ist ihnen zu teuer. Reichtum, so würden sie sagen, ist doch geradezu “sexy”. Nur die Aussicht auf Reichtum beflügle den unternehmerischen Menschen zur Leistung. Deshalb müsse sich Leistung endlich wieder lohnen!

Nicht “Wohlstand für alle” ist heute die Parole der Modernisierer und liberalen Gesellschaftsreformer, sondern kostenlose Mehrarbeit für die einen und demonstrativer Mehrreichtum für die anderen. Nur eine gespaltene Gesellschaft, so die Dialektik dieser Ideologie, bringt die nötige Spannung zustande, aus der erst Fortschritt entsteht. Von Gerechtigkeit – Teilhabegerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit – wollen die neuen Kapitalisten gar nichts mehr wissen. Für sie bedeutet Gerechtigkeit nichts anderes als soziale Gleichheit, und Gleichheit bedeutet Kommunismus. Marktwirtschaft, wie sie sie verstehen, verträgt kein einschränkendes Beiwort. “Soziale Marktwirtschaft”, das war gestern. Heute muss die Wirtschaft frei sein. Und morgen wird auch der Rest noch umgebaut zur ganz und gar durchökonomisierten Marktgesellschaft.

Über die Verteilungsgerechtigkeit in den USA schreibt der frühere Clinton-Betrater Paul Krugman 2002 in der Zeit: “Nur wenigen Leuten ist bewusst, wie sehr sich in diesem Land die Kluft zwischen den sehr Reichen und dem Rest innerhalb relativ kurzer Zeit verbreitert hat. Wer sich mit diesem Thema beschäftigt, setzt sich unweigerlich dem Verdacht aus, ‚Klassenkampf‘ oder eine ‚Politik des Neides‘ zu betreiben. Und nur wenige Leute sind tatsächlich willens, über die weitgehenden Auswirkungen dieser sich immer weiter öffnenden Schere zu sprechen – ökonomische, soziale und politische Auswirkungen.”

Auch in Großbritannien hat sich der Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert. Eine im August 2004 veröffentlichte Studie des Institute of Public Policy Research (IPPR) stellt fest, dass sich seit dem Amtsantritt der Labour-Regierung von Tony Blair 1997 zwar die Zahl der Armen verringert habe (ebenso habe sich der Gesundheitszustand der Briten insgesamt verbessert und die Lebenserwartung weiter erhöht), aber die Vermögensverteilung sei in diesen Jahren noch ungleicher geworden. Der Anteil der reichsten zehn Prozent der Briten am Gesamtvermögen sei von 47 auf 54 Prozent gestiegen. Kritisch merken die IPPR-Autoren an: “Der Regierung fehlt offenbar eine Vision sozialer Gerechtigkeit, zu der sie sich öffentlich bekennen mag und die sie konsequent verfolgt.”

Hierzulande schließt sich die Schere nicht

Das ist in Deutschland nicht so ganz anders. Zwar hatte der linke Teil des Modernisierer-Mainstreams um die Jahrhundertwende herum wohl die Hoffnung, dass die “Volksaktien” und die kapitalgedeckte steuerbegünstigte Riester-Rente breitere Schichten der Bevölkerung an der Reichtumsentwicklung teilnehmen lassen würden, aber die Schere schließt sich auch hierzulande nicht, im Gegenteil. Die ersten beiden Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung (2000 und 2005) stellen fest, dass sich die Ungleichheit der Einkommen langfristig verstärkt hat. Schaut man sich das so genannte Volkseinkommen an, dann sieht man, dass in den letzten Jahren der Anteil des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit und Vermögen tendenziell größer, der Anteil des Einkommens aus abhängiger Beschäftigung entsprechend kleiner geworden ist. Von dieser eigentlich nicht kritikwürdigen Entwicklung haben aber heute erkennbar diejenigen mehr, die schon bisher zu den Vermögenden zählten.

