Deutschland im Herbst

Fünfzehn Jahre nach der Revolution in der DDR ist das ostdeutsche "Fass ohne Boden" übergelaufen. Verzweifelt und ratlos suchen die Menschen nach Schuldigen. Ohne eine neue Perspektive für den Osten gerät die Republik ins Wanken

April 2004. 1.250 Milliarden sind eine Menge Geld – zu viel, um eine konkrete Vorstellung davon zu haben. Für den Spiegel genau das geeignete Maß, um richtig Stimmung zu machen. So titelte das Nachrichtenmagazin im Frühjahr 2004 über die in Ostdeutschland „versenkten“ Milliarden und stieß damit zugleich eine neue Debatte zum Aufbau Ost an. Zuletzt hatte Wolfgang Thierse im Jahr 2001 eine Ost-West-Diskussion ausgelöst. Seitdem sind drei Jahre vergangen – und man erlebt ein ganz eigentümliches Déjà vu. Denn in den vergangenen Jahren hat sich – trotz zweitem Solidarpakt, trotz Elbehochwasser – kaum etwas bewegt beim Aufbau Ost. Es sind die immer gleichen Argumente: viel Geld, zu viel Geld floss in den Osten, zu viel moderne und ungenutzte Infrastruktur, zu wenige Kinder, zu viel Abwanderung, zu wenig Wirtschaftskraft. Heißt es. Mit jeder Diskussion um den Aufbau Ost steigt bei den Westdeutschen das Gefühl, der Osten sei ein „Fass ohne Boden“. Und bei den Ostdeutschen verstetigt sich die Meinung, der Westen interessiere sich nicht für sie.

Eine differenzierte Diskussion scheint auch im Jahr 15 nach der Wende kaum möglich. So rechnete der Spiegel das Kindergeld und andere soziale Leistungen gleich mit in die 1.250 Transfer-Milliarden ein. Richtig ist: Ein Großteil der Mittel sind Sozialtransfers, das kann aber auch gar nicht anders sein. Oder sollte man die vielen Arbeitslosen oder Rentner etwa verhungern lassen? Die Antworten der Dohnanyi-Kommission zur Fortführung des Aufbau Ost weisen in die richtige Richtung – doch trotzdem ist es kaum möglich, die Ideen bis zum Ende zu diskutieren. So verkündet der für Aufbau Ost verantwortliche Bundesminister drei Essentials, die doch nicht zusammenpassen wollen: Der Osten brauche nicht mehr Geld; dafür würden die vorhandenen Mittel in Zukunft auf Wachstumszentren konzentriert; doch die peripheren Regionen brauchten sich auch nicht zu ängstigen – ihnen werde natürlich nichts weggenommen. Alles klar? Was als Beruhigung wirken soll, beunruhigt eher. Es beunruhigt, weil es die Ratlosigkeit deutlich macht. Eine Ratlosigkeit darüber, wie es im Osten weitergehen soll. Eine Ratlosigkeit darüber, ob es überhaupt einen Ausweg aus der verzwickten Lage im Osten gibt.

Vom Osten lernen? Ja was denn bloß?

Mai 2004. Unter dem Titel Was kann der Westen vom Osten lernen? lädt das Forum Ost der SPD zu einer Diskussion in ein altes Theater nach Potsdam ein. Die Veranstalter werden vom Interesse förmlich überrollt. Mehr als 500 Leute kommen und wollen mitdiskutieren. Gedacht war eigentlich an eine Veranstaltung überwiegend mit jüngeren Leuten – doch die Mehrzahl der Besucher hat das 40. Lebensjahr überschritten. Es wird ein Abend mit engagierter Debatte. Eine Debatte, die zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Ost und West noch immer in den Köpfen sitzt. Diskutiert wird über die zwei Ostdeutschlands: Das eine Ostdeutschland, gemeinhin auch als DDR bekannt, und das Nachwende-Ostdeutschland der neuen Länder. Man merkt, viele Westdeutsche schreckt die Vorstellung, sie könnten vom Osten etwas lernen. Toni Krahl, eine Ikone des ostdeutschen Rock, schürt diese Ängste sogar noch mit einem neuen Lied: Da die Erde eine Kugel ist / Was man leicht beweisen kann / Kommt jeder, der straff nach Westen marschiert / Im Osten wieder an. So singen es City auf ihrer neuen CD.

