Deutschland und der Weltfrieden

Im Fall Libyen hat Deutschland die Verantwortung ausgeschlagen. Wer sich so verhält, sollte sich gar nicht erst um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat bewerben

Dass Deutschland im vergangenen Oktober in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt wurde, deutete Außenminister Guido Westerwelle als Vertrauensbeweis und Vertrauensvorschuss der Weltgemeinschaft gleichermaßen. Die Enthaltung der Bundesregierung bei der Abstimmung über den Libyen-Einsatz der Vereinten Nationen im März gilt vielen zu Recht als veritable Enttäuschung dieses Vertrauens. Bei seiner ersten Bewährungsprobe in diesem Gremium zeigte sich unser Land der internationalen Verantwortung nicht gewachsen. Fraglich ist, ob wir diese überhaupt übernehmen wollen.

Zwar weiß jeder Staat, der in das höchste, dem Weltfrieden verpflichtete Gremium der Vereinten Nationen berufen wird, dass das internationale Krisenmanagement kaum Spielraum für nationale Prioritäten lässt. Gleichwohl verbindet auch die Bundesregierung mit der zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat, die im Januar begann, bestimmte Ziele: Sie will Themen von globaler Relevanz wie Abrüstung und nukleare Nicht-Verbreitung vorantreiben, sich humanitären Anliegen wie der Rolle von Kindersoldaten widmen sowie die Reform des Gremiums selbst vorantreiben – nicht zuletzt mit Blick auf den angestrebten ständigen Sitz.

Flucht vor dem Kerngeschäft

Zuallererst will und muss sich die Regierung aber an der Schaffung von Frieden und Sicherheit durch Krisenbewältigung beteiligen – das ist das tägliche Kerngeschäft des Rates. Es ist die Pflicht, an der sich auch der Ruf eines Staates in der Weltgemeinschaft entscheidet, während das Engagement auf selbstgewählten Politikfeldern bloße Kür bleibt. Militärische Zurückhaltung muss in dieser Hinsicht kein Makel sein. Ohne Zweifel ist der Sicherheitsrat als einzig legitimer Weltpolizist auf die Soldaten der Mitgliedsstaaten angewiesen. Doch sollte das Militär in einer auf internationalem Recht basierenden Welt immer nur als letztes Mittel zum Einsatz kommen. Genau deshalb klang es auch eher ambitioniert als duckmäuserisch, als Außenminister Westerwelle zu Beginn dieses Jahres erklärte, er wolle Deutschlands internationale Verantwortung mit unserer Kultur der Zurückhaltung in militärischen Dingen verbinden.

Was in jedem Fall ein Drahtseilakt geworden wäre, wurde ein Desaster – zumal aus Sicht unserer Verbündeten. Dabei war Deutschland mit seiner Enthaltung bei der Resolution 1973, mit welcher der Sicherheitsrat alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung autorisierte, keineswegs so isoliert, wie es hierzulande manchmal klang. Mit Russland und China verweigerten gleich zwei Vetomächte ihre Zustimmung, und auch die beiden aufstrebenden Demokratien Indien und Brasilien enthielten sich. Allerdings muss sich die Bundesregierung fragen lassen, ob die so genannten BRIC-Staaten die richtigen Gefährten sind, wenn sämtliche Bündnispartner aus Nato und EU für die Resolution stimmen und gleichzeitig die Arabische Liga die militärische Durchsetzung eines Flugverbots fordert. Außerdem ging mit einem Ja zur Resolution überhaupt keine Pflicht zur eigenen militärischen Beteiligung einher.

Insofern hat Deutschland gleich zu Beginn seiner Amtszeit in der Pflicht versagt – mit bislang noch nicht abzuschätzenden Folgen für seine breitere, selbst gewählte Agenda in den Vereinten Nationen. Denn auch wenn das militärische Eingreifen berechtigterweise umstritten war und der bislang ausbleibende Erfolg viele Kritiker in ihrer Ablehnung bestätigen dürfte, hat die Libyen-Resolution bereits jetzt Rechtsgeschichte geschrieben. Zum ersten Mal bezog sich der Sicherheitsrat in einer Ent-scheidung über die Sicherung des Weltfriedens (nach Kapitel 7 der UN-Charta) auf die Frage nach der Schutzverantwortung der Weltgemeinschaft (responsibility to protect). Dieses Prinzip wird virulent angesichts von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord, die von der zuständigen nationalen Regierung nicht unterbunden oder sogar selbst begangen werden. Die Staaten sind verpflichtet, für einen ausreichenden Schutz ihrer Bevölkerung zu sorgen. Kann oder will eine Regierung dies nicht leisten, so überwiegt die Verantwortung der Staatengemeinschaft gegenüber dem Prinzip der Nichteinmischung. Die Verantwortung der Staatengemeinschaft ist keineswegs auf militärisches Eingreifen beschränkt, sondern schließt die Pflicht zur Prävention sowie zum Wiederaufbau explizit mit ein.