Diese Gruppe ist übrigens durchaus nicht so winzig klein wie viele glauben. Wenn man den Blick auf Vermögensmillionäre lenkt (Immobilienbesitz eingeschlossen) und nicht nur den formalen Eigentümer, sondern auch dessen im Haushalt lebende Familienangehörigen und erbberechtigten Abkömmlinge mitzählt, dann lebten Mitte der 90er Jahre etwa zehn Prozent der Deutschen in DM-“Millionärshaushalten” (oder in Beziehung zu diesen, wie zum Beispiel auswärts studierende Kinder). Das heißt nicht, dass jeder zehnte Deutsche Millionär ist, sondern dass eine relativ große Gruppe unserer Bevölkerung jeden Morgen mit dem beruhigenden Gefühl aufwachen kann, für alle Fälle ein Millionenvermögen im Rücken zu haben.

Nun ist es auch keineswegs so, dass die Besserverdienenden – sei es durch Erwerbsarbeit, sei es durch Kapitalvermögen – nicht mit ihrer Steuerleistung einen erheblichen Beitrag zum sozialen Ausgleich in diesem Land tatsächlich leisten. 54 Prozent der gesamten Lohn- und Einkommenssteuereinnahmen des Staates werden von den oberen zehn Prozent der Steuerpflichtigen aufgebracht, dafür sorgt der progressive Einkommenssteuertarif: Je mehr einer verdient, desto höher der Prozentsatz, den er abgeben muss, aktuell maximal 42 Prozent (plus Solidaritätszuschlag für den Osten).

Der Staat wird mehr Steuereinnahmen brauchen, nicht weniger

Dass das so in Ordnung ist, bestätigt ein amerikanischer Kronzeuge, mit dem man eigentlich gar nicht rechnen würde: der Vater des reichsten Mannes der Welt, Bill Gates senior, im November 2003 in einem Interview mit der Welt am Sonntag: “Steuern zu zahlen ist keine Strafe. Man muss einmal klar sehen: Die Erfolgreichen eines Landes sind auch deshalb so erfolgreich und vermögend geworden, weil ihnen der Staat die Rahmenbedingungen dafür geschaffen hat. ... So etwas wie das Internet gäbe es nicht ohne die Regierung. Und wir alle wissen, was für Vermögen damit gemacht worden sind. ... Ich glaube immer noch an Privatbesitz, an Marktwirtschaft, an die Möglichkeit des Scheiterns. Aber ich glaube auch fest daran, dass wir eine Verantwortung gegenüber dem Staat haben. Und die Reichen mehr als die Schwachen.” Angesprochen auf prominente Steuerflüchtlinge wie Michael Schumacher (Schweiz) und Steffi Graf (Florida) antwortet der Senior: “Bei diesen Menschen muss man doch mal fragen: Warum hatten die so viel Glück? Das hängt davon ab, wo sie geboren wurden und zu welcher Zeit. Es sind Deutsche, deren Erfolg auch vom Deutschsein abhängt, von dem was Generationen motivierter Deutscher weitergegeben haben. Und dann wegzugehen und der Regierung die Steuern vorzuenthalten, die eigentlich bezahlt werden müssten, ist unmoralisch.”

Dabei taugt nicht allein die Einkommenssteuer zum Sozialausgleich. Völlig unterentwickelt ist in Deutschland die Erbschaftssteuer auf hohe Vermögen; eine laufende Vermögenssteuer gibt es überhaupt nicht mehr. Und über eine “Luxussteuer” etwa als dritter, höherer Mehrwertsteuersatz (bisher 7 oder 16 Prozent), sollte man zumindest einmal nachdenken. Ferrari-Sportwagen, Glashütte-Uhren, Prada-Handtaschen, Ferragamo-Krawatten, Rolf-Benz-Sofas, Bang-und-Olufsen-Klangsysteme – das alles ist keine Frage von Preis und Nützlichkeit mehr, sondern von Prestige, Image und gehobenster Ästhetik. Auf diese schönen Dinge höhere Umsatzsteuern zu erheben, würde niemanden arm und unglücklich machen.

Der Staat wird in Zukunft nicht weniger, sondern mehr Steuereinnahmen brauchen, wenn das größte Hindernis für zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland aus dem Weg geräumt werden soll: die hohen Sozialversicherungsbeiträge, die als so genannte Lohnnebenkosten insbesondere einfache Jobs zu teuer machen. Es geht nicht um die Exportweltmeister-Stellen. Da fällt der Lohn inklusive Nebenkosten kaum wirklich ins Gewicht. Es geht um lokal gebundene, zum Beispiel personenbezogene Dienstleistungen: Pflege, Kinderbetreuung, Handwerk – solche Tätigkeiten, die nicht am Weltmarkt zwischen Unternehmen gehandelt werden. Da kommt es für den privaten Kunden schon sehr auf den Stundenlohn an, den er zahlen muss. Deshalb wird es richtig sein, künftig Sozialversicherungsbeiträge mehr und mehr durch direkte Steuerfinanzierung zu ersetzen. Die Ökosteuer als Zuschuss zur Rentenversicherung war hier ein erster konsequenter Schritt.