Die Veranstaltung macht aber auch deutlich, dass die Diskussion um Ost und West die Jungen zunehmend kalt lässt. Sie haben sich arrangiert mit dem neuen Land. Sie finden sich zurecht im neuen Vaterland. Für sie ist es zunehmend unwichtig, wo einer herkommt. Wichtig ist, wo man hingeht – und das ist für die Generation der Zwanzigjährigen immer noch und mit stärkerer Selbstverständlichkeit der Westen. Die Wachstumsinseln um Potsdam, Leipzig, Jena oder Dresden reichen nun einmal nicht. Der Abend im Theater offenbart aber auch eine zunehmende Unzufriedenheit. Der alte Spruch „Es war nicht alles schlecht“ rückt für viele Ostdeutsche immer stärker ins Bewusstsein – und zwar in genau dem Maß, wie es die bundesdeutschen Institutionen nicht schaffen, die Lebenswirklichkeit der Ostdeutschen abzubilden. Dass die Polikliniken jetzt als „Gesundheitszentren“ wiederkommen, mag späte Genugtuung verschaffen. Dass das alte Schulsystem mit seiner 10-jährigen Gesamtschule nach PISA zurück in die Köpfe findet, wird nur noch mit Unverständnis bedacht. Und ein Besuch ihres Ministerpräsidenten in Finnland führte den Brandenburgern vor Augen, dass Schwangeren- und Mütterberatung eben kein Teufelszeug ist, obwohl man sie im Osten nach der Wende schnell abschaffte. Die Brandenburger erfuhren aus Finnland, dass dort eine innovative und hoch produktive Wirtschaft sehr gut mit intensiver Familienbetreuung kombiniert werden kann – etwas, an das man zuvor kaum noch glauben mochte. Die Ideen, die der Brandenburger Ministerpräsident aus Finnland mitbrachte, stießen in seinem Heimatland auf eine nicht für möglich geglaubte Resonanz. Das Verlangen der Ostdeutschen nach Richtung, nach Auswegen ist größer als je zuvor.

Fast scheint es, als hätten die Ostdeutschen das System der alten Bundesrepublik aufgegeben. Aufgegeben, weil es eben nicht vermocht hat, die Ossis zu integrieren – mit ihren Erfahrungen, mit ihrer Wirklichkeit, mit ihren Sorgen. Der alte westdeutsche Reflex, Probleme mit Geld zu lösen, funktioniert in Ostdeutschland nicht mehr. Nicht nur, dass der westdeutsch geprägten Bundesrepublik langsam aber sicher das Geld ausgeht. Nein, es sind ihr auch die Ideen ausgegangen. Möglicherweise hat sie sich nicht einmal wirklich Gedanken darüber gemacht, ob der Aufbau Ost tatsächlich ein Nachbau West sein sollte. Zu sicher war sich die westdeutsche Elite in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, dass dies der einzige Weg sei, um dem Osten zu helfen. Seit einigen Jahren spüren die Ostdeutschen aber, dass sie auf diesem Weg nicht vorankommen. Und auch vielen Westdeutschen scheint langsam zu dämmern, dass eine Zeitenwende bevorsteht – weil der Weg des alten Westens auch sie nicht mehr ans Ziel bringt.