Die unsichere Mittelmacht

Wenn also wie im Falle des libyschen Dilemmas die Sache selbst ein Unentschieden zulassen mag, lohnt der Blick auf den größeren Kontext. Dass Deutschland als überzeugter Befürworter einer globalen Rechtsordnung dieser handfesten Verankerung des Prinzips der Schutzverantwortung nicht zugestimmt hat, ist seiner Position innerhalb der Weltorganisation abträglich. Zugleich zeigt sich in der Enthaltung der (fromme) Wunsch, die Staaten dieser Welt mögen sich bitte von alleine an die gemeinsame Rechtsordnung halten – auf dass niemand nach dem deutschen Beitrag zur (notfalls auch militärischen) Durchsetzung bestimmter Prinzipien fragen möge.

Zu diesem größeren Kontext gehört auch, sich der eigenen Position in der Welt bewusst zu sein. Deutschland bleibt eine innerlich unsichere Mittelmacht, die ohne den Schutz der Nato den Kalten Krieg nicht überstanden und ohne den Schoß der EU die Wiedervereinigung nicht verwirklicht hätte. In dieser Situation ist es nicht blinde Bündnistreue, sich am Votum der Amerikaner und Franzosen, der Briten und Portugiesen zu orientieren. Den Vergleich zwischen der deutschen Einheit und der Wahl in den Sicherheitsrat hatte Guido Westerwelle mit seiner Rede vom Vertrauensvorschuss selbst bewusst gezogen. Gut 20 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich Deutschland nun erstmals in einer entscheidenden Frage gegen seine Verbündeten gestellt.

Mit dieser selbstgewählten Isolation innerhalb Europas hat die Bundesregierung auch der gemeinsamen europäischen Außenpolitik geschadet. Es ist billig, den ständigen Sitz der EU im Sicherheitsrat zum eigentlichen Ziel und einen etwaigen deutschen Sitz zur bloßen Wegmarke zu erklären. Entscheidend für das eine wie das andere ist die tatsächliche Übernahme größerer internationaler Verantwortung in Fragen von Krieg und Frieden. Das Votum der Bundesregierung hat dabei mehrfache Konsequenzen für die EU. Nicht nur demonstrieren die Europäer in einer wichtigen Angelegenheit, die ihre unmittelbare Nachbarschaft betrifft, beständige Uneinigkeit. Darüber hinaus kehrt das Land, das sich gerne als Integrationsmotor sieht und sich die enge Abstimmung mit den europäischen Partnern auf die Fahnen der Sicherheitsratsbewerbung geschrieben hatte, der gemeinsamen Verantwortung den Rücken. Am Ende war es – einmal mehr – nicht die EU, sondern die atlantische Allianz, die das aktive Krisenmanagement übernahm.

Parteinahme für den Lauf der Dinge

Deutschland hat nicht nur bei der praktischen Verankerung des maßgeblichen völkerrechtlichen Prinzips responsibility to protect abseits gestanden, sondern auch die europäische Einigkeit verhindert. Das Vorgehen hat auch die Skepsis in Partnerländern über unseren außenpolitischen Kurs vergrößert – und das in einer Situation, in der die Bundesrepublik auf ganz anderen Gebieten wegen vermeintlich egoistischer Tendenzen beziehungsweise nationaler Alleingänge kritisch beäugt wird. Die Stichworte lauten Euro-Rettung oder Atomausstieg.

Angesichts all dieser bereits kurzfristig spürbaren Konsequenzen bleibt nur ein schwacher Trost: Tatsächlich hat die Bundesregierung so gehandelt, wie es sich die Bevölkerung mehrheitlich wünschte. Sie hat sich aus einem weiteren militärischen „Abenteuer“ herausgehalten und ihren Partnern die schwierige Entscheidung über Leben und Tod – ob der Zivilbevölkerung vor Ort oder der eigenen Soldaten – überlassen. Direkt am Tag nach der Entscheidung des Sicherheitsrats stimmten einer Emnid-Umfrage zufolge 62 Prozent der Deutschen einem Militäreinsatz zu. Doch sahen darin, in bester „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“-Manier, nur 29 Prozent eine Aufgabe für die Bundeswehr.

Mit dem internationalen Krisenmanagement verhält es sich ähnlich wie mit der Politik im Allgemeinen, über die Max Frisch einmal sagte: „Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen wollte, bereits vollzogen: Er dient der herrschenden Partei.“ Wer sich also mit den Problemen dieser Welt nicht befassen möchte, wer sich davor scheut, die Dilemmata internationaler Politik durch beherztes Eingreifen in die für richtig erachtete Richtung mit zu entscheiden, der nimmt Partei für den Lauf der Dinge, den oft genug die Stärkeren bestimmen. Wer also Verantwortung nicht übernehmen will, sollte sich gar nicht erst um einen Sicherheitsratssitz bewerben. «

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