Das Angebot des Marktes an die Linke klingt oft verlockend und ist doch meist ambivalent und nicht selten perfide. “Sozial ist, was Arbeit schafft”, hört sich gut an. Damit kann genau das Richtige gemeint sein, nämlich die Lohnnebenkosten durch stärkere Steuerfinanzierung zu reduzieren – oder aber Beiträge zu senken und Leistungen zu kürzen oder den Kündigungsschutz komplett zu streichen oder aus den Tarifverträgen auszusteigen oder Umweltschutzbestimmungen zurückzudrehen. Die working poor in den USA mit ihren zwei oder drei Niedrigstlohn-Jobs haben offensichtlich Arbeit, aber sind die Bedingungen “sozial”?

Eine andere Reformparole lautet: Stärkt die Eigenverantwortung! Damit meinen unsere fundamentalistischen Marktfreiheitsfreunde, dass der Staat und alle öffentlich geförderten Institutionen verschwinden oder sich zurückziehen sollen. Sie sollen dem Einzelnen nicht mehr helfen, nicht Verantwortung für ihn übernehmen, sondern ihm die Verantwortung selbst überlassen. Jeder sei seines Glückes Schmied, getreu der Maxime: Wenn jeder nur an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.
Linke Fortschrittsfreunde denken bei “Eigenverantwortung”, wenn sie selbst darüber reden, vielleicht weniger an den alleingelassenen Einzelnen als an das starke, sich von fremder Bevormundung emanzipierende Individuum. Dann ist Eigenverantwortung oder sagen wir: Souveränität das Ziel und eben nicht die Lösung für irgendein Ausgabenproblem der Sozialversicherung. Starke Persönlichkeiten, die für sich und andere Verantwortung übernehmen können, sind nicht von alleine da, sie erziehen sich nicht selbst.

Das, scheint mir, ist die neue soziale Frage: Warum bringen wir nicht die Mittel und die Zuwendung auf, um alle Mitglieder dieser reichen Gesellschaft stark zu machen? Warum akzeptieren wir eine Spaltung in sozial Starke und sozial Schwache? Das ist eine Spaltung, die nichts zu tun hat damit, ob endlich jeder einzelne Einwohner unseres schönen Landes einen eigenen Personenkraftwagen lenkt und besitzt oder ob jeder Jugendliche auch wirklich jederzeit Zugang zur alleraktuellsten Handygeneration hat. Darum geht es nicht. Inakzeptabel ist vielmehr die neue Armut, die Verwahrlosung von zu vielen Kindern, Familien, Wohnquartieren, die Verwüstung des Alltags allzu vieler Einzelner, die nicht stark genug sind, sich dagegen zu wehren. Der britische Soziologe Anthony Giddens, sein Regierungschef Tony Blair und besonders die angelsächsischen Vertreter einer Programmatik des “Dritten Weges” nennen das Problem exclusion, Ausgeschlossensein. Und sie propagieren eine Politik der inclusion, des Wieder-Hereinholens in die Wohlstands- und Fortschrittsgesellschaft mit all ihren Möglichkeiten und Angeboten.

Neuntklässlerinnen geben als Berufswunsch “Table-Dancerin” an

Durchschnittlich sitzen Kinder zwischen 10 und 14 Jahren in Deutschland täglich 108 Minuten vor dem Fernseher, 15- bis 17-Jährige mehr als zwei Stunden. Das sind Mittelwerte. Stellen wir in Rechnung, dass ein Teil der Kinder vielleicht nur eine Stunde am Tag fernsieht und an manchen Tagen gar nicht, erhöht sich für den Rest entsprechend die tägliche TV-Dosis auf drei, vier oder fünf Stunden. Ob das für die Persönlichkeitsentwicklung förderlich ist und ob nicht auch auf Sat 1, Vox und Super RTL gelegentlich pädagogisch wertvolle Sendungen zur Ausstrahlung kommen, das muss ernsthaft nicht mehr diskutiert werden. Es interessiert nur noch die Anwälte des schlechten Gewissens, die für Springer, Bertelsmann oder Saban die Unbedenklichkeitsgutachten zur Vorlage bei den so genannten Unabhängigen Landesmedienanstalten dichten müssen.