Der Osten ist sozialdemokratisch – eigentlich

Juni 2004. Der Abend der Europawahlen und der Landtagswahlen in Thüringen bringt einige Überraschungen. Die Niederlage der SPD war erwartet worden, wenn auch vielleicht nicht in dieser Härte. Doch wer genauer hinschaut, der stellt fest: Gerade im Osten hat sich das politische Koordinatensystem beträchtlich verschoben. Die CDU in Thüringen verliert 8 Prozent und kann ihre Mehrheit nur äußerst knapp behaupten. In Sachsen verliert die Union sogar bis zu 15 Prozent. Die PDS hingegen ist auf die Überholspur gegangen. In Thüringen ist sie jetzt doppelt so groß wie die SPD. In Brandenburg überspringt sie sogar zum ersten Mal in einem Bundesland die 30-Prozent-Marke und wird – zur Überraschung auch der Postkommunisten selbst – stärkste Partei.

Der Osten tickt im Kern „sozialdemokratisch“ – das ist keine wirklich neue Erkenntnis. Vor einem Jahr hat eine Studie der Dresdner Staatskanzlei genau dies festgestellt: Sachsen denken sozialdemokratisch – doch sie wählen keine Sozialdemokraten. Viele Menschen haben die SPD immer als Synonym für den Sozialstaat gesehen. Doch wie sollen die Ostdeutschen den Sozialdemokraten noch vertrauen, wenn die doch vermeintlich die „Axt an den Sozialstaat legen“? Die Ossis wollen keinen Abbau des Kündigungsschutzes, sie wollen keine Kopfpauschalen. Die Ostdeutschen wissen sehr wohl, dass ihnen „in Punkto Flexibilität und Mobilität keiner was vormacht“, wie Matthias Platzeck sagt. Sie wissen das – und wollen nicht noch mehr von einem Rezept, das ihnen auch bisher nicht so richtig geholfen hat. Deshalb werden die Christdemokraten in den neuen Ländern derzeit mehr und mehr als eine kalte westzentrierte Sozialstaatsabbaupartei wahrgenommen – und verlieren so trotz Unzufriedenheit mit der Bundesregierung erheblich an Zulauf. Jedoch fällt es auch den Berliner Regierungs-Sozialdemokraten derzeit nicht gerade leicht, die Sorgen der Ostdeutschen aufzunehmen. Umso leichteres Spiel hat die PDS, die nur mit dem Finger auf die anderen zu zeigen braucht.

Ost-West-Showdown im Bundesrat

Juli 2004. Der Bundesrat ist ein vornehmes Haus. Hier gehen Regierungschefs ein und aus, man behandelt einander pfleglich. Doch an einem Freitagabend geht es hoch her im Hohen Haus. Zum ersten Mal seit der Wende wird ein Gesetz verabschiedet, dass sämtliche ostdeutschen Länder ablehnen: „Hartz IV“. Ein Vorbote dessen, was noch kommen wird? Die Ost-Ministerpräsidenten können ihren Wählern das Gesetz nicht erklären, ein Gesetz, dass ein bisschen zu sehr westdeutsch gedacht und gemacht ist. Ein Gesetz, das auf das Prinzip „Fördern und Fordern“ setzt – doch die Ostdeutschen können nicht sehen, wohin man fördern und fordern will, wenn die Wirtschaft im Osten nicht auf die Beine kommt. Nun rächt sich bitter, dass all die Debatten um den Aufbau Ost nach der Erregung um die angeblich verschleuderten Milliarden nie zu Ende geführt wurden. Es rächt sich, dass die neuen Länder in der Öffentlichkeit nur am Rande vorkommen. Zweimal macht die Bundesregierung Zugeständnisse, und trotzdem sieht es im Sommer 2004 nicht danach aus, als würden die Bürger in den neuen Ländern diesmal nachgeben.