Zur Kenntnis zu nehmen ist heute der Gesellschaftsskandal einer neuen Armut. Der Skandal besteht darin, dass wir gleichmütig hinnehmen, wenn zehn Prozent der Schüler eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen. Wir nehmen hin, dass Sozialhilfemilieus sich verfestigen in die zweite und dritte Generation hinein; dass Hauptschülerinnen in der neunten Klasse als Berufswunsch Table-Dancerin angeben; dass die Rohheit unter Jugendlichen wächst; dass aus Mädchencliquen Mädchengangs werden, die emanzipiert zuschlagen und zutreten wie die Jungen; dass zehnjährige Migrantenkinder immer noch kein schultaugliches Deutsch sprechen und verstehen; dass Eltern, je weniger sie in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen, diese um so mehr als ihr Eigentum betrachten und gegen “Einmischungen” von außen verteidigen; und dass diese von der Gesellschaft zurückgelassenen Menschen sich, anders als vor 140 Jahren die Arbeiterbewegung, nicht artikulieren oder organisieren können, weil es ihnen dazu am Nötigsten fehlt: an Selbstbewusstsein, an Bildung, an Perspektive. Um diese Armut müssen wir uns politisch kümmern. Hier geht es noch nicht um Reichtumsverteilung, sondern überhaupt erst um die Grundlagen dafür, Chancen in einer offenen Gesellschaft selbstbestimmt wahrnehmen zu können: um eine Strategie der Inklusion, die diesen massenhaften Gesellschaftsausschluss, der heute in Deutschland vielleicht die unteren zehn, fünfzehn Prozent betrifft, überwindet. Dafür, es wichtig zu finden, sich um diese sozial Schwachen zu kümmern, braucht man keine ökonomischen Gründe. Vielleicht rechnet es sich gar nicht, wahrscheinlich wären die “Grenzkosten” ziemlich hoch, wenn man hier etwas ändern wollte. Kann man es deshalb bleiben lassen?

Was wir notwendig brauchen, ist Mitgefühl – wie Willy Brandt sagte: Compassion. Nächstenliebe wäre auch in Ordnung. Niemand hat diese politische Haltung so klar, mit ruhigem Pathos zum Ausdruck gebracht wie Bill Clinton, der selbst vaterlos aufwuchs, in seiner Rede auf dem Nominierungsparteitag für die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei am 16. Juli 1992: “Ich möchte heute Abend jedem Kind in Amerika, das da draußen ist und versucht, ohne Vater und Mutter groß zu werden, etwas sagen. Ich weiß, wie Du Dich fühlst. Auch Du bist etwas Besonderes. Du bedeutest etwas für Amerika. Und lass Dir niemals von irgendjemandem einreden, dass Du nicht werden kannst, was immer Du sein möchtest.” So!

Aus solch einer mitfühlenden Haltung wäre eine Politik zu entwickeln, die mit Zuwendung und Nachdruck daran arbeitet, dass Menschen den Halt finden, der ihnen fehlt; dass sie die Anstrengung zur eigenen Bildung und Weiterbildung, die ihnen zu schwer erscheint, beherzt auf sich nehmen; dass sie ihr Leben annehmen können und meistern. Wer eigenverantwortlich handeln soll, braucht gerade nicht die grenzenlose Freiheit einer Gesellschaft, die sich von ihm zurückgezogen hat, sondern er muss lernen, Bindungen einzugehen und Pflichten auf sich zu nehmen, für sich und andere zu sorgen. Was da einzuüben ist, stellt heute das genaue Gegenteil des Zeitgeistes dar, der ja das Streben nach Entbindung und Entpflichtung propagiert und das Lob der sozialen Fliehkräfte singt.