August 2004. Die erste Aufregung um das Fördern-und-Fordern-Gesetz scheint vorüber. Selbst die Gewerkschaften haben sich offenbar damit abgefunden. Doch nun rufen einfache Arbeitslose, obskure Globalisierungsgegner und Sozialinitiativen zum Protest auf. In Ostdeutschland. Und – zur Überraschung aller – kommen die Menschen. Seit der Wende hat es in den neuen Ländern viele Demonstrationen gegeben. Doch es gab keine so großen von Graswurzelorganisationen organisierten mehr. Mittlerweile sind die Demonstrationen zu einem „Flächenbrand“ geworden. Überall sprießen sie aus dem Boden. „Hartz IV“ mag der konkrete Anlass gewesen sein. Doch eigentlich ist dieses Gesetz nur der Tropfen, der das – angebliche – „Fass ohne Boden“ zum Überlaufen bringt. Die Proteste in Ostdeutschland sind längst Ausdruck der Ohnmacht, der Ratlosigkeit und des Ärgers darüber, dass Ostdeutschland schon lange nicht mehr auf der Agenda steht. Die Demonstranten reden über Respekt und Anerkennung. Ihnen fehlt eine Regine Hildebrandt, die ihnen eine Stimme gegeben hat, die auch im Westen gehört wurde – und die sie verstanden haben.

Die Kinder gehen, die Heimat stirbt

Die Demonstrationen in Magdeburg, Leipzig, Senftenberg, Perleberg, Dessau und anderswo sind Manifestationen der Ohnmacht. Es laufen Menschen mit, die vom neuen Arbeitslosengeld nicht betroffen sind, aber Angst haben. Sie haben Angst davor, arbeitslos zu werden. Sie haben Angst davor, dass ihre Kinder und Enkel abwandern. Sie haben Angst davor, dass sie klammheimlich abgeschrieben wurden, dass ihre Heimat stirbt – und es im Westen der Republik keiner mitkriegt oder mitkriegen will. Auf den ostdeutschen Straßen demonstrieren Arbeitslose und Unternehmer, Sozialhilfeempfänger und Lehrer. Die ostdeutsche Mittelschicht ist (wieder) auf den Marktplätzen. Bei vielen stellt sich ein Gefühl ein wie 1989 – als sie schon einmal „Wir sind das Volk“ riefen. Die abseitige Diskussion darüber, ob die Protestierenden ihre Umzüge der Zukunftsangst legitimerweise „Montagsdemo“ nennen dürfen oder nicht, macht die Menschen eher noch entschlossener.

September 2004. Der Scheitelpunkt der Demonstrationen scheint überschritten. Doch ein harter Kern bleibt. Es fehlen diejenigen, die erschrocken sind über Eierwürfe, über herumgrölende Massen, über rechtsextremistische Trittbrettfahrer. Es haben sich diejenigen abgewendet, die am Anfang voller Sorgen waren – und ihre Ratlosigkeit auf der Straße bekämpfen wollten. Doch die Eier auf den Kanzler in Wittenberge waren zu viel. Und viele Senftenberger wandten sich ab, als ihr Ministerpräsident auf dem Marktplatz von einem Mob niedergeschrien wurde und keine Chance hatte, wenigstens gehört zu werden.

„In fünf Jahren ist die Demokratie weg“

Und was bleibt? Die Proteste haben den schleichenden Verlust des Vertrauens in die Institutionen der Bundesrepublik offenkundig gemacht. Viele Teilnehmer der Demonstrationen, auf jeden Fall der nun verbleibende harte Kern, verstehen die Globalisierung nicht, aber sie fühlen sie. Sie spüren, dass sie in einem Landstrich leben, der abgehängt ist und seine Zukunft hinter sich hat. „In fünf Jahren ist die Demokratie verschwunden“, sagte einer der Demonstranten. Die verzweifelte wirtschaftliche Lage in vielen Regionen der neuen Länder hat dazu geführt, dass niemand mehr an die Leistungsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft glaubt. Dazu, dass der letzte Respekt vor der Demokratie verloren gegangen ist. In Senftenberg nimmt der Ministerpräsident eine Einladung der Demonstranten zum Dialog an. Im Gemeindesaal debattiert er mit den Organisatoren der Proteste, denen alsbald auch die Argumente ausgehen. Umso mehr wächst deren Frust – der sich schon wenige Minuten später auf dem Marktplatz entlädt, wo die Diskutanten aus dem Gemeindesaal den Ministerpräsidenten brachial niederbrüllen.

Verzweiflung und Ratlosigkeit spiegeln sich in den Gesichtern vieler Demonstranten. Sie wollen das ihnen fremd gebliebene neue System nicht verstehen, geschweige denn wollen sie ihm Vertrauen schenken. Ihr Dilemma: Sie haben keine Alternative – und so lehnen sie einfach nur rundweg alles ab, was irgendwie „von oben“ oder „aus dem Westen“ kommt. Da werden Politiker beschimpft, Manager verdammt und Ausländer verunglimpft. Dass die Grenzen offen sind, finden viele auch nicht mehr so toll. Da fordern Menschen in Michael-Schumacher-Shirts höhere Steuern für Reiche. Und ein lokaler PDS-Politiker meint, alles würde gut, wenn das Land Brandenburg nur endlich eine Vermögenssteuer erheben würde.

Sie wissen (noch) nicht, was sie tun werden

Ostdeutschland, Sommer 2004. Sie wissen (noch) nicht, was sie tun werden. Die Demonstrationen im Osten haben kein konkretes, kein fassbares Ziel. Die Menschen sind vor allem wütend. Sie wollen einen gerechteren Staat, da sind sich alle einig. Sie wollen keinen Regierungschef von der PDS, auch das eint sie mehrheitlich. Sie wollen halbwegs sichere Arbeitsplätze. Vor allem aber wollen die Menschen auf den ostdeutschen Straßen endlich den Respekt, den sie für ihre Lebensgeschichte und Lebensleistung verdienen. Man mag die merkwürdige Allianz aus zornigen Arbeitslosen und überspannten Attac-Funktionären mit unverständlicher Rhetorik irritierend finden. Es mag manchem angesichts der „neuen Volksfront“ aus dümmlich-populistischer PDS und panisch-verängstigter CDU „übel“ werden. Aber es hilft nichts. Die Ostdeutschen fordern Antworten – Antworten, die sie bisher nicht erhalten haben.

Deshalb wird „Ostdeutschland“ auch nicht so schnell von der Bildfläche verschwinden. Jenseits von Wahlarithmetik geht es darum, wie wieder Hoffnung entsteht bei den Menschen in Neustrelitz, Neuruppin und Neuhaus. Der Staat, in dem sie leben, macht sie nur noch wütend. Auf den Straßen klagen sie über die Unternehmen, die Reichen, die Ausländer, die Politiker, die Parteien. Sie klagen über die Gewerkschaften, über die CDU, die PDS und die SPD gleichermaßen. Die Frage ist, welche Antwort die Parteien und die Regierung, die Elite dieses Landes noch geben kann. Oder ob der Funkkontakt zwischen Oben und Unten, Ost und West gänzlich abgebrochen ist.

Natürlich müssen auch die Ostdeutschen noch ein paar Einsichten verinnerlichen. Ein Gemeinwesen kann nicht unabhängig von seiner ökonomischen Basis leben. Und dass ohne Mut, Eigeninitiative und fortgesetzte Neugier keine Zukunft zu gewinnen sein wird. Ehrlicherweise muss man sagen, dass in den letzten Jahren zwar viel Geld in den Osten geflossen ist, dass aber versäumt wurde, zugleich auch Werte und Tugenden zu vermitteln. Eigeninitiative und demokratische Streitkultur gehören dazu. Viele Protestierer gehen heute (noch immer) völlig selbstverständlich davon aus, dass sie ein „Anrecht“ auf großzügige staatliche Unterstützung hätten. Kohls fahrlässig-paternalistische Worte von den „blühenden Landschaften“, für die er schon sorgen werde, rächen sich heute bitter.

Auf den Straßen in Ostdeutschland entlädt sich ein Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie, der sich lange aufgestaut hat. Ein Konflikt, der sich bisher auf Proteste gegen Schulschließungen oder Plebiszite gegen Sparkassenfusionen beschränkt hatte. In vielen Regionen Ostdeutschlands schwärt seit fast zehn Jahren eine Wirtschaftskrise. Heute ist für jedermann sichtbar, wie stark sich diese Vereinigungskrise durch die Gesellschaft gefressen hat, welche Ratlosigkeit sie hinterlassen hat – und wie viele Hoffnungen gestorben sind.