Wer etwas verändern will, darf Ausreden nicht akzeptieren

So frei und heimatlos die sozial Starken sich heute fühlen mögen, so sehr sind die Schwachen angewiesen auf Verbindlichkeit und sozialen Halt. Wer etwas ändern will, darf auch die Ausreden der Betroffenen nicht akzeptieren. Bundesfamilienministerin Renate Schmidt, eine Großmutter, die wirklich das Herz auf dem rechten Fleck hat, berichtet in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Juli 2004 von einer Sozialhilfefamilie, die in der Bild-Zeitung vorgestellt worden war: Mit ihren sechs kleinen Kindern hatte sie einen Betrag von rund 1.700 Euro im Monat zur Verfügung. “Die Mutter sagte, sie brauche täglich 50 Euro für Lebensmittel, sonst müssten die Kinder hungern. Das kleinste wurde noch gestillt, das älteste war acht Jahre alt. Auf dem Tisch lag eine Packung Toastbrot und Erdnussflips, von den Kindern hungrig betrachtet. Ein Kinderzimmer war zu sehen, ohne Poster an der Wand, kein Spielzeug, nichts.” Ministerin Schmidt hat sich geärgert und einen Brief geschrieben, sie sei bereit für einen ganzen Monat einen Speiseplan aufzustellen – Früh, Mittag, Abend plus Zwischenmahlzeit. Dazu auch mal eine Flasche Bier für die Eltern und Eis für die Kinder. Das solle monatlich nicht mehr als 900 Euro kosten; die Preise hatte Renate Schmidt aus ihrem heimischen Supermarkt. Sie hätte den Plan auch gern persönlich erklärt, aber die Aktion kam mit Bild und den Betroffenen dann leider nicht zustande. “Ich wäre in die Küche gegangen”, sagt die Ministerin, “und hätte geschaut, was die für Töpfe haben, hätte mir angeschaut, ob die Frau überhaupt kochen kann. Und dann wäre Armutsprävention in dieser Familie gewesen, ihr und ihm beizubringen, wie man eigentlich einen Haushalt führt. Worauf achtet man beim Einkauf? Wo bekommt man für die Kinder Poster für die Wände, billiges Spielzeug – umsonst? Wo gibt es Secondhand-Läden?” Schmidts Fazit: “Armutsprävention bedeutet nicht, einfach Geld zu verteilen, sondern zu fragen: Woran fehlt es?”

Es geht darum zu wissen, dass noch etwas Besseres auf einen wartet

Manchmal hilft gegen soziale Schwäche nicht einmal ein Millionen-Glückspiel-Gewinn, wie die ebenfalls in Bild dokumentierte traurige Lebensgeschichte von “Lotto-Lothar” belegen mag. Es gibt so viele ganz unterschiedliche Gründe dafür, den Anschluss zu verlieren, sich ausgeschlossen zu fühlen: weil soziale Bindungen fehlen und die Einsamkeit jede Initiative lähmt; weil es an Bildung mangelt; weil Menschen charakterlich und moralisch schwach geblieben (und körperlich manchmal zu stark geworden) sind; weil Krankheit oder Behinderung die Lebensenergie frisst; weil Sucht das Denken und Handeln beherrscht; weil man sich allzu viele Stunden der Verblödung durch Fernsehen und Computerspielschrott ausliefert. Soziale Schwäche heißt, sich selbst nicht helfen zu können. Dann müssen andere helfen. Verbindlich und vielleicht manchmal auch streng. Aktivierende Sozialarbeit nennen das die Fachleute von den sozialen Diensten, aktivierende Hilfen auf dem Arbeitsmarkt heißt das im neuen “Job-Center”-Deutsch.

Dabei ist das Hauptthema nicht mehr Einkommensarmut (für die Existenzsicherung wird gesorgt). Viele Studenten und Zivis leben auch mit einem geringen Einkommen von unter 700 Euro im Monat ganz gut und zufrieden. Es geht um die Perspektive. Es geht darum zu wissen, dass noch etwas Besseres auf einen wartet. Dafür müssen viele Einzelne durch Profis, aber auch durch ehrenamtlich Engagierte, durch Nachbarn und Freunde freundlich und bestimmt an die Hand genommen werden, gerade so wie es Renate Schmidt beschreibt. Das kostet Geld. Und Zeit. Und es rechnet sich nicht auf den ersten Blick. Aber in unserem extrem wohlhabenden Land sind wir uns das schuldig. Indem wir uns der neuen Armut zuwenden, kehren wir der ökonomistischen Ideologie den Rücken zu – und verändern den Mainstream.

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