Inzwischen gibt es zwei Ostdeutschlands

Es zeigt sich aber auch, dass es mittlerweile zwei Ostdeutschlands gibt. Da sind auf der einen Seite jene, die ihr Selbstbewusstsein und ihre Energie aus den vergangenen 15 Jahren ziehen. Die unter großen Anstrengungen in der neuen Zeit angekommen sind. Da ist die Frau, die eine kleine Pension aufgebaut hat – vielleicht ist noch nicht alles perfekt, aber sie hat viel erreicht. Da sind flexible und mobile Arbeiter, die den Gürtel enger geschnallt haben, damit ihr Betrieb überleben kann. Auf der anderen Seite sind diejenigen, denen kein Erfolg beschieden war, die von ABM in Arbeitslosigkeit und wieder zurück gependelt sind. Denen die Kraft fehlte, noch einmal neu anzufangen und deren Erfahrensschatz auch heute noch im Wesentlichen aus 40 Jahren DDR besteht. Das sind jene, die keinen Glauben mehr daran haben, dass sie ihr Leben in Ruhe und relativem Wohlstand leben können. Die Leere in ihren Gesichtern spricht Bände – selbst in die Züge der Kinder hat sie sich bereits eingebrannt.

Ängste haben beide Gruppen, auch der Zorn über das „vergessene Land“ bleibt. Für ein paar Wochen im August des Jahres 2004 schien es so, als hätten beide Gruppen zusammengefunden. Am Ende war dies nicht so, weil die 15-Jahre-Ostdeutschen die Hoffnung doch noch nicht ganz verloren haben. Doch diese Allianz kann jederzeit wieder zusammenfinden, sofern nicht mehr Ehrlichkeit, mehr Offenheit und mehr Anstrengungen in die wirkliche Erneuerung Ostdeutschlands fließen. Denn nicht nur der wirtschaftliche Aufbau der neuen Länder steht noch immer an. Auch die moralische Erneuerung hat noch nicht einmal im Ansatz begonnen.

Mehr Beton hilft schon längst nicht mehr

Deutschland, Herbst 2004. Eine ehrliche Bilanz würde zeigen, dass in Ostdeutschland viel geschafft und viel geschaffen wurde. Die meisten Städte und Dörfer erstrahlen in neuem Glanz, die Infrastruktur sucht in Europa ihresgleichen. Viele kleine Unternehmen trotzen den Widrigkeiten, kleine Netze der Kooperation und einzelne strahlende Leuchttürme sind entstanden. Dem Reden über „Köpfe statt Beton“ müssten endlich Taten folgen. Sicherlich fehlen da und dort noch ein paar Autobahnen und Schienenverbindungen. Doch für die Zukunft der neuen Länder wäre es wesentlich wichtiger, wenn mehr Geld und Ideen in Schulen, Forschung, bessere Hochschulen und Technologie fließen würden. Dazu gehört eine Menge Ehrlichkeit. Schon berichtet der Bürgermeister von Seelow vom ersten Frust der Leute über die schöne neue Ortsumgehung, die doch alle dringend haben wollten. Jetzt nämlich fahren die Leute um den Marktplatz herum, die früher schon einmal anhielten und sich im Ort umsahen. Eine neue Forschungsgruppe oder eine sanierte Schule brächte die Ostdeutschen weiter als ein zusätzlicher Kilometer Autobahn. Eine Million verbürgter Exportgeschäfte würden den Menschen mehr helfen als fünfzig Kilometer neue Radwege.

Wirtschaftlich wird es im Osten keinen big bang geben. Das weiß jeder. Doch momentan droht Trostlosigkeit. Einen big bang der anderen Art kann es aber geben, wenn die hilflosen Proteste der Menschen in den neuen Ländern nicht als Notruf begriffen werden. Es droht in der Tat eine Staatskrise, wenn der Osten nicht mehr will und der Westen nicht mehr kann. 15 Jahre nach der Wende ist die Entfremdung zwischen Ost und West größer als je zuvor. 15 Jahre nach der Wende spürt man, wie es sich anfühlt, in einem zerrütteten Land zu leben, dessen Eliten davon gelaufen sind – Eliten, die heute beruhigend und maßgebend auf die Menschen wirken würden. Es fehlt die Zivilgesellschaft, die dafür sorgen könnte, dass sich Ängste weniger hart entladen.

Worauf kommt es also an? Zum einen auf eine Kommunikationsoffensive. Ostdeutsche wollen ihre Interessen stärker als bisher vertreten sehen. Sie wollen, dass ihre Erfahrungen im Umbruch stärker anerkannt werden, dass ihre Lebensleistungen und Biografien gewürdigt werden. Sie wollen stattfinden auf der Tagesordnung der Bundesrepublik – und zwar immer und überall. Sie fordern Umdenken und Entscheidungen, die die besondere Lage im Osten berücksichtigen.

Warum Ostdeutschland anders bleibt

Alles Gerede davon, dass wir nun ein gemeinsames Land seien und folglich auch niemand mehr Differenzen zwischen Ost und West „herbeireden“ dürfe, hat nicht gefruchtet. Weil die reale Basis dafür nicht existierte. Der Westen muss endlich anerkennen, dass sich ein Land mental, sozial, kulturell verändert, wenn Hunderttausende Menschen jahrelang zwischen ABM, prekären Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitslosigkeit pendeln. Wenn ganze Regionen über Jahre eine Arbeitslosigkeit von über 25 Prozent aufweisen – ein Maß, das jedes soziale Leben und alle Hoffnung sterben lässt. Wenn Kinder über Jahre hinweg die Arbeitslosigkeit, den Frust und die Verzweiflung ihrer Eltern erleben. Wenn Großeltern und Eltern erst ihre Kinder fortziehen sehen und dann ihre Enkel – ohne Hoffnung, dass sie eines Tages zurückkommen könnten. Die ostdeutsche Gesellschaft war so sehr auf Arbeit – von Männern und Frauen – konditioniert, dass die Schmerzen über den Verlust von Arbeit, über die gestörten Sozialbeziehungen und über den erlebten Statusverlust ganz einfach nicht vergehen können. Ostdeutschland ist anders – und wird es auch noch eine Weile bleiben.

Mit den Demonstrationen dieses Sommers haben wir nicht nur die Rückkehr des Politischen in Ostdeutschland erlebt. Mit Macht drängt die soziale und biografische Frage eines ganzen Landesteils zurück auf die Agenda. Und es steht zu befürchten, dass auch die politische Frage bald gestellt wird. Werden unsere Institutionen dem Frust und den Ängsten standhalten?

Als Gegner des Ostens scheitert der Westen

Für den Osten unseres Landes war das 20. Jahrhundert ein verlorenes Jahrhundert. Jetzt geht es darum, dass wenigstens das 21. Jahrhundert für die Ostdeutschen doch noch ein Kapitel der Hoffnung und der Chancen werden kann. Das wird nur dann so sein, wenn der Osten mit seinen besonderen, auch historisch bedingten Eigenarten wirklich ernst genommen wird. Auf ihre härteste Probe wird die Solidarität mit dem Osten erst in den kommenden Jahren gestellt werden, wenn sich die Krise des überkommenen deutschen Wohlfahrtsstaates weiter verschärfen sollte – und Wirtschaft, Gesellschaft und Politik den Strukturwandel nicht in der nötigen Geschwindigkeit schaffen. Dann wird sich zeigen, wie weit der Westen verstanden hat, was im Osten nötig ist. Vor allem aber muss der Westen unserer Republik begreifen, dass er seine eigenen Probleme nur dann wird lösen können, wenn es auch in den neuen Ländern zu einem nachhaltigen Aufschwung kommt. Deshalb ist heute ein Strategiewechsel unausweichlich. Der Osten braucht eine neue Entwicklungsperspektive – sonst wird das Haus der Bundesrepublik bedrohlich ins Wanken geraten.